Kitabı oku: «Die Befreiung der Schweiz»
CHRISTIAN MÜLLER | DANIEL STRAUB
DIE
BEFREIUNG
DER
SCHWEIZ
ÜBER DAS BEDINGUNGSLOSE
GRUNDEINKOMMEN
Mit Interviews mit Endo Anaconda, Ina Praetorius, Peter A. Fischer, Gudrun Sander, Rosemarie Zapfl, Klaus W. Wellershoff und Peter von Matt
INHALT
1. DIE IDEE
GESPRÄCH N° 1 – ENDO ANACONDA
2. DAS RECHT AUF ARBEIT
GESPRÄCH N° 2 – INA PRAETORIUS
3. DAS VORBILD AHV
GESPRÄCH N° 3 – PETER A. FISCHER
4. DIE FINANZIERUNG
GESPRÄCH N° 4 – GUDRUN SANDER
5. DIE VERLOCKUNG DER HÄNGEMATTE
GESPRÄCH N° 5 – ROSMARIE ZAPFL
6. DIE FOLGEN FÜR DIE WIRTSCHAFT
GESPRÄCH N° 6 – KLAUS W. WELLERSHOFF
7. DIE FACETTEN DER DEBATTE
GESPRÄCH N° 7 – PETER VON MATT
8. ES IST IMMER ZU FRÜH
Unseren Vorfahren,
auf deren Schultern stehend wir dieses
Buch geschrieben haben.
1. KAPITEL
DIE IDEE
Im Jahr 2050 trägt jeder Mensch in der Schweiz eine grosse Verantwortung: Da seine Existenz bedingungslos gesichert ist, entscheidet jeder Mensch, wie er seine Fähigkeiten nutzen und welchen Beitrag er oder sie in die Gemeinschaft einbringen will. Dies ist möglich, da die Bürgerinnen und Bürger sich gegenseitig bedingungslos ein Minimum an Geld zugestehen, mit dem man in Würde leben kann. Sie tun das, weil jeder einzelne am besten weiss, wo sein Platz ist und welche Dinge ihm liegen.
DIE SCHWEIZ IM JAHRE 2050
Freiheit ist ein Teil der Schweizer Tradition. Durch das bedingungslose Grundeinkommen hat im Jahre 2050 in der Schweiz jeder Mensch die Möglichkeit, sein Leben selbstbestimmt zu gestalten.
Das Schweizer Freiheitsgefühl findet man bereits im Wilhelm-Tell-Mythos. Der Freiheitskämpfer weigerte sich vor einigen hundert Jahren, den Hut des habsburgischen Landvogts Gessler zu grüssen. Es war ein Akt der Selbstbestimmung und ein Protest gegen Erniedrigung und Unterdrückung. Seinem Vorbild folgend, hat sich die Schweizer Bevölkerung in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts entschieden, einen unzeitgemässen Arbeitszwang zu überwinden.
Im Jahr 2050 müssen sich die Menschen in diesem Land nicht mehr unzumutbar anpassen und verbiegen für den Arbeitsmarkt. Die Leute sind nicht mehr gezwungen, aus Existenzangst «den Hut zu grüssen». Das Schweizer Bürgertum hat sich gegen die herrschaftliche Willkür gewehrt und mit der Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens ein Stück Freiheit erobert: Damit hat ein urschweizerischer Instinkt seine aktuelle Form gefunden.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts geschah dieser gesellschaftliche Aufbruch in der Überzeugung, dass Lebensqualität entsteht, wenn Menschen ihrem Herzen folgen können. Existenzängste standen dieser Möglichkeit früher oft im Weg. Dies war absurd und inakzeptabel in einer Zeit, in der die Schweizer Volkswirtschaft über so viele Güter und Dienstleistungen verfügte. So ist es die grosse Leistung der Bevölkerung in der Schweiz, das unzeitgemässe Mangelgefühl damals überwunden zu haben. Die Befreiung bestand darin, die Errungenschaften einer hoch produktiven und automatisierten Wirtschaft zu nutzen.
