Kitabı oku: «Systemtheorie», sayfa 2

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2. Das Wunderland der Selbstreferenz

Der Eintritt ins Reich der Systemtheorie gleicht einem Eintritt in eine andere Dimension: Man betritt eine Art spiegelverkehrte Welt, ein Universum voller Paradoxien und Widersprüche. Das erfordert – und erzeugt – eine neue, andersartige Sicht der Dinge.

»Explosivstoff Selbstreferenz«

Um sich im Labyrinth der Systemtheorie zurechtfinden zu können, gilt es zunächst einmal vieles hinter sich zu lassen, was einem der Alltagsverstand antrainiert hat. Es ist ein bisschen so wie am Eingang zum Magischen Theater in Hesses »Steppenwolf«, an dessen Pforte der Hinweis prangt: »Eintritt kostet den Verstand.«

Vorsicht, explosiv!

»Die Systemtheorie (hat) den Explosivstoff Selbstreferenz in sich aufgenommen und (reicht) ihn als Kern des Systembegriffs an die Wissen-schaftstheorie weiter.«

(Luhmann, »Soziale Systeme«, 656)

Zum Glück kostet das Kennenlernen der Systemtheorie lediglich Konventionen – und schickt den Verstand zugleich auf ungeahnte Höhenflüge. Wer Angst hat vor intellektueller Überforderung und einem hochkomplexen Begriffssystem, sollte lieber draußen bleiben. Wem es aber gelingt, seinen alltäglichen Beobachtungsballast über Bord zu werfen und den Kopf frei zu machen für eine anfangs wenig Vertrauen erweckende Sichtweise, der kann sich faszinieren lassen von einer multifunktionalen Begriffskombinatorik und überraschenden, gestochen scharfen Beobachtungsmöglichkeiten. Es heißt also Abschied nehmen von vielem, was bislang im Bereich soziologischer Theorie stattfand, und sich einlassen auf einen neuartigen Zugang zu sozialen Phänomenen.

Das Zauberwort, das dieser systemtheoretischen Verbindung aus Fremdartigkeit und Faszination zu Grunde liegt, lautet »Selbstreferenz«. Das heißt zunächst nichts weiter, als dass es in Luhmanns Theorie um Systeme geht, die sich in all ihren Aktionen und Reaktionen selbst beschreiben. Das selbstbezügliche Grundmuster systemtheoretischen Denkens folgt aus dem anfangs schon erwähnten allumfassenden Anspruch der Theorie: Will sie alles Soziale in den Blick bekommen, muss sie zwangsläufig selbst Bestandteil der von ihr beobachteten Gesellschaft sein. Deshalb legt sie, anders als die meisten anderen Theorien, ihre eigenen Grundlagen, ihre eigene Perspektive offen.

Dieser offene Verweis auf das Sich-selbst-Miteinbeziehen führt schnell in zirkuläre Abgründe. Das veranschaulichen schon selbstreferenzielle Sätze wie »Dieser Satz ist nicht. Vollständig.« oder ».nesel os nhi nam edrüw ,hcsiärbeH fua ztaS reseid eräW«: Aussage und Form spiegeln sich wechselseitig, sodass ein geschlossener Verweisungszirkel entsteht. Noch deutlicher wird die Vertracktheit solcher Selbst-inklusionen im Falle von Paradoxien. Paradoxe Aussagen wie »Dieser Satz ist nicht selbstreferenziell« führen in die Unentscheidbarkeit: Sie enthalten zwei Werte, von denen jeder auf den anderen zurückverweist. Das Resultat ist ein unendliches Oszillieren zwischen den beiden Werten.

Paradoxie macht Sinn

»Auch ein Widerspruch, auch eine Paradoxie hat Sinn. Nur so ist Logik überhaupt möglich. Man würde sonst beim ersten besten Widerspruch in ein Sinnloch fallen und darin verschwinden.«

(Luhmann, »Soziale Systeme«, 138)

Dementsprechend eröffnet auch ein selbstreferenzielles Theorie-design paradoxale Teufelskreise: Die Systemtheorie liefert eine Beschreibung des Systems im System, eine sich selbst mitbeschreibende Beschreibung. Anders, sprich weniger komplex und paradoxal, kann sich eine universalistische Perspektive heute nicht mehr legitimieren. Daher kann die Luhmann-Lektüre mitunter einen ähnlichen Effekt auslösen wie das Betrachten eines Vexierbildes: Die Beobachtung flimmert hin und her, pendelt zwischen den Unterscheidungen.

Man kann dieses selbstreferenzielle Flimmern zelebrieren, indem man es immer weiter und weiter verfolgt. Das ist die Methode der Dekonstruktion (mehr zum Vergleich von Systemtheorie und Dekonstruktion im Kapitel »Kontrahenten und Verbündete«). Luhmann dagegen sucht zwar die Paradoxien – löst sie aber zugleich wieder auf: Er entfaltet sie, um Selbstblockaden zu vermeiden und seine Theorie ins Rollen zu bringen. Denn um selbstreferenzielle Situationen und paradoxe Positionen produktiv nutzen zu können, außer sie bloß wahrzunehmen und als unendlichen Teufelskreis durchzuexerzieren, muss man sie handhabbar machen. Man muss sie entparadoxieren.

Wie funktioniert das? Die Systemtheorie wagt den entscheidenden Schritt nach vorn: Sie macht die grundlegende Paradoxie »unsichtbar«, indem sie sie in ihren Operationen entfaltet. Statt die Selbstreferenz ins Unendliche zu verfolgen, legt Luhmann los. Er zeigt, dass es keine Beobachtung ohne blinde Flecke geben kann. Und mehr noch: dass erst eine gewisse »Blindheit« Einsichten ermöglicht. Deshalb blendet Luhmann die Grundparadoxie aus und konzentriert sich auf die Operationen seiner Theorie. Die Frage lautet dann nicht mehr: Wie kann eine selbstreferenziell gebaute Theorie Universalität beanspruchen? Sondern: Welcher Mehrwert ergibt sich, wenn man diese Frage ausklammert und beobachtet, welche Resultate die Theorie hervorbringt?

Widerspruch erwünscht

»Wenn das soziale Leben selbst nicht logisch sauber arbeitet, lässt sich auch eine Theorie des Sozialen nicht logisch widerspruchsfrei formulieren.«

(Luhmann, »Soziale Systeme«, 491)

Betrachtet man also ein Liebespaar unter systemtheoretischer Lupe, geht es nicht darum, das »Wesen« der Liebe zu ergründen, sondern um die vielfältigen Erkenntnisse, die sich ergeben, wenn man das soziale System der Intimität mit Luhmanns Handwerkszeug erkundet. Der große Vorteil dabei ist: Die Einsichten, die dann über das »symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium« der Liebe oder über den »symbiotischen Mechanismus« der Sexualität ans Tageslicht kommen, sind so fundiert, dass sie allgemeingültig sind – obwohl und weil sie ihre eigene Relativität ständig miteinbeziehen.

Mit dieser bewussten »Funktionalisierung« des Paradoxieproblems macht sich die Systemtheorie selbst anschlussfähig. Zwar trägt sie sich quasi münchhausenmäßig am Schopfe ihrer eigenen Terminologie, doch sie ist sich dieser Paradoxie bewusst – und stützt sich dabei zugleich auf zahlreiche Erkenntnisse wissenschaftlicher Nachbardisziplinen. Dieses Verständnis von Paradoxierung und Entparadoxierung liefert den eigentlichen Schlüssel zu Luhmanns Theoriegebäude.

Ein selbstreferenzieller Ausgangspunkt und die »Letztfundierung« in einer Paradoxie sind generelle Merkmale eines postmodernen Denkens. Daher lassen sich zahlreiche Paradoxie-Parallelen zu anderen selbstreferenziell strukturierten Wissenschaftstrends aufzeigen, von Chaostheorie und fraktaler Geometrie bis zu virtuellen Realitäten. Stets handelt es sich um Beschreibungen, die in Bereichen selbsterzeugter Unbestimmtheiten stattfinden. Weniger widersprüchlich ist echte Erkenntnis heute nicht mehr möglich. Und nur von dieser Basis aus ist die systemtheoretische Grundfrage zu klären: Wie ist soziale Ordnung möglich?

Aller Anfang ist Differenz

Der doppelte Theorieboden der Systemtheorie, das gleichzeitige Offenlegen und Entfalten der Grundparadoxie, ermöglicht Beobachtungen, die weder in selbstreferenziellen Zirkeln noch in ontologischen Weltbildern hängen bleiben – und die Resultate hervorbringen, die zugleich konstruktiv und realistisch sind. Wenn Luhmann also von selbstreferenziellen Systemen spricht, ist das zwar eine Aussage über die »Realität« von Systemen, aber es ist zugleich eine Aussage eines beobachtenden Systems. Eine Aussage, mit der sich die Theorie sozialer Systeme selbst ins Rollen bringt.

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»Die Letztfundierung in einem Paradox gilt als eines der zentralen Merkmale postmodernen Denkens. Die Paradoxie ist die Orthodoxie unserer Zeit.«

(Luhmann, »Die Gesellschaft der Gesellschaft«, 1144)

Dass die Systemtheorie mit der erkenntnistheoretischen Tradition der Philosophie wenig am Hut hat, dürfte inzwischen klar geworden sein. Im Gegenteil verlagert Luhmann den Erkenntnisstandpunkt vom Subjekt zurück in die beobachtete Realität und macht so die Theorie zum Bestandteil ihrer eigenen Gegenstände. Erst so kann die Systemtheorie ihre Flughöhe erreichen und ihr Auflösungsvermögen, ihre Abstraktions- und Differenzierungspotenziale entfalten.

Deshalb kristallisiert sich Luhmanns Denken auch um die Konstruktion eines eigenen Begriffssystems und nicht etwa um die Auseinandersetzung mit Fachtraditionen. Vom »Wiederaufwärmen und Immer-wieder-Abnagen der Knochen der Klassiker« (Auw, 28) hielt er wenig. Eine Art geistige Verwandtschaft besteht dagegen, wie erwähnt, mit dem spielerisch-anarchischen Denken Nietzsches und dem dialektischen Duktus Hegels. Mit Letzterem verbindet Luhmann auch in Sachen Theorie-Dimensionen einiges, und nicht umsonst hieß der Hegel-Preisträger 1988 Niklas Luhmann. Anders als Hegel aber zielt Luhmann, trotz des gemeinsamen Hangs zum Widersprüchlichen und einer ähnlich selbstreferenziellen Theorieanlage, nicht auf Einheit, sondern auf Differenz. Wo Hegel in Subjekt und Weltgeist die Einheit von Identität und Differenz sieht, setzt Luhmann auf die selbstreferenzielle Differenz zwischen Identität und Differenz: »Am Anfang steht also nicht Identität, sondern Differenz.« (SoSy, 112)

Sucht man in der Soziologie nach historischen Vorläufern Luhmanns, stößt man auf Emile Durkheim (1858-1917). Im Gegensatz zur klassischen verstehenden Soziologie Max Webers fragte Durkheim nicht nach den individuellen Erscheinungen, sondern nach den sozialen Wechselbeziehungen, die ihnen zu Grunde liegen. Dieser holistische, aufs Ganze zielende Ansatz entspricht der Systemtheorie, die ebenfalls das Verhalten des Einzelnen aus dem Zusammenhang sozialer Systeme schließt.

Umweltfreundlich

»Jedes selbstreferenzielle System hat nur den Umweltkontakt, den es sich selbst ermöglicht, und keine Umwelt ‚an sich‘.«

(Luhmann, »Soziale Systeme«, 146)

Eine wesentlich direktere Verwandtschaft besteht zu der Systemtheorie von Talcott Parsons (1902-1979). Parsons setzte voll und ganz auf die Strukturen sozialer Systeme: Seine »strukturell-funktionalistische« Systemtheorie untersuchte zunächst die Struktur eines Systems, um dann die Funktionen zu bestimmen, mit denen sie erhalten werden soll. Die Funktion stand bei Parsons ganz im Dienste der Bestandssicherung des Systems.

Im Rahmen einer Fortbildung lernte Niklas Luhmann 1960/61, damals noch Verwaltungsbeamter, Talcott Parsons und dessen Theorie kennen. Und er entdeckte gravierende Defizite: »Ich hatte die Vorstellung, dass Funktion nicht von Strukturen abhängig, sondern ein auswechselbarer Gesichtspunkt ist.« (Auw, 133) Diese »funktionale Äquivalenz« spielt in Luhmanns Theorie eine wichtige Rolle und begünstigte auch die zahlreichen interdisziplinären Schnittstellen. Ausgehend von der Differenz zu Parsons‘ Systemtheorie vollzog Luhmann seit den 1970er-Jahren einen grundlegenden Wandel in der Systemtheorie: die Umstellung auf das neue Paradigma der selbstreferenziell-geschlossenen, umweltoffenen Systeme.

Mit Luhmanns Theorie ist die vorerst letzte Stufe in der Evolution der Allgemeinen Systemtheorie erreicht. Begonnen hatte sie mit der Unterscheidung Teil/Ganzes, auf die sich noch Emile Durkheim berief: Ein System wurde als geschlossene Ganzheit betrachtet, die aus mehreren Teilen zusammengesetzt ist. Es folgte die Unterscheidung System/Umwelt, maßgeblich ins Leben gerufen von dem Wiener Zoologen Ludwig von Bertalanffy (1901-1972), die Talcott Parsons dann strukturfunktionalistisch auslegte.

Luhmann schließlich setzt auf das Primat von Funktion und Selbstreferenz, mit dem Ziel einer fachuniversalen Theorie, die den gesamten Gegenstandsbereich der Soziologie systemtheoretisch beschreibt – und doch hochgradig selbstreferenziell strukturiert ist.

3. Systemtheorie: Grundriss des Labyrinths

Bislang haben wir die Peripherie der Systemtheorie erkundet, nun sollen die vielschichtigen Verzweigungen des Luhmannschen Differenzdenkens sichtbar gemacht werden. Es gilt, einen Weg durch das labyrinthische System der Systemtheorie zu bahnen und seine wichtigsten Schneisen und Kreuzungen zu kartografieren.

Soziale Systeme: »Inseln geringerer Komplexität«

Luhmanns universalistischer Ansatz macht es möglich, dass alle Aus-sagen über »Systeme im Allgemeinen« auch auf Maschinensysteme, organische Systeme, soziale und psychische Systeme zutreffen – ohne dass dabei die Differenzen zwischen den Systemarten verwischen. So operieren etwa soziale und psychische Systeme mit dem Medium Sinn, Maschinen und Organismen dagegen nicht.

In kritischer Anknüpfung an Parsons‘ strukturell-funktionalistische Systemtheorie stellt Luhmann dafür die Begriffe Struktur und Funktion um: Seine »funktional-strukturelle« Systemtheorie konzentriert sich nicht mehr auf Kausalzusammenhänge von Ursache und Wirkung, sondern auf funktionale Analysen, auf Problemlösungen und Probleme. Die Frage lautet also nicht mehr, wie noch bei Parsons: Wie kann die Bestandserhaltung von Systemen gesichert werden? Sondern: Welche Funktionen erfüllen bestimmte Systemleistungen, und durch welche gleichwertigen Funktionen können sie ersetzt werden? Dieser »Äquivalenzfunktionalismus«, der Vergleich von alternativen Lösungen eines Ausgangsproblems, verändert die Perspektive und eröffnet überraschende Einsichten.

Steiniger Weg

»Die Theorieanlage gleicht also eher einem Labyrinth als einer Schnellstraße zum frohen Ende.«

(Luhmann, »Soziale Systeme«, 14)

In diesem Kapitel soll es darum gehen, den Aufbau der Systemtheorie selbst zu durchleuchten, und das beginnt beim obersten Bezugspunkt systemtheoretischen Denkens: Komplexität. Oder genauer: Weltkomplexität. Was bedeutet Komplexität? Ganz grundsätzlich ist etwas dann komplex, wenn es mehr als zwei Zustände annehmen kann. Schon das Kochen eines Eis ist damit eine ziemlich komplexe Sache. Die absolute Obergrenze ist die Komplexität der Welt: Alles, was möglich ist, ist nur möglich in der Welt. Ein »Außerhalb« der Welt gibt es nicht: Die Welt kann nicht überschritten werden, sie hat keine Um-Welt, gegen die sie sich abgrenzt.

Soziale Systeme übernehmen nun die Funktion, die unbestimmbare Komplexität der Welt »behandelbar« zu machen, und zwar durch Reduktion von Komplexität. Soziale Systeme, das ist einer der springenden Punkte der Systemtheorie, reduzieren Komplexität, indem sie zwischen der unbestimmten Weltkomplexität und der menschlichen Möglichkeit zur Komplexitätsverarbeitung vermitteln.

In Ordnung?

»Alle erkennbare Ordnung beruht auf Komplexität, die sichtbar werden lässt, dass auch anderes möglich wäre.«

(Luhmann, »Die Gesellschaft der Gesellschaft«, 137)

Zentral für den Systembegriff ist dabei die Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen System und Umwelt. Man könnte auch sagen, der Systembegriff ist identisch mit dieser Grenze, schließlich kann ein System immer nur ein System im Unterschied zu seiner Umwelt sein, die wiederum erst durch das System selbst definiert wird. Systeme reduzieren also nicht nur die Komplexität der Welt, sondern »erschaffen« sie auch. Denn komplex ist die Welt ja nicht an sich, sondern nur aus der Perspektive von Systemen, die diese Komplexität wahrnehmen und reduzieren wollen.

Diese »Portionierung« der Weltkomplexität gelingt sozialen Systemen, indem sie Möglichkeiten ausschließen: Im System können nicht alle möglichen Ereignisse oder Zustände auftreten. Im Gegenteil: Das meiste wird ausgeschlossen. Deshalb bilden soziale Systeme nach Luhmann »Inseln geringerer Komplexität« (»Soziologische Aufklärung I«, 116) im diffus-komplexen Weltmeer. An der Grenze zwischen System und Umwelt herrscht also ein Komplexitätsgefälle: Die Umwelt ist stets komplexer als das System, und das System ist stets »geordneter« als seine Umwelt.

Im Falle sozialer Systeme bewahrt dieser Ausschluss von Möglichkeiten alle Beteiligten im Alltag vor bösen Überraschungen. So wird es in einem Deep-House-Club kaum passieren, dass der DJ plötzlich Alternative Rock spielt; ebenso unwahrscheinlich ist es, dass eine Supermarktkassiererin plötzlich zu feilschen beginnt, oder dass in einer Vorlesung über Luhmanns Systemtheorie nur noch Kritische Theorie gelehrt wird. Soziale Systeme schaffen Erwartungsstrukturen, die Komplexität kanalisieren. Wie das en détail passiert, wird im folgenden Kapitel beschrieben.

Um Komplexität reduzieren zu können, müssen Systeme zunächst einmal selbst über Komplexität verfügen. Erst ein gewisses Maß an Eigenkomplexität erlaubt es ihnen, auf Veränderungen in ihrer Umwelt zu reagieren und den eigenen Fortbestand dynamisch zu sichern. Je komplexer das System, desto mehr Reaktionsmöglichkeiten hat es. Hier zeigt sich erneut der selbstreferenzielle Bau der Systemtheorie: Erst ihr komplexes Design macht es ihr möglich, Weltkomplexität zu beobachten und zu reduzieren.

Interaktion, Organisation, Gesellschaft: Artenvielfalt sozialer Systeme

Gemäß der »Unsichtbarmachung« der Ausgangsparadoxie klammert die Systemtheorie die Frage nach einem Ursprung sozialer Systeme aus. Woraus soziale Systeme dagegen bestehen, lässt sich genau sagen: aus Kommunikationen. Hier setzt sich Luhmann von der gesamten philosophischen und soziologischen Tradition ab, die stets Menschen als kleinste Einheiten des Sozialen sah. Luhmann dagegen beschreibt soziale Systeme als Kommunikationssysteme: Die einzelnen Elemente sind Kommunikationen, die fortwährend aneinander anschließen und damit das System am Laufen halten.

Luhmann unterscheidet drei Grundtypen sozialer Systeme: Interaktionssysteme, Organisationssysteme und Gesellschaftssysteme. Am einfachsten lassen sich Interaktionssysteme charakterisieren. Sie entstehen immer dann, wenn sich Personen gegenseitig wahrnehmen. Ob bei einem Bewerbungsgespräch oder im Wartezimmer einer Arztpraxis – Interaktionssysteme bilden sich, sobald wechselseitige Wahrnehmung herrscht. Wird sie beendet, etwa wenn die Beteiligten den Raum verlassen, hört auch das System auf zu existieren.

Organisationssysteme dagegen sind gekennzeichnet durch eine Mitgliedschaft, die an bestimmