Kitabı oku: «Ausweitung der Kontingenzzone», sayfa 2
I. KONTROLLVERLUST
An die Stelle sachlicher Rationalität treten heterogene Spannungen, an die Stelle der Vernunft das Kalkül, an die Stelle der Wiederholung die Varianz. (Dirk Baecker)
Evolution I: Entropie
Die „nächste Gesellschaft“ ist eine vernetzte Gesellschaft. Aber was genau meinen wir eigentlich, wenn wir von „Vernetzung“ und „Digitalisierung“ sprechen? Allzu oft ist der Diskurs über den „digitalen Wandel“ vor allem eines: tendenziell hysterisch. Debatten über die „digitale Transformation“ sind häufig geprägt von Übertreibungen und Simplifizierungen, von überzogenen Erwartungen und diffusen Ängsten, gespickt mit Buzzwords wie „Disruption“, „Plattformökonomie“, „Industrie 4.0“ oder „Künstliche Intelligenz“ – ohne dass dabei die strukturellen Prinzipien, die diesen Phänomenen zugrunde liegen, in den Blick kommen.
Was ein aufgeklärter und emanzipierter Umgang mit den komplexen Phänomenen des medialen Wandels daher umso mehr braucht, ist eine theoretische Fundierung: ein reflektiertes Verständnis, wie sich der Prozess der Digitalisierung auf die Gesellschaft, auf ihre Organisationen und Individuen auswirkt. Die Systemtheorie kann dazu vieles beitragen. Niklas Luhmann selbst erlebte den globalen Siegeszug des Internets zwar nicht mehr, doch in seinem letzten Buch „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ (vgl. Luhmann 1997) thematisierte er an verschiedenen Stellen die künftige Entwicklung der damals erst breitenwirksam einsetzenden Digitalisierung – und legte damit den Grundstein für weitere systemtheoretische Beobachtungen der vernetzten Gesellschaft.
Einer der wenigen, die produktiv daran anschließen konnten, ist der Soziologe Dirk Baecker. Bereits 2007 nahm er in seinen „Studien zur nächsten Gesellschaft“ die neuen Muster der Netzwerkgesellschaft erstmals umfassend unter die Lupe (vgl. Baecker 2007), mit „4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt“ legte er 2018 eine Art Kartografie dieser nächsten Gesellschaft vor (vgl. Baecker 2018a). Luhmanns und Baeckers Beobachtungen schärfen das Bewusstsein für die Funktionsweise der vernetzten Gesellschaft – auch und gerade in der Unterscheidung zu den vorigen, nichtvernetzten Gesellschaftsformen, in denen wir mental immer noch zu Hause sind. Denn: „Verstehen kann man nur, wenn man das bislang Unverständliche mit bereits Verstandenem vergleicht“ (Baecker 2016, 5).
Diese Perspektive erklärt bereits, warum die Digitalisierung kontroverse bis panische Reaktionen hervorruft. Und sie öffnet den Blick für jene neuen Kompetenzen und Kulturformen, die Individuen und Organisationen heute und künftig brauchen, um sich in einer vernetzten Gesellschaft zurechtzufinden (siehe III. Reflexion, S. 79).
Grundlegend für eine systemtheoretische Perspektive auf gesellschaftlichen Wandel ist ein „ökologisches“, systemisches Verständnis von Evolution. Luhmann zufolge vollzieht sich Evolution stets, indem „die Differenz zwischen System und Umwelt durch strukturelle Kopplung überbrückt wird“ (Luhmann 1997, 74). Anders als Charles Darwin, der die biologische Evolution mit der Idee des „survival of the fittest“ als Fortschrittsgeschichte deutete, schreibt Luhmann der voranschreitenden gesellschaftlichen Differenzierung aber keine wertenden oder hierarchisierenden Momente zu.
Stattdessen betrachtet Luhmann Evolution aus der Perspektive selbstreferenzieller, autopoietischer Systeme – also Systeme, die sich aus ihren Elementen selbst erzeugen oder ermöglichen – und verabschiedet damit das Darwinsche Prinzip der „natürlichen Selektion“ durch die Umwelt. Stellt man die Evolutionstheorie auf die Co-Evolution strukturell gekoppelter, selbstreferenziell-geschlossener Systeme um, gibt es auch keine Garantie für Stabilität mehr – vielmehr „müssen diese Systeme selbst für ihre Stabilität sorgen, um weiterhin an Evolution teilnehmen zu können“ (ebd., 427). An die Stelle der Stabilität tritt das Prinzip der Restabilisierung, das gewissermaßen „nachgeschaltet“ ist und nur zum Einsatz kommt, „wenn Variation und Selektion ‚zufällig‘ zusammenwirken“ (ebd.).
Hier wird bereits die grundlegende Kontingenz gesellschaftlicher Wandlungsprozesse deutlich. Restabilisierung ist als dritter Faktor zugleich Voraussetzung und Ende einer evolutionären Sequenz – und führt daher nicht zu Anpassung, sondern, im Gegenteil, zu einer Abweichungsverstärkung: „Die unbeabsichtigt oder jedenfalls unbezweckt erzeugten Auswirkungen auf die Umwelt scheinen zu explodieren“ (ebd., 133). In diesem Sinne ist eine „postdarwinistische“ Evolutionstheorie eine „ökologische“ Theorie: Ihr erscheint Wandel weniger notwendig als kontingent.
Eine solche Perspektive auf Evolution verbindet den historischen Rückbezug mit Zukunftsoffenheit, ausgehend von einer Vielzahl koexistierender Alternativen sowie nichtarbiträrer Verbindungen zwischen dem, was ist, und dem, was war. Weil Evolution demnach ein dynamischer Prozess der kontinuierlichen Neuerfindung ist, bei dem der Faktor Umwelt eine entscheidende Rolle spielt, werden die modernistischen Konzepte von Intentionalität, Planung und freiem Willen gleichsam obsolet. So wie ein Ökosystem kein Zentrum hat, folgt Evolution keinen Richtlinien, die systemisch vorgegeben werden. Und natürlich spielt auch der Mensch keine übergeordnete Rolle, sondern fungiert als ein Element unter vielen innerhalb hochkomplex-verschränkter Systemumwelten.
Dieser evolutionäre Paradigmenwechsel gleicht der Umstellung von einer Kybernetik erster Ordnung auf eine Kybernetik zweiter Ordnung: von steuerbaren Systemen hin zu autopoietischen Systemen, bei denen sich Input und Output wechselseitig bedingen, verbunden durch Feedback-Loops. Beispiele für solche „immanenten“ Systeme sind biologische Organismen, das Bewusstsein, das Klima und auch die Gesellschaft selbst.
Den roten Faden eines systemtheoretischen Evolutionsverständnisses bildet eine Paradoxie: die Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen. „Die Unwahrscheinlichkeit des Überlebens isolierter Individuen oder auch isolierter Familien wird transformiert in die (geringere) Unwahrscheinlichkeit ihrer strukturellen Koordination, und damit beginnt die soziokulturelle Evolution“ (Luhmann 1997, 414). Die evolutionäre Leitfrage lautet deshalb: Wie ist es möglich, dass immer unwahrscheinlichere Strukturen entstehen und als Normalität funktionieren? Die Antwort der Systemtheorie lautet: durch die evolutionäre Umwandlung von „geringer Entstehungswahrscheinlichkeit in hohe Erhaltungswahrscheinlichkeit“ (ebd.).
Die nächste Gesellschaft, die Netzwerkgesellschaft, bildet die bislang unwahrscheinlichste Stufe der soziokulturellen Evolution – und stellt zugleich einen Epochenbruch dar, der so einschneidend ist wie der Übergang zur Sesshaftigkeit oder die industrielle Revolution. Dabei ist die digitale Transformation zugleich eine bewegliche Epochenschwelle, die strukturell, kulturell und intellektuell auf verschiedene Zeitpunkte fixierbar ist – so wie sich das Paradigma der Elektrizität erstreckt vom Beginn der urbanen und industriellen Elektrifizierung Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Einführung und Etablierung des Computers mit seinen Netzwerken, Speichern und Algorithmen im 20. und 21. Jahrhundert.
Viel entscheidender als eine zeitliche Fixierung ist jedoch das Prinzip der evolutionären Temporalisierung, das prägend ist für die strukturelle Koordination dieser neuen Komplexität. Dirk Baecker beschreibt es als oszillierendes Zusammenspiel von Zerfall und Wiederaufbau beziehungsweise Entropie und Negentropie: „Die Zeit der nächsten Gesellschaft ist nicht mehr die der ewigen Wiederkehr noch die eines sich erfüllenden Schicksals oder gar des Fortschritts. Stattdessen handelt es sich um eine Zeit des Zerfalls, der Entropie, als Voraussetzung des Aufbaus einer vorübergehenden Ordnung, einer Negentropie“ (Baecker 2018a, 76).
Beides, Entropie und Negentropie, bedingt einander: Der Zerfall ist die Voraussetzung für den Wiederaufbau – weil er die Form ist, die verschiedenste Zeitlichkeiten zumindest momentweise synchronisieren kann. Genau darin liegt der evolutionäre Geschwindigkeitsvorteil der elektronischen Medien, die unser Sozialverhalten unweigerlich begleiten und beeinflussen. Sie können „an jeder Schnittstelle genau die Zerfallsfrequenzen anbieten, die Körper, Gehirn, Interaktion unterschiedlich attrahieren und für den Moment binden“ (ebd., 84). Das Resultat dieser Verknüpfung des Heterogenen und nur kontextuell Zugehörigen ist eine umfassende Dynamisierung und Flexibilisierung der gesellschaftlichen Grundstrukturen – eine unkontrollierbare, „unordentliche“ Gesellschaft.
Sinnüberschuss: Die unordentliche Gesellschaft
Die nächste Gesellschaft ersetzt das Strukturprinzip der klar separierten Funktionssysteme, das die moderne Gesellschaft dominiert hat, durch das neue Paradigma des Netzwerks. An die Stelle der funktionalen Rationalität und der Vernunft, die noch die moderne Gesellschaft mit ihren klar abgrenzbaren Subsystemen dominierten, tritt die neue Strukturform des Netzwerks. Es ist gekennzeichnet durch die hybride Kopplung heterogener Elemente, hat keine spezifischen Grenzen, ist jederzeit irritierbar und verknüpfbar. Heterogene Varianzen lösen die moderne Dynamik ab.
In diesem Sinne funktioniert die digitale Transformation rekursiv und nicht-trivial: Indem sie ständig neue Voraussetzungen für Anschlusskommunikationen schafft, die wiederum neue Voraussetzungen für weitere Anschlusskommunikationen schaffen, wird die soziale Realität gewissermaßen „verflüssigt“ (vgl. Bauman 2000). Damit endet gleichsam die Ära des Atoms, das als Leitmotiv für einen „autoritären“ Individualismus stand: nach innen hierarchisch strukturiert, nach außen in Relationen zu anderen Elementen, aber dennoch solitär. Die Metapher für das 21. Jahrhundert ist dagegen das dynamische Netz, das Prinzip der Interdependenz der Gleichen. Es geht um die kooperative Wechselseitigkeit von Strukturen und Individuen, die sich gegenseitig brauchen und bedingen, um das Gesetz der strukturellen Äquivalenz. Eben deshalb unterscheidet sich die nächste Gesellschaft von der modernen Gesellschaft „wie die Elektrizität von der Mechanik“ (Baecker 2018a, 14).
Je mehr das alte Prinzip der Verbreitung, das die Ära des Buchdrucks prägte, abgelöst wird vom neuen Prinzip der computerisierten Resonanzen, umso mehr wird auch das individualistische Selbstbild der Moderne obsolet. Immer weniger geht es um die individuellen Motive individueller Handlungen – und immer mehr um Singularitäten und Aktivitäten, die einander bedingen und rekrutieren. Auch Identitäten können in der Netzwerkgesellschaft nur noch in Abhängigkeit von anderen Netzwerkelementen bestimmt werden.
Um tiefer zu verstehen, wie diese nächste Gesellschaft alte Strukturen flexibilisiert und verabschiedet, hilft ein Blick auf die Historie der Gesellschaft. Wie bereits in der Einleitung umrissen (siehe S. 14ff.), lässt sich die Evolution der Gesellschaft in vier Epochen unterteilen (tribale Gesellschaft, antike Gesellschaft, moderne Gesellschaft, Netzwerkgesellschaft), die ihrerseits mit vier dominanten Verbreitungsmedien verbunden sind (Sprache, Schrift, Buchdruck, Computer). Neue Verbreitungsmedien prägen aber nicht nur die Art, wie Inhalte verbreitet werden, sondern auch die Basisstruktur der Kommunikation, die Grundlage jeder Gesellschaft. Wird die Kommunikation komplexer, weil auf einmal mit Büchern neue Ideen verbreitet werden können oder weil über das Internet unmittelbare Vernetzung im großen Stil stattfinden kann, entstehen neue Gesellschaftsformen.
Jedes Verbreitungsmedium produziert dabei einen kommunikativen „Sinnüberschuss“: Es bewirkt, dass in jeder einzelnen Kommunikation der Gedanke daran mitläuft, was auch woanders und früher oder später gesprochen, geschrieben, gedruckt und errechnet werden kann. Dieser neue Sinnüberschuss überfordert bisherige Gesellschaftsstrukturen. Er bedeutet eine „Katastrophe im mathematischen Sinne“ und löst einen „Attraktorzustandswechsel“ aus (Baecker 2007, 153): Alles organisiert sich neu.
Keine dieser medialen Neoorganisationen geht ohne Wachstumsschmerzen vonstatten. Das gilt auch für die „Katastrophe“, die der Siegeszug der vernetzten Medien mit seiner neuen Dimension des Sinnüberschusses erzeugt. Die bisherigen Sinnüberschüsse – der Referenzüberschuss der Sprache (Verweise auf Abwesendes), der Symbolüberschuss der Schrift (Verweise auf Vergangenheit und Zukunft) und der Kritiküberschuss des Buchdrucks (Verweise auf jederzeit mögliche andere Perspektiven) – werden nun überlagert und ergänzt durch den neuen Kontrollüberschuss des Computers. Die „undurchschaubaren“ Maschinen, die zunehmend an Kommunikation beteiligt sind, beschleunigen die Organisation von Komplexität und erhöhen die Unbeständigkeit.
Konkret heißt das: Immer häufiger müssen wir uns auf maschinell prozessierte Kommunikation verlassen, ohne den Informationsgehalt hinterfragen zu können, zunehmend müssen wir Informationen annehmen und Entscheidungen treffen, ohne die Quelle und Qualität der Daten überprüfen zu können. Das betrifft alle Akteure der Gesellschaft, von Unternehmen, die über Big-Data-Auswertungen rätseln, bis zu Singles, die sich über Dating-Algorithmen kennen lernen. Die Möglichkeiten, vernetzt zu kommunizieren, explodieren förmlich – und verbreiten ein Gefühl des kollektiven Kontrollverlusts.
Die Netzwerkgesellschaft ist undurchschaubarer und unberechenbarer als vorige Gesellschaftsformen. Ihr Weltmodell ist organisch und ökologisch gestaltet: komplex vernetzt und verwoben – und damit radikal unterschieden von den modernen Vorstellungen der Eindeutigkeit, Balancierbarkeit und Steuerbarkeit, die noch die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts prägten. Insgesamt bewirkt die Digitalisierung damit einen Wandel von Berechenbarkeit und Steuerbarkeit zu Unberechenbarkeit und Unvorhersehbarkeit. Der Krisenmodus wird gleichsam zum Normalzustand: „Solange man nicht weiß, wie es weitergeht, vergewissert man sich eines Stands der Dinge, auf den kein Verlass ist“ (Baecker 2018a, 86).
Eben dies macht Kontingenz zu einer elementaren Erfahrung der nächsten Gesellschaft: Im Zuge der Vernetzung gewinnt das Prinzip der Kontingenz eine neuartige, strukturell prägende Dominanz. Denn in Netzwerken geht es nicht mehr, wie in Funktionssystemen, um die Inklusion aller Personen, sondern eher im Gegenteil: Die beteiligten Elemente werden austauschbar. Alle Akteure der Gesellschaft müssen sich deshalb auf das Prinzip der strukturellen Äquivalenz einstellen, um anschlussfähig und kalkulierbar zu bleiben.
Intransparenz: Lost in Transformation
In seinem letzten Buch „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ beschrieb Niklas Luhmann bereits 1997, wie die Computerisierung die Teilnahme an Kommunikation leichter denn je macht – und zugleich kontingenter denn je, weil kaum noch kontrollierbar ist, wer unter welchen Bedingungen mit welchen Botschaften erreicht werden kann. Die Information wird gleichsam von der Quelle gelöst und erhält einen Eigensinn, der weniger von Sendungs- als von Nutzungsabsichten bestimmt ist. Deshalb geht es in der Netzwerkgesellschaft zunehmend um die immer schwieriger zu beantwortende Frage, welche Akteure eigentlich wie und wo kommunizieren und rezipieren.
Aus systemtheoretischer Sicht bedeutet „Digitalisierung“ daher vor allem: Die Gesellschaft wird intransparent und kontingent – undurchschaubar und unberechenbar. Menschen können die algorithmischen Prozesse und Effekte der Computer von außen nicht einsehen oder verstehen, und diese Intransparenz prägt mit fortschreitender Vernetzung auch zunehmend die soziale Kommunikation.
Luhmann verdeutlichte diese Intransparenz am Beispiel des Computer-Bildschirms: Das Display bildet eine Oberfläche, die mit der undurchschaubaren Tiefe der „unsichtbaren Maschine“ (Luhmann 1997, 304) konfrontiert. Denn an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine werden Operationen ausgeführt, die keine eindeutigen oder kausalen Beziehungen zwischen Ein- und Ausgabe zulassen. Diese Unterbrechung von Eindeutigkeit oder Kausalität kennen wir bislang nur aus sozialen Situationen, etwa im Bereich der Kunst. Und, in vorhumanistischen Zeiten: aus Magie und Religion. In beiden Fällen geht es um zeichenhafte Oberflächen, die auf verschlossene Tiefen verweisen.
Die Analogie zu Kunst und Religion macht zugleich verständlich, weshalb wir – positiv wie negativ – fasziniert sind von Prozessen der Automatisierung, warum die Nutzung von Social Media zu Suchteffekten führen kann und weshalb wir nichttrivial reagierenden Maschinen eine „Intelligenz“ zuschreiben. Zwar weist die intransparente Maschinenkommunikation noch lange nicht jene Merkmale auf, die menschliche Intelligenz kennzeichnen, aber sie wirkt „intelligent“. Aus diesem Grund beschreiben wir „smarte“ Maschinen mit Attributen wie „undurchschaubar“ oder „idiosynkratisch“, die zuvor nur Individuen zugeschrieben wurden. Im Gegenzug zelebriert der Mensch seine individuelle Autonomie umso intensiver, mit Hinweisen auf die menschliche Körperlichkeit, Verletzlichkeit und Irrationalität, mit einer Wertschätzung des Spontanen, Emotionalen und Unprogrammierbaren.
In der Netzwerkgesellschaft werden Unvereinbarkeiten und Unreduzierbarkeiten daher nicht nur akzeptiert, sondern sogar gepflegt – mit folgenreichen sozialen und psychischen Verwerfungen. Es herrscht ein „gesellschaftliches Durcheinander“, in dem „kaum jemand weiß, woran er ist“ (vgl. Baecker 2015c, 6). Diese Beobachtungen machen auch deutlich, dass die „Digitalisierung“ kein primär technologisches Phänomen ist, sondern vor allem ein sozialer und kultureller Wandlungsprozess, der neben den technischen auch die soziokulturellen Implikationen digitaler Konnektivität umfasst (vgl. Zukunftsinstitut 2016b, 2018a).
Die schwer – und mitunter auch: gar nicht – kontrollierbare maschinelle Kommunikation beeinflusst die Anschlussfähigkeit der sozialen Kommunikation, mit weitreichenden lebensweltlichen Konsequenzen. Denn auf diese Umstellung ist unsere Gesellschaft nur unzureichend vorbereitet. Die bisherigen strukturellen und kulturellen Gesellschaftsformen sind schlicht nicht geeignet, um diese „entfesselte“ Kommunikation zu verarbeiten. Die entscheidende Frage lautet deshalb: Wie gelingt es der Gesellschaft, diesen medial produzierten Kommunikations-Overflow strukturell und kulturell zu kontrollieren? Welche neuen kulturellen Muster sind dem Umgang mit Intransparenz angemessen?
Niklas Luhmann hielt es für wahrscheinlich, „dass die Beschleunigung der Kontrolloperationen dasjenige Moment sein wird, auf das die Kultur reagieren muss – und dies dann wohl mit einem Verzicht auf eine Positivwertung zeitlicher Beständigkeit“ (Luhmann 1997, 412). Genau das beschreibt der neue Fokus auf Komplexität und Kontingenz in der vernetzten Gesellschaft: Jede digitale oder digitalisierbare Kommunikation umfasst Ungleichartiges und Widersprüchliches – und erhält genau darin einen Sinn, der sich gewissermaßen selbst absichert. Die Kulturform, die es der vernetzten Gesellschaft ermöglicht, den digital produzierten Überschusssinn zu kompensieren, ist deshalb der Modus der Komplexität (siehe III. Reflexion, S. 79).
Eine – wenn nicht die – zentrale Herausforderung für Individuen und Organisationen, aber auch für die gesamte Gesellschaft, lautet deshalb: Lerne, mit diesem Komplexitätsaufkommen umzugehen. Lerne, die vernetzte Komplexität adäquat und zukunftsweisend zu verstehen und zu kontrollieren. Das ist umso schwieriger, als dass dies nicht mehr, wie noch in Vor-Internet-Zeiten, bedeutet, Komplexität möglichst stark zu reduzieren. Im Gegenteil: Heute und künftig gilt es, Komplexität zuzulassen und aufzubauen – weil sie erst dann intelligent kontrolliert werden kann.
Die Grundvoraussetzung dafür ist ein umfassendes, systemisches Verständnis von Komplexität und Kultur – und damit auch Technologie. Denn der Kontrollverlust in der nächsten Gesellschaft korreliert direkt mit dem Kontrollgewinn neuer Technologien.
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