EIN KULTURIMPULS ALS AUSLÖSER
Diese Entwicklung von damals hat die Schweiz zu einem der modernsten Länder der Welt gemacht. Als das Grundeinkommen eingeführt wurde, gab dies einen Impuls, der in viele Bereiche der Gesellschaft gewirkt hatte: Es wurden viele Start-up-Firmen gegründet, die Motivation der Studierenden ist gestiegen, da mehr junge Leute Fächer wählten, die sie wirklich interessierten, alte Menschen erhalten seither mehr Zuwendung, die Burnout-Rate ist gesunken, da immer mehr Menschen im richtigen Moment eine Auszeit nehmen, einige Leute versuchten sich als Künstler, um dabei herauszufinden, dass ihre Berufung doch eine andere war, mehr Menschen engagierten sich in der kommunalen Politik, die Wirtschaft ist seither flexibler, weil das Grundeinkommen die Basis für neue Arbeitsformen legte, die Arbeitszufriedenheit stieg stetig an, weil immer mehr Menschen eine Arbeit wählten, die ihnen Sinn gibt, zahlreiche Eltern begannen, sich mehr Zeit für ihre Kinder zu nehmen. Zudem: Im Jahr 2050 wollen die meisten Menschen nicht vom Existenzminimum leben und gehen deshalb einer Erwerbsarbeit nach.
Trotz der Einführung des Grundeinkommens sind in der Schweiz von 2050 aber nicht alle Probleme gelöst. Es wurde lediglich eine Form gefunden, die Gesellschaft klug und zeitgemäss zu organisieren. Das Grundeinkommen hat die Schweiz nicht in ein Schlaraffenland verwandelt, wo die Menschen untätig unter der Palme liegen. Im Gegenteil, es wird mehr gearbeitet: Aber mit mehr Lust und mehr auf die Neigungen der einzelnen Menschen zugeschnitten. Die Einführung des Grundeinkommens bedeutete die Überwindung des Dogmas «Nur dort, wo Arbeitspflicht herrscht, wird produktiv gearbeitet». Die Erkenntnis, dass der Mensch tätig sein will, hat sich im Zuge dieser Veränderungen bis 2050 durchgesetzt. Dadurch hat sich die Bedeutung des Arbeitsbegriffs gewandelt. Zum Beispiel werden heute viel mehr Tätigkeiten als wirkliche Arbeit angesehen als früher.
DIE ANGST VOR DER FREIHEIT
Doch die Befreiung vom Arbeitszwang hat sich als sehr anspruchsvoll herausgestellt. Herauszufinden, was man mit dem Freiraum anstellen soll, ist für die meisten immer wieder schwierig. Wenn viel Unmögliches plötzlich in den Bereich des Machbaren rückt, hat man die Qual der Wahl. Zwar schafft das Grundeinkommen den Freiraum, um sich für eine Tätigkeit mit Sinn zu entscheiden. Aber Sinn kann niemandem von aussen gegeben werden, den muss jede und jeder selber finden. Und ein paar Tausend Franken allein machen noch keinen Lebenssinn. Die Grundsicherung ermöglicht lediglich eine angstfreie Suche danach.
Gerade die Angst vor dieser Freiheit stellte Anfang des 21. Jahrhunderts eine der grossen Hürden auf dem Weg zur Einführung des Grundeinkommens dar. Zuerst war die Idee einer bedingungslosen Existenzsicherung für einige wenige eine faszinierende Vision. Schnell tauchten Fragen auf, und bald wurden zahlreiche Einwände dagegen angebracht. Hinter den meisten Gegenstimmen stand entweder ein Festklammern am Gewohnten oder ein pessimistisches Menschenbild. Doch immer mehr Leute begannen über die Vision nachzudenken. Bereits die gedankliche Beschäftigung mit dem Thema führte zur Verbreitung eines neuen Lebensgefühls: Ein Gefühl, das bereits dazu führte, dass neue Möglichkeiten aufgingen. Dies gab den Menschen mehr Raum, so zu sein, wie es ihrem Innersten entspricht. So ist es zu erklären, dass die Idee Kraft bekam und schliesslich verwirklicht wurde.
2500 FRANKEN FÜR ALLE
Es war eine einfache Idee, welche in der Schweiz diese grosse Wirkung ausgelöst hat: Jeder Mensch, der fest in der Schweiz lebt, erhält bedingungslos 2500 Franken pro Monat. Dieser Betrag ist Teil des Gesamteinkommens einer Person, wächst also in das bestehende Einkommen hinein. Das Grundeinkommen wird bei den bestehenden Gehältern nicht oben drauf gezahlt, sondern ersetzt die bestehenden Gehälter in der Höhe des Grundeinkommens. Erhielt jemand vorher monatlich 6000 Franken Erwerbseinkommen, setzt sich das Einkommen neu aus 2500 Franken Grundeinkommen und 3500 Franken Erwerbseinkommen zusammen. Für viele Menschen hat sich mit der Einführung des Grundeinkommens auf dem Bankkonto nicht viel geändert. Neu war lediglich die Gewissheit, monatlich 2500 Franken bedingungslos zu erhalten, unabhängig davon, ob man eine Arbeitsstelle hat, ob man allein lebt oder in einer Familie, ob man arm oder reich ist, ob man gesund oder krank ist.
Der Betrag von 2500 Franken wurde direktdemokratisch ermittelt. Das Grundeinkommen muss hoch genug sein, damit es reicht, in Bescheidenheit und Würde davon zu leben. Es soll jedem Menschen erlauben, in seiner unmittelbaren Umgebung mitzumachen. Das heisst, Zugang zur Gesellschaft zu haben und am kulturellen Leben teilzunehmen. Das Grundeinkommen soll hoch genug sein, damit die Menschen Nein sagen können zu Erwerbsarbeit, die sie nicht machen wollen, und Ja sagen können zu Engagements, die niemand bezahlt. Dadurch werden die einzelnen Bürgerinnen und Bürger erst richtig mündig.
DIE STÄRKUNG DER DEMOKRATIE
Ein Ausdruck der Tradition selbstbestimmter Menschen ist die direkte Demokratie. Sie lebt davon, dass Menschen sich einbringen. Das Grundeinkommen schafft mehr Freiräume für demokratisches Engagement. Mit einem bedingungslosen Grundeinkommen wird die Partizipation der Bürger im Gemeinwesen gefördert. Und damit wird wiederum die Demokratie gestärkt.
Durch die Befreiung der Menschen aus dem Hamsterrad entstehen Freiräume, die auch die Weiterentwicklung eines gesellschaftspolitischen Bewusstseins unterstützen. Dadurch fördert das Grundeinkommen die Einsicht, dass der Staat lediglich eine Organisationsform unserer Gemeinschaft ist, von der wir Teil sind, und nicht eine böse, fremde Macht. Dieses Bewusstsein ist der Anfang einer gelebten Demokratie.
Das Grundeinkommen knüpft an eine republikanische Bürgertradition an, die in der Schweiz tief verankert ist. Dem Staatswissenschaftler Eric Patry verdanken wir den roten Faden von der alten republikanischen Tradition der Schweiz hin zum Grundeinkommen. Er schlägt den Bogen zurück in eine Zeit, als die Allmenden von Bürgergemeinden gemeinsam genutzt wurden. Vor diesem Hintergrund hat sich das Grundeinkommen in der Schweiz von der Utopie zu einer republikanischen Perspektive entwickelt. Die Grundeinkommensidee hat eine Tradition aufgenommen und sie den Gegebenheiten einer modernen, arbeitsteiligen Gesellschaft angepasst.
Die Idee selber ist sehr alt. Bereits der englische Humanist Thomas Morus, der amerikanische Gründervater Thomas Paine oder auch der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker Erich Fromm haben sich mit dem Grundeinkommen befasst.
Erst in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts war die Zeit der Umsetzung gekommen. Die Schweiz ging mutig voran und setzte damit ein Signal für die ganze Welt: Ein lebensfroher Meilenstein in der Geschichte unserer Zivilisation.
GESPRÄCH ZUM GRUNDEINKOMMEN N° 1
ENDO ANACONDA
Endo Anaconda, Sie haben drei Kinder. Was wird aus ihnen werden?
Mein Sohn antwortet auf diese Frage, dass er Fussballer werden möchte. In Tat und Wahrheit ist dieser Schulbub aber schon Fussballer. Für mich kommt Ihre Frage aus einem verkehrten Denken. Dieser Junge spielt die ganze Zeit Fussball, also ist er heute schon Fussballer. Man ist doch nicht erst Fussballer, wenn man damit viel Geld verdient.
Früher oder später muss man aber irgendwie Geld verdienen.
Ich habe nie Musik gemacht mit dem Hintergedanken, Geld zu verdienen. In meiner Jugend war die Frage nach dem Geld nicht so dringlich. Da habe ich drei Monate auf dem Bau gearbeitet und den Rest des Jahres von diesem Verdienst gelebt.
Diese Freiheit damals machte eben schon Sinn, ich habe viel profitiert. In dieser Zeit verbrachten wir ganze Nächte mit Actionpaintings in unserer Wohngemeinschaft. Wir machten damals Kunst, haben dabei aber nie an Kunst gedacht. Heute ist der finanzielle Druck in der Gesellschaft viel grösser als früher.
Und Sie müssen mit Ihrer Musik Geld für den Lebensunterhalt einspielen.
Ja, jetzt ist es anders, und ich habe auch Verantwortung für andere. Generell herrscht heute in der Schweiz ein hoher Druck, dass man im Prinzip gar nicht mehr kreativ sein kann.
Als ich begonnen habe, Texte zu schreiben, gab es wenige Leute in meinem Umfeld, die glaubten, ich mache etwas Vernünftiges. Damals machte ich einfach. Jetzt sind zwanzig Jahre vergangen, wir haben dreizehn CDs herausgebracht. Zwar weiss ich immer noch nicht, ob diese gut sind. Doch ich konnte genau das machen, was ich wollte. Das funktionierte aber nur dank Leuten, die an mich geglaubt hatten, die zwar dachten, dass ich spinne, aber dass es schon gut komme mit dem, was ich tue.
Vielleicht haben Sie damals in Ihrer Jugend das Lebensgefühl des Grundeinkommens schon gelebt. Welche Änderungen prognostizieren Sie, wenn die ganze Schweiz dieses heute einführen würde?
Die Faulen dürften endlich faul sein. In unserer Gesellschaft ist die Faulheit verpönt. Ich aber glaube, dass Faulheit vielmehr eine Vorbedingung ist, um kreativ zu sein. Heute werden die Leute von ihrer Arbeit fast zu Tode gehetzt. Man hat keine Zeit zum Überlegen und um sich selber zu finden. Man verliert die Balance. Wer die Faulheit im Sinne von Musse nicht zulässt, kann nicht kreativ sein und bleibt wie der Hamster im Rad. Zeitliche Räume schaffen auch geistige Räume. Und die sind wichtig.
Faulheit als Voraussetzung, um aktiv zu werden?
Ja. Doch Faulheit ist eigentlich der falsche Ausdruck. Denn es gibt wenige Leute, die wirklich faul sind. Wenn einer gerne zu Hause kocht oder den Kindern Geschichten erzählt, dabei aber kein Geld verdient, gilt er als faul. Oder jemand, der ein Kunstwerk erschafft, gilt als faul, solange sich die Arbeit nicht in Geld messen lässt. Man wird erst anerkannt, wenn man Geld umsetzt.
Die Leute stellen dann immer die Frage: «Können Sie denn davon leben?» Sie fragen nie, ob man mit seiner Tätigkeit oder für seinen Beruf lebt. Sondern es geht immer darum, ob jemand durch seine Arbeit direkt ein Einkommen generiert. Das ist unglaublich in der Schweiz, als erstes kommt immer die Frage nach dem Lohnzettel.
Doch ich glaube nicht, dass die Menschen Freude haben, sinnlos vor sich hinzudümpeln. Ich glaube, die meisten Menschen möchten irgendetwas Sinnvolles für die Gesellschaft machen.
Das ist eine sehr romantische Sicht.
Zweifellos gibt es auch Schwachköpfe. Doch diese Menschen werden bis zu einem gewissen Grad zu Schwachköpfen gemacht. Kinder sind noch nicht so. Wenn Kinder auf die Welt kommen, sind sie neugierig und entwicklungsfähig. Zu einem Schwachkopf wird das Kind erst durch Einfluss von aussen. Alle Kinder haben ungeheuer Potenzial. Doch sobald sie in die Schule kommen, wird ihnen genau gesagt, wie man richtig und wie man falsch zeichnet.
Was würde diesem Land gut tun?
Das Problem unserer Gesellschaft ist, dass die Leute nicht kapieren wollen, dass sie sterben müssen. Durch die Anhäufung von Geld möchten die Menschen ihre physische Existenz in einen Hedge Fund transformieren. Vielleicht wollen sie dadurch ewig leben.
Im Hinduismus geben die Gläubigen mit fünfzig Jahren ihr Geschäft ab, um sich darauf zu konzentrieren, dem Shiva zu huldigen und das Leben zu geniessen. Sie haben dann nichts mehr zu tun mit der materiellen Welt. Diese Kultur fehlt bei uns. Hier tun alle so, als würden sie ewig leben und als wäre Geld ein wirklicher Wert. Was es ja nicht ist.
Geld ist aber auch ein praktisches Mittel, um das Zusammenleben zu organisieren.
Das Geld soll im Wirtschaftskreislauf bleiben und nicht für irgendwelche Spekulationen verzockt werden. Wenn alle jeden Monat bedingungslos ein paar Tausend Franken bekommen, könnte das ein Schritt sein hin zu einer Gesellschaft, die das Geld nicht braucht. Das Grundeinkommen macht das Geld etwas weniger wichtig und die Leute freier.
Endo Anaconda ist Singer-Songwriter, Kolumnist und Schriftsteller. Bekannt wurde er als Sänger der Berner Mundartband Stiller Has.
2. KAPITEL
DAS RECHT AUF ARBEIT
Mit der Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens wird die Arbeit nicht abgeschafft. Im Gegenteil. Was sich ändert, ist das Verhältnis von Arbeit und Einkommen. Dieses scheinbar unzertrennliche Paar wird durch das Grundeinkommen ein Stück weit entkoppelt. Die Debatten über diese Trennung führt zur Frage, was Arbeit eigentlich ist.
MODERN TIMES
Im Mittelhochdeutschen hatte «arebeit» die Bedeutung Mühe, Beschwernis und Leiden. Die Herkunft des Wortes «Arbeit» macht durchaus Sinn, war Arbeiten zu Zeiten unserer Ahnen für viele Teil eines Überlebenskampfs. Die Vorfahren lebten in existenziellem Mangel, dem sie meist nur mit harter Arbeit begegnen konnten.
Mit der Erfindung zahlreicher Maschinen und der fortschreitenden Industrialisierung wurde pro menschliche Arbeitsstunde immer mehr produziert. Die Erfindung der Dampfmaschine ist das klassische Beispiel und ein Meilenstein in dieser Entwicklung. Inzwischen nehmen uns Roboter viele Arbeiten ab. Heute gelingt es uns, eine Fülle von Gütern und Dienstleistungen mit immer weniger menschlicher Arbeit herzustellen. Zudem wurden viele Tätigkeiten bequemer und angenehmer.
So wurden in der industriellen Fertigung viele der monotonen Handgriffe, wie sie Charlie Chaplin im Film «Modern Times» einst ausführte, längst von Industrierobotern übernommen. Zahlreiche Güter werden in praktisch menschenleeren Fabriken hergestellt. Die Rolle des Menschen im Produktionsprozess verändert sich. Dazu gehört auch, dass Computer einen Grossteil der Arbeit unterstützen. Vieles, was früher manuell geleistet wurde, geschieht heute automatisch. Ein klassisches Beispiel dafür sind Telefonzentralen: Wir wählen selbstverständlich eine Telefonnummer, um innert Sekunden eine Verbindung auf die andere Seite der Welt herzustellen. Dabei können wir uns kaum mehr vorstellen, dass es für diesen Vorgang einst einen eigenen Beruf gab. Die Telefonistin stellte in der Zentrale «von Hand» eine Verbindung her: Der Anrufer teilte ihr den Namen des gewünschten Gesprächspartners mit. Das «Fräulein vom Amt» versuchte dann dem gewünschten Abonnenten mitzuteilen, dass ein Gespräch für ihn angemeldet sei und stellte dieses her, indem sie auf der entsprechenden Apparatur eine Verbindung zwischen den Linien stöpselte.
Die Effizienz, mit welcher der Faktor Arbeit im Produktionsprozess eingesetzt wird, nimmt laufend zu. Professor Theo Wehner von der ETH Zürich stellt das so dar: «Rationalisierung und Technologieentwicklung führen dazu, dass wir die Güter und Dienstleistungen, die wir pro Stunde produzieren können, seit 1970 im Mittel um 2,6 Prozent pro Jahr erhöht haben: Eine Verdopplung der Produktivität in 27 Jahren.»
Wenn Maschinen und Computer je länger je mehr Arbeit übernehmen, nimmt die Anzahl klassischer Arbeitsplätze für die Menschen ab. Noch der letzten Generation wurde versprochen, dass die Menschen, die im Zuge der Rationalisierung ihren Job verlören, bald wieder Arbeit als Programmierer und Maschinenbauer finden würden. Das Versprechen konnte nicht eingehalten werden.
Erstens werden im Bereich der klassischen Fertigungs- und Dienstleistungsarbeit weniger Menschen benötigt, und zweitens ist es nur zum Teil gelungen, genügend Leute für die neuen Jobs, welche oft bedeutend mehr Ausbildung erfordern, zu qualifizieren. Die hergestellten Güter werden immer komplexer. Je mehr technisch hoch entwickelte Produkte konsumiert werden, desto anspruchsvoller dürfte das durchschnittliche Anforderungsprofil für Arbeitnehmende sein.
DAS «PROBLEM» SIND DIE HEINZELMÄNNCHEN
Es scheint, als ob die hohe Produktivität ein Problem erzeugen würde. Aber diese Betrachtung ist verkehrt. Vielmehr ist unsere Wirtschaftsleistung eine Erfolgsgeschichte. Götz Werner, der deutsche Unternehmer und prominente Befürworter des Grundeinkommens, bringt es auf den Punkt, wenn er sagt, dass es nicht Sinn und Zweck der Wirtschaft sei, die Menschen zu beschäftigen. Sondern die Wirtschaft habe die Aufgabe, den Menschen von der Arbeit zu befreien, so Werner.
Lange Zeit haben wir uns Heinzelmännchen gewünscht, die uns die Arbeit abnehmen. Jetzt ist uns das mithilfe der Technologie in vielen Bereichen gelungen. Dieser Erfolg ist so gross, dass unser System nicht mehr richtig funktioniert: In der laufenden Entwicklung verschärft sich der sogenannte Arbeitsmarkt immer mehr und teilt die Menschen auf in Gewinner, die drinnen sind, und Verlierer, die ausgeschlossen bleiben. Mit der steigenden Produktivität werden immer mehr zu Verlierern. Für diejenigen, die länger draussen sind, ist das Hineinkommen zunehmend schwieriger. Als Folge davon landen immer mehr Menschen auf dem Abstellgleis der Gesellschaft – auch wenn sie über das Sozialversicherungssystem finanziell aufgefangen werden.
Ein möglicher Umgang mit der steigenden Produktivität wäre, dass wir alle gesetzlich vorgeschrieben weniger arbeiten und die Arbeit gleichmässig verteilen. Es gibt Leute, die fordern zum Beispiel eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung in Form der 4-Tage-Woche. Doch ist dieses Modell ein Konstrukt von Regeln, welches die Menschen bevormundet und eher zu einer Abnahme der Freiheit führt. Es sind künstliche Modelle, die ein System, das eigentlich nicht mehr zeitgemäss ist, zu flicken und retten versuchen.
Nach der Leitidee des heute geltenden Wirtschaftssystems ist Wirtschaftswachstum das primäre Rezept gegen Arbeitslosigkeit. Durch das Wachstum würde die Wirtschaft laufend mehr Arbeitskräfte benötigen und diejenigen Menschen, welche durch die Produktivitätssteigerung «überflüssig» würden, hätten weiterhin einen Job. In den vergangenen Jahrzehnten ist deutlich geworden, dass das Wirtschaftswachstum Grenzen hat. Denn für quantitatives Wirtschaftswachstum müssten wir immer noch mehr konsumieren. Dies verbraucht die endlichen Ressourcen. Zudem steigert ein stetig wachsender Warenkonsum unser Wohlbefinden nicht unbedingt. Aber die Politiker sind wegen der Arbeitslosigkeit unter Druck, um jeden Preis das Wirtschaftswachstum anzukurbeln.
Wenn es uns gelänge, Arbeit und Einkommen zu entkoppeln, dann wäre Erwerbsarbeitslosigkeit nicht mehr ein so dominierender und wachstumstreibender Faktor in unserer Gesellschaft.
DIE ENTKOPPELUNG VON ARBEIT UND EINKOMMEN
Im Mittelalter versorgten sich in der Schweiz neunzig Prozent der Bevölkerung zu einem grossen Teil selber mit den Produkten, die sie im Rahmen von überschaubaren Familien- oder Gemeindeverbänden herstellten. Die Produktpalette des Konsums war bescheiden, der geografische Aktionsradius kurz und die Intensität der Zusammenarbeit mit anderen gering. Bis Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts stellen die Menschen in der Schweiz viele Produkte für den täglichen Bedarf selber her. Salz, Zucker, Tee und Kaffee kaufte man im Kolonialwarenladen dazu.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts arbeitet nicht einmal mehr einer von zwanzig in der Landwirtschaft, wir leben in einer vollkommen anderen Welt. Heute produziert praktisch niemand mehr unmittelbar für den eigenen Konsum. In aller Regel sind wir für andere tätig. Wir arbeiten nicht für uns selbst, sondern andere Menschen nutzen die Produkte und Dienstleistungen, welche wir erarbeiten. Egal ob in der Industrie, in der Kommunikationsbranche, in der Bildung, im Gewerbe oder in der Landwirtschaft: Die Herstellung von Gütern und Dienstleistungen hat sich in Tausende, hoch spezialisierte Sparten aufgeteilt. Gut vernetzt, jedoch selber stark abhängig von anderen, arbeitet der Mensch des 21. Jahrhunderts stets für den Mitmenschen. Aus der Selbstversorgung ist Fremdversorgung geworden.
Weil die Menschen heute praktisch nichts mehr für sich selber herstellen, müssen sie alles einkaufen. Somit hat das Geld eine zentrale Rolle erhalten. Es ist zu einem Lebens-Mittel geworden, auf das jeder angewiesen ist. Daraus folgt, dass alle Menschen in der Gesellschaft ein Einkommen brauchen.
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