Kitabı oku: «Wege zum Heiligen»
Christian Probst
Günter Kusch (Hrsg.)
Wege zum Heiligen
Eine Reise durch die Pilgerpsalmen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 9783865063953
© 2012 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers
Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers
Titelgrafik: shutterstock
Satz: BrendowPrintMedien, Moers
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort Günter Kusch
Einleitung Christian Probst
Psalm 120: Sehnsucht Charlotte Knobloch
Psalm 121: Angst Andi Weiss
Psalm 122: Ziel Bruder Paulus Terwitte
Psalm 123: Demut Kerstin Hack
Psalm 124: Befreiung Wolfgang Buck
Psalm 125: Vertrauen Christoph Zehendner
Psalm 126: Vorfreude Susanne Breit-Keßler
Psalm 127: Unterwegs sein Detlef Lienau
Psalm 128: Wegesfrüchte Andreas Ebert
Psalm 129: Bedrängnis Schwester Ruth Meili
Psalm 130: Tiefe Nora Steen
Psalm 131: Ruhe Norbert Roth
Psalm 132: Aufstieg Günter Kusch, Christian Probst
Psalm 133: Treffpunkt Raimund Kirch
Psalm 134: Heiligtum Georg Güntsch
Nachklang: Psalmen sind Lieder Cristian Probst
Informationen zum christlichen Popularmusikverband
Anmerkungen
Vorwort
„Alles muss immer besser, größer, höher, schneller und weiter sein“, so brachte es ein Jugendlicher neulich auf den Punkt. Er war als Gesprächspartner bei einer Fernsehsendung zum Thema „Burn-out“ eingeladen und sollte das Lebensgefühl der Menschen in seinem Umfeld beschreiben. Der 18-Jährige erzählte vom Bildungs- und Freizeitstress, der vielen immer mehr zu schaffen macht und bereits jungen Menschen mitunter „den Atem raubt“.
Immer besser, schneller und umfangreicher soll sie sein, die Vorbereitung aufs Leben. Das erfahren in unserer Gesellschaft bereits die Kleinsten. Zwei- bis Vierjährige werden mit Englisch-Kursen für spätere Herausforderungen getrimmt. Eltern von Kindergartenkindern brauchen einen Zweitkalender, um die zahlreichen Wochentermine ihrer Sprösslinge einzutragen: von musikalischer Früherziehung über Kurse wie „Kids-Sport“ oder „Tanzgarten“ bis hin zu vorschulischen Vorsichtsmaßnahmen wie „Kinderleicht zählen lernen“ oder „Spielerisch schreiben“. Für banale Treffen mit Freunden auf dem Spielplatz oder für etwas Malen am Wohnzimmertisch bleibt da mitunter kaum mehr Zeit.
Immer besser, schneller und weiter, so lautet das Motto auch bei Jugendlichen und Erwachsenen. Um einen Ausbildungsplatz zu bekommen, sollte man schon einige Erfahrungen bei verschiedenen Ferienjobs oder Betriebspraktika gesammelt haben. Bei der Bewerbung für eine Ausbildung oder ein Studium sind auch oft schon Auslandserfahrungen gefragt. Und: Nur wer bereit ist, für eine Stelle den Wohnort zu verlassen, hat gute Chancen, Karriere zu machen.
Kein Wunder, dass dabei so mancher auf der Strecke bleibt, weil er mit seinem Leben nicht mehr nachkommt. Ratgeber in Sachen Zeitmanagement füllen die Bücherregale. Seminare zum Thema sind rasch überfüllt. Manager und Verantwortliche in großen Firmen wechseln die Seite und helfen eine Zeit lang bei der Bahnhofsmission oder bei anderen diakonischen Einrichtungen aus. Andere suchen den Kick der Extremsportarten – vielleicht auch auf der Suche nach dem, was Leben wirklich heißt? Manche begeben sich auf eine Pilgerreise, um abzuschalten und den unliebsamen Alltag „einen guten Mann sein zu lassen“.
Jährlich sind etwa 40 Millionen Wallfahrer zu christlichen Pilgerorten unterwegs, so ist es in aktuellen Untersuchungen nachzulesen. Die Motive sind oft ähnlich: Die Pilger suchen nach Ruhe und Stille, nach Orten des Nachdenkens und der Besinnung. Sie wollen Kraft für den Alltag schöpfen oder aber ihren Glauben und ihre „Beziehung zu Gott“ erneuern oder stärken. Schon in der Bibel sind derartige Pilgerreisen fest verankert. So war jeder Jude verpflichtet, an drei Wallfahrtsfesten im Tempel von Jerusalem teilzunehmen (Exodus 34,23). Als erste namentlich bekannte Pilgerin gilt Kaiserin Helena. Sie unternahm im vierten Jahrhundert einen Abstecher nach Jerusalem, um die Stadt zu sehen, in der Jesus gelebt und gewirkt hatte. Neben Jerusalem zählen heute auch Rom mit den Gräbern der Apostel Petrus und Paulus, das spanische Santiago de Compostela, Lourdes, Fatima oder Taizé zu den beliebtesten Zielen der Sinn- und Lebens-Pilger.
Auf der einen Seite der Anspruch, immer besser, schneller und erfolgreicher zu sein. Auf der anderen Seite der Wunsch nach Entschleunigung, Erfahrungen der Stille. Die Suche nach sich selbst, nach dem Sinn des Lebens, nach Heil und dem barmherzigen Gott, der eben nicht nach Leistung fragt.
Im Prinzip handelt es sich bei beiden Erscheinungen um zwei Seiten einer Medaille. Es ist ja nicht verwerflich, wenn Menschen versuchen, sich auf die Zukunft vorzubereiten oder das Beste aus ihrem Leben „herauszuholen“. Problematisch wird es jedoch, wenn dabei die natürlichen Gegebenheiten des Menschseins außer Acht gelassen und übersehen werden, sprich: Unzulänglichkeiten, Schwächen oder auch das Bedürfnis nach Ruhe, Entspannung und Wiederauftanken.
Meine These lautet deshalb: Nur wer seine Körperlichkeit, seine Ganzheitlichkeit in den Blick nimmt und damit zu leben lernt, wird auch seine Begabungen besser nutzen und diese für den Dienst am Nächsten einsetzen können.
Angst und Aggression, Krankheit und Leid, Gefahr und Not – gerade die Psalmen im Alten Testament nehmen die Ganzheitlichkeit des Lebens in den Blick. Die Psalmen gelten nicht nur als das Gebetsbuch des Volkes Israel, auch Jesus hat diese Texte gebetet und häufig auswendig zitiert. Wer im Buch der Psalmen schmökert, spürt, dass hier das Menschsein in seiner ganzen Fülle zu Wort kommt, dass man sich hier wiederfinden und Hilfe für den Alltag erhalten kann. Kein Wunder, dass gerade die Psalmen 120 bis 134 für Reisende aller Art zum selbstverständlichen Reisegepäck zählten.
„Wallfahrtspsalmen“ hat man sie genannt, aber auch „Lieder der Aufstiege“, wie es eigentlich in der hebräischen Sprache heißt. Aber auch die Überschriften „Stufenlieder“, „Lieder der Erhebung“ und „Heimkehrlieder“ sind zu finden. Dahinter steht der Gedanke, dass es sich um Pilgerlieder handelt, die bei großen Wanderungen, zum Beispiel zu den Wallfahrtsfesten des Volkes Israels, gesungen und gebetet wurden. Man hatte diese 15 „Songs“ immer dabei, um fröhlich seinen Weg zu gehen. Näheres zur Bedeutung des Verbes „alah“ (hinaufsteigen, hinabsteigen, pilgern, wallfahren), das diese Psalmen kennzeichnet, kann man beispielsweise in dem Buch von Klaus Seybold nachlesen 1.
In diesem Buch machen sich 16 Autorinnen und Autoren auf einen persönlichen Weg mit den Wallfahrtspsalmen der Bibel. Sie lassen sich inspirieren von den Texten, nehmen ihre eigenen Erfahrungen mit hinein und damit ihr Leben ins Gebet. Zahlreiche Gedanken, Wünsche und Visionen, vielfältige Erlebnisse – von der lähmenden Depression bis hin zur befreienden und heilenden Gotteserfahrung – sind hier versammelt und sollen die Leser ermutigen, eigene Schritte im Umgang mit dem Glauben und in der Beziehung zu Gott zu wagen.
Danken möchte ich an dieser Stelle Pfarrer Christian Probst, der die Initialzündung zu dem Projekt „Wege zum Heiligen“ gab. Er hat die gar nicht so altertümlichen Texte in ein modernes Klanggewand gekleidet. Die CD dazu kann über das Internet bestellt werden (Infos auf www.ways-music.de ). Bei mehreren Auftritten einer Band, eines Chores und verschiedener Sprecher wird das Projekt einem größeren Publikum vorgestellt werden. Gerade die Verbindung von Text und Musik kann neue Horizonte, ja heilige Momente eröffnen und damit neue Zugänge zum Leben, mit allen seinen Rundungen, Ecken und Kanten. Danken möchte ich auch Susanne Hübscher vom Brendow Verlag in Moers, die mit ihren Vorschlägen und Tipps die Vielzahl der Texte in eine gute Form brachte. So bleibt mir zu Beginn Ihres Weges mit diesem Buch der Wunsch, dass Sie sich im buchstäblichen Sinne „viel-seitig“ inspirieren lassen:
– von dem lebendigen und vielgestalteten „Ich“ und „Wir“, das da in den Psalmen seinem Gott antwortet2,
– von den authentischen Lebensentwürfen, mit all ihren Freuden und Sorgen, die sich darin abbilden,
– von dem Lebenswissen und der Lebenskunst, die sich darin spiegeln,
– von den Hoffnungen auf Glück und der Sehnsucht nach Geborgenheit und Schutz, die in bunten Bildern auftauchen,
– und von der Kraft der Veränderung, die durchaus ansteckend wirken kann.
Interessant ist ja, dass die Vision vom Zion als Ort und Quelle des Segens, in Psalm 126, Vers 1, vorerst nur als „Traum“ erkennbar ist. Noch sieht die Realität anders aus, noch gibt es die Fülle des Heils nur als Fragment. Doch diese Träume sind eben gerade keine „Schäume“, wie uns ein bekanntes Sprichwort glauben machen möchte. Die Zionpilger lassen sich von diesen visionären Träumen in Bewegung bringen und leben von ihnen. Schließlich galt der Traum in der alten Welt als Medium der Offenbarung und insofern als „eine von den Göttern ermöglichte (Vorweg-)Schau der Zukunft“3.
Ich würde mich freuen, wenn durch dieses Buch und die dazugehörige CD „gottgegebene Träume“ ermöglicht werden –also Träume, die sich mit der Gegenwart nicht einfach zufrieden geben, sondern Hoffnung schenken, den Alltag auch zu verändern.
Eine gute Reise in diesem Sinne wünscht Ihnen
Günter Kusch
Günter Kusch, Jahrgang 1964, ist evangelischer Theologe und Redakteur. Er ist im Evangelisch-Lutherischen Dekanat Fürth als theologischer Mitarbeiter des Bildungswerkes tätig.
Einleitung
Unser Leben ist wie eine Pilgerreise.
Wir sehnen uns nach etwas Heiligem,
das uns innerlich und äußerlich
zu heilvollen, segensreichen
Wegen führt.
Christian Probst
Wanderer brauchen eine gehörige Portion Mut. Die Taschen sind gepackt und stehen bereit. Die Ausrüstung ist auf das Nötigste beschränkt. Ein paar Kleidungsstücke und etwas Proviant müssen erst einmal reichen. Hauptsache, der Trinkschlauch wurde mit genügend Trinkwasser gefüllt.
Wer die Reise zu Fuß bestreiten will, ohne technische Erleichterungen, nur mit Wanderstecken und dem allernötigsten Gepäck, spürt von Anfang an eine Spannung, die nicht alleine von den Trageriemen der Taschen auf den Schultern ausgeht. Wanderer dürfen sich nicht einschüchtern lassen von unangenehmem Wetter, mühsamen Berganstiegen oder von Räubern und Wegelagerern.
Oft steht ein Geistesblitz am Anfang einer Wanderschaft: „Die Zeit ist reif.“ Das Fernweh treibt Menschen zum Ausgang ihrer vier Wände. Die Tür fällt ins Schloss. Der Schlüssel wird im Schlüsselloch umgedreht. Und dann kann es endlich losgehen. Alter Ballast bleibt zu Hause. Nur das Nötigste darf mit. Bei einer Pilgerreise auf neuen Wegen kann man endlich abschalten und freie Gedanken fassen, die dem Leben etwas Heilvolles einhauchen.
Schon Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung machten sich Pilger auf die Reise zu heiligen Orten wie dem Tempel in Jerusalem. Tage- und wochenlang gingen sie zu Fuß, mit dem Ziel, an diesem heiligen Ort Gott anzubeten. Dort angekommen, dankten sie Gott für ein gutes Geschick, wie zum Beispiel der israelitische Stammvater Jakob. Nachdem er an der Furt des Flusses Jabbok den Kampf mit einem mysteriösen Unbekannten gewann, versöhnte er sich mit seinem verfeindeten Zwillingsbruder Esau. Aus Dankbarkeit baute er Gott in Bethel einen Altar (1. Mose 35).
Andere pilgerten zu heiligen Orten, um Gott wegen eines schweren Schicksals um Hilfe anzuflehen. Hanna zum Beispiel beklagte dort ihre Kinderlosigkeit. Sie war eine von zwei Frauen des Leviten Elkana. Jahr für Jahr zog die Familie nach Silo. Dort betete Hanna zu Gott und klagte ihm ihr Leid (1. Samuel 1).
Am Heiligtum in Jerusalem wurden jedes Jahr große Feste, wie das Laubhüttenfest oder das Passafest, gefeiert. Kilometerlang wanderten die Menschen ohne Landkarte, mit bescheidenem Schuhwerk, auf Wegen unterschiedlicher Beschaffenheit. Sie suchten auf ihnen nach dem Heiligen, das ihre inneren Fragen und Sehnsüchte stillen würde.
Die Wege des Lebens können unergründlich sein. Das wird einem nicht nur bewusst, wenn man wie ein Pilger zu Fuß zu einer längeren Reise aufbricht. Auch auf unseren alltäglichen Wegen stoßen wir immer wieder auf Spannungen und Herausforderungen. Auf ihrer Lebensreise ziehen manche beruflich bedingt von einem Ort zum andern und fangen neu an. Andere müssen sich neu orientieren, weil frühere Strecken nicht mehr begehbar sind. Ein Traum endet in einer Sackgasse. Oder gemeinsame Wege gabeln sich plötzlich in verschiedene Richtungen: Ehepaare lassen sich scheiden. Kinder werden erwachsen und bauen sich ihre eigene Existenz auf. Lange Wegbegleiter segnen das Zeitliche. Wege führen zusammen oder auseinander. Erst wenn wir die verschiedenen Abschnitte des Lebens selbst beschreiten, erkennen wir, wo sie hinführen. Dann führen sie nicht „irgendwo durchs Nirgendwo“, fern und unerreichbar in eine ungewisse Zukunft. Sondern sie werden spürbar, erlebbar, lebendig. Franz Kafka bringt das in seinem bekannten Zitat auf den Punkt: „Wege entstehen dadurch, dass man sie geht.“
Vielleicht erfreut sich das Wandern auf Pilgerwegen in den letzten Jahren gerade deswegen so großer Beliebtheit, weil man dabei selbst den Boden unter den Füßen spüren kann. Ohne einfach über bestimmte Wegetappen hinwegzufahren oder -zufliegen, muss man dort Wege vom Anfang bis zum Ende gehen.
Die Suche nach sich selbst verbindet sich während des Laufens mit dem Streben nach etwas Höherem. Einen Pilgerweg beschreitet man oft mit der großen Hoffnung, neue Bilder in sich aufzusaugen, mit denen man den eigenen Horizont erweitern kann. Wir sehnen uns nach Erfahrungen, die uns innerlich oder äußerlich frei werden lassen. Beim Wandern können wir endlich einmal in Ruhe nachdenken oder uns auf unsere Schritte konzentrieren. Einen Fuß vor den anderen zu setzen hat besonders für alltägliche „Büro-Hocker“ oder „Gremien-Hüpfer“ eine befreiende Wirkung.
Viele sehnen sich danach, über den eigenen Schatten zu springen. Andere würden gerne die Zeit langsamer laufen lassen oder begeben sich auf die Reise, um auf die großen Fragen des Lebens eine Antwort zu finden. Wir suchen nach einer Macht, die uns auf allen Wegen begleitet. Wir würden gerne mit ihr Kontakt aufnehmen und versprechen uns davon heilvolle Erlebnisse.
Wir sehnen uns nach dem heiligen Gott, hinterfragen aber gleichzeitig seine Existenz, besonders wenn wir auf unserer Lebensreise zerbrochenen Menschen begegnen, die harte Wegstrecken zurücklegen müssen. Wir sehnen uns nach beständigen Werten, die unsere Gesellschaft prägen und unser Leben wertvoll und gleichberechtigt neben anderen stehen lassen.
Die Sehnsucht nach Anerkennung der eigenen Person bzw. allgemeiner Werte verbinden wir hoffnungsvoll mit etwas, das unsere Gedanken übersteigt, aber das uns mit einem Gefühl erfüllt, etwas „Heiligem“ begegnet zu sein.
Der Soziologe Hans Joas führt die Entwicklung der Menschenrechte auf eine persönlich gelebte Heiligkeit (Sakralität) zurück. Menschen hätten durch das Zusammenleben entdeckt, dass jedes einzelne Individuum als heilig erachtet werden müsse.4 Auch heute könne der Mensch uns wieder „heilig“ werden, wenn uns seine Würde in einem heiligenden Prozess, einem „Sakralisierungsprozess“, wieder neu bewusst würde. Ich möchte diesen Ansatz weiterführen und behaupte: Alle Wege des Lebens bieten Anknüpfungspunkte zum Heiligen. Wenn wir uns danach sehnen, stellen sich unsere Antennen auf, und wir bereiten uns darauf vor, Erfahrungen zu machen, die unser eigenes „Ich“ transzendieren. Das kann ein Sonnenuntergang mit einem überwältigenden Farbenspiel sein. Ein Konzert mit einem riesigen Orchester; der Moment, in dem man nach langen Jahren einer alten Freundin begegnet; oder wenn jemand sich im Fußballstadion rechtzeitig in eine La-Ola-Welle einreiht und danach staunt, wie die Welle auf andere überschwappt. Ein „heiliges Erlebnis“ entsteht sicher auch, wenn Menschen ihre Rechte praktizieren können und den Wert von anderen Lebewesen achten. Aber es wirkt nicht nur nach außen, sondern berührt uns ebenso in unserem Innersten. Es führt den Reisenden weiter, gibt ihm Orientierung und eröffnet vorher unbekannte Wege. Solche Erlebnisse können sogar die Grenze von Intelligenz überschreiten, reichen über unseren Verstand hinaus und können uns in Kontakt bringen mit dem heiligen Gott als einem persönlichen Gegenüber.
Unser ganzes Leben bereisen wir ähnlich wie Pilger ihren Weg zu einem Heiligtum. Voller Sehnsucht, unsere Sinne zu erweitern. Mit den großen Fragen des Lebens im Gepäck. Spiritualität, göttliche Gegenwart zählen zu den großen menschlichen Ursehnsüchten. Auf unseren Wegen stellen wir immer wieder fest, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die weder ein tiefgründiger Verstand noch die schärfsten Sinne erfassen können. Die drei großen Weltreligionen haben bis heute heilige Orte, zu denen Menschen in Scharen reisen. Jerusalem hebt sich als besonders faszinierende Stadt sicher hervor. Mich beeindrucken aber auch die Bilder von der sogenannten Hadsch, der muslimischen Pilgerreise nach Mekka, die jedes Jahr bombastischere Ausmaße anzunehmen scheint. Auch klassische christliche Pilgerstätten, wie Rom und Santiago de Compostela, erfreuen sich weiterhin außerordentlich großer Beliebtheit. Das Pilgern auf dem Jakobsweg ist im 21. Jahrhundert wieder zu einer Massenbewegung geworden.
Die Sehnsucht nach etwas Heiligem muss man jedoch nicht auf bestimmte Orte begrenzen. Das ganze Leben ist von ihr geprägt, sei es nun bewusst oder eher unbewusst. Jeden Tag setzen wir unsere Füße auf Wege. Jeden Tag wünschen wir uns Erfahrungen, die unser Leben mit etwas Heiligem bereichern. In diesem Buch soll es nicht um einen bestimmten Pilgerweg zu einem hervorragenden Heiligtum gehen.
Die sechzehn Autoren dieses Buches nehmen die sogenannten „Wallfahrtspsalmen“ (Ps. 120-134) des Ersten Testamentes zur Hilfe, um sich auf die Spur von etwas Heiligem zu machen, das unser Leben auf allen Wegen begleitet. Die Psalmen wurden wahrscheinlich früher tatsächlich auf den Pilgerwegen nach Jerusalem gesungen. Durch ihre Kürze und einen volksnahen „Touch“ kann man sich sogar vorstellen, dass sie von den Pilgern wie ein kleines Gebetbüchlein mitgeführt wurden.5 Die fünfzehn Psalmen passten gerade auf eine kleine Papyrusrolle und somit gut ins Handgepäck.
Seit meinem ersten theologischen Examen haben mich diese Psalmen nicht mehr losgelassen. Ich wollte sie unbedingt gedanklich und musikalisch zum Klingen bringen.6 In ihnen stecken die unterschiedlichsten Themen, die man mit Lebenswegen verbindet. Sie stellen durch ihr gottesfürchtiges Lob und ihr tiefgründiges Ringen und Klagen Verbindung zu dem Heiligen Gott „JHWH“ her. Diese Psalmen bringen unsere Gedanken auf eine Spur, die uns auf der Pilgerreise des Lebens die Lichtstrahlen des Heiligen in und um uns entdecken lässt.
Christian Probst, Jahrgang 1973, ist evangelischer Theologe und Musiker. Er hat schon bei diversen Musikprojekten mitgewirkt und komponiert Lieder, die auch bei Gottesdiensten, Band- und Chorkonzerten eingesetzt werden. Derzeit arbeitet er als Pfarrer in Fürth-Burgfarrnbach.
Sehnsucht
Psalm 120
1 Zu Gott in solcher mir gewordenen Not habe ich schon gerufen und Er antwortete mir.
2 Gott rette meine Seele von Lügen-Lippe, von trügerischer Zunge.
3 Was gibt es dir, was mehrt es dir, trügerische Zunge!
4 Eines Mächtigen Pfeile sind schon geschärft, nebst immer glimmenden Kohlen.
5 Erwünschter wäre es mir, ich hätte unter Meschech geweilt, hätte gewohnt bei Kedars Zelten.
6 Übersatt hat sich meine Seele gewohnt bei Hassern des Friedens.
7 Ich bin Friede, auch wenn ich rede. Sie sind des Krieges.
(Übersetzung nach Rabbi Samson Raphael Hirsch)7
Charlotte Knobloch
„Zu Gott rief ich in meiner Angst, und er erhörte mich.“ Mit diesen Worten beginnt der Psalm 120. In diesem ersten Satz, wie im Übrigen an diversen weiteren Stellen in der Tora oder den jüdischen Gebeten, kommt die Idee zum Ausdruck, dass wir Menschen uns in jeder Lebenslage der göttlichen Präsenz bewusst sein können. Nicht nur in der Not dürfen wir auf „Haschem“8 vertrauen, sondern insbesondere in Momenten der Verzweiflung, der Furcht oder gar der Hoffnungslosigkeit finden wir Trost und Zuversicht in dem festen Wissen, in Gottes Hand zu sein, uns auf IHN verlassen zu können.
Der Ausdruck „sich auf jemanden verlassen“ verdient eine exakte Betrachtung. Inflationär „verlassen“ wir uns heutzutage auf Personen, Institutionen oder die Technik. Beim Worte genommen, ist jene Wendung jedoch von existenzieller Aussage. Wir „verlassen“ uns, gehen also aus uns heraus, geben unsere Autonomie, unsere Selbstbestimmung und unsere Eigenverantwortlichkeit auf, und übergeben diese an jemand oder etwas außerhalb unseres Macht- und Einflussbereiches.
In sehr jungen Jahren musste ich lernen, dass Vertrauen sehr gefährlich, ja tödlich sein kann. Mein kindliches Urvertrauen musste ich mir also sehr früh abgewöhnen und stattdessen lernen, Vorsicht, Skepsis und grundsätzliches Misstrauen als Lebensversicherung anzuerkennen. Diese frühkindliche Prägung habe ich bis heute nicht vollständig ablegen können. Bis heute überkommen mich bisweilen Zweifel, ich könnte vorschnell vertraut haben, könnte mich leichtfertig verlassen haben. Die Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit, Loyalität und Integrität – eben nach Vertrauenswürdigkeit – trägt wohl jeder Mensch in seinem Herzen. Wer sehnt sich nicht nach jener Geborgenheit, wie zu viele Menschen auf dieser Welt sie zuletzt im Mutterleib verspürten?
Psalm 120 bildet den Auftakt der sogenannten Stufenpsalmen, die von den Leviten zur Zeit der Existenz des Tempels beim Betreten des Tempelbezirks auf den 15 Stufen zur Tempelvorhalle gesungen wurden. Dieser Psalm soll den zum Tempel als Herzstück des Judentums pilgernden Menschen ermutigen, sich dem Sog des Aufwärtsstrebens auszusetzen. Rabbiner Samson Raphael Hirsch umschrieb diesen Zustand als „die darin sich offenbarende Gotteswirkung schauen und sie zum Ausdruck bringen“. Die 15 Psalmen werden „Schirej hama’alot“, „Stufenlieder“, genannt, wobei der Begriff „Schir“ im Hebräischen als „ein Gott schauendes Lied“ definiert wird.
Die Stufenpsalmen bilden eine Stufenleiter, welche Israel seine Aufgabe vergegenwärtigt: ein Licht für die Völker zu sein. Als Juden sind wir der Tora, den göttlichen Geboten, verpflichtet. Diese Verpflichtung lässt Israel mitunter auch alleine dastehen und führt es zur Besinnung auf die Tatsache, dass alleine Gott es ist, der sein Volk führt. Gott führte das Volk Israel aus Ägypten ins Heilige Land. Die Sehnsucht jener Jahre der Wanderung durch die Wüste, die Sehnsucht nach Heimat und die Hoffnung auf Heimkehr sind zentrale Motive der jüdischen Religion.
Gott spricht zu Israel: „Rette meine Seele von Lügen-Lippe, von trügerischer Zunge“ (Psalm 120,2). In diesem Psalm lernen wir also auch die Auswirkungen lügenhaften Redens: Die Lippe als Rand des Sprachorgans, umfasst, so interpretiert Rabbiner Hirsch, das ganze Sprachvermögen. Die Zunge hingegen gestaltet das einzelne Wort. Das ganze Sprachvermögen steht im Dienst der Lüge, die in ihrer Rede „nicht zum Ausdruck der Wahrheit der Dinge und der Gedanken und der Gesinnungen“, sondern „zu deren Verschleierung dient“.9
Jedes gesprochene Wort dient der Täuschung. Hirsch geht der Frage nach, was mit dieser Täuschung erreicht wird. Er kommt zu dem Schluss, dass damit nichts erreicht wird, im Gegenteil: Das Bestehende erhält keine dauernde Förderung. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der zum Frieden führenden Absichten.
Im Herbst feiern wir Juden im Gedenken an den Auszug aus Ägypten Sukkot – das Laubhüttenfest. Gläubige Juden leben, speisen, schlafen und empfangen ihre Gäste eine Woche lang in Hütten unter freiem Himmel. Ein nicht blickdichtes Dach, das mit Zweigen oder Palmwedeln gedeckt ist, lässt tagsüber die Sonnenstrahlen hindurch und eröffnet nachts den Blick in den weiten Sternenhimmel. Diese Tradition erinnert uns an die Wüstenwanderung nach dem Exodus, an die harte Zeit zwischen der ägyptischen Knechtschaft und der ersehnten Ankunft im „gelobten Land“.
Sukkot offenbart eindeutig das Motiv der Sehnsucht, bringt aber ebenso unmissverständlich das Bewusstsein zum Ausdruck: Gott beschützt sein Volk auch auf gefährlichen Wegen. Zugleich jedoch beinhaltet das Laubhüttenfest die klare Warnung, sich zu behaglich in vermeintlich geordneten Verhältnissen einzurichten, mit zu schwerem Gepäck unterwegs zu sein oder sich an Eigentümer zu klammern – sowie die Warnung davor, blind zu vertrauen, sich zu sehr zu verlassen. Denn jederzeit kann ganz plötzlich der Ruf ins Ungewisse ergehen. Menschliche Existenz ist immer unsicher.
Angesichts all jener latenten täglichen Unwägbarkeiten gibt es nur den einen sicheren Halt: Gott. Im letzten Monat des jüdischen Jahres bis zum letzten Tag von Sukkot wird Psalm 27 in das tägliche Gebet eingefügt, in dem es heißt: „Der Ewige ist mein Licht und meine Hilfe, vor wem sollte ich mich fürchten? Der Ewige ist meines Lebens Schutz, vor wem sollte ich Angst haben? Nähern sich mir Bösewichter, um mein Fleisch zu verzehren, meine Bedränger, die mir feindlich gesinnt sind, sie straucheln und fallen. Stellt sich ein Lager gegen mich, mein Herz fürchtet es nicht; erhebt sich ein Krieg gegen mich, trotz allem vertraue ich. [...] Denn Er bringt mich in Seine Hütte am Tag der Boshaftigkeit, birgt mich im Versteck Seines Zeltes, auf den Fels hebt Er mich. [...] Mein Vater und meine Mutter haben mich verlassen, doch der Ewige nimmt mich auf. Lehre mich, Ewiger, Deinen Weg, und führe mich auf den Pfad der Gradheit, wegen meiner Feinde. [...] Hoffe auf den Ewigen und ermutige Dein Herz und hoffe auf den Ewigen.“10
In der Kraft dieses Glaubens hat das jüdische Volk alle Katastrophen seiner Geschichte überlebt. Ein kleines, unscheinbares, ständig verfolgtes und gejagtes Volk, das über die Jahrtausende hinweg die Sehnsucht nach einer besseren, gerechten Welt wachgehalten hat. Die Sehnsucht nach dem Messias, dem von Gott gesandten Befreier.
„Nicht Gott entscheidet, wann der Messias kommt, sondern wir, die Menschen“, schrieb einst der jüdische Gelehrte und Romancier Elie Wiesel. Der Hass der Wahrheit schließt den Hass des Friedens in sich: „Übersatt hat sich meine Seele gewohnt bei den Hassern des Friedens“ (Psalm 120,6). Nur wenn alle Menschen – in der Übereinstimmung ihres Denkens, Wollens, Redens und Handelns mit dem Sein und Sollen der Verhältnisse – der Wahrheit huldigen, können die Menschen bei der Mannigfaltigkeit ihrer Eigenart in Frieden nebeneinanderbleiben und streben. Dann wird es uns ein Leichtes sein, uns auf unsere Nächsten zu verlassen, weil wir wissen, dass wir alle nur nach dem einen streben: Nach einem friedlichen Miteinander aller Menschen – ohne Ansehen von Religion, Hautfarbe, Kultur oder sonstigen künstlichen Grenzen.
In Wahrheit findet jeder den Raum und die Grenze seiner Berechtigung. Die Lüge, so Hirsch, entzieht allen und allem den Boden. Dieser Psalm kann somit als ein durchaus aktuelles Manifest für den Frieden und gegen die Lüge gesehen werden.
Unter Gottes Obhut hatte mein Vater seligen Angedenkens die Kraft, den richtigen Menschen zu vertrauen, mich den richtigen Menschen anzuvertrauen. Menschen, die ihr eigenes Leben und das ihrer Liebsten riskierten, um mich zu retten durch die vielleicht dunkelste Zeit, die diese Welt je sah. So lernte ich auch, dass man sich im Laufe des Lebens bisweilen auch verlassen können muss.
Des Menschen Bestimmung ist es schließlich, gemeinsam mit Menschen zu leben. Wer auf Gott vertraut, und das tue ich, wer sich auf ihn verlässt – aber ohne dabei sein Leben aus der Hand zu geben –, der hat allen Grund, weniger sehnsüchtig als vielmehr mit Freude und Hoffnung in die Zukunft zu blicken.
Charlotte Knobloch, ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, ist Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München/Oberbayern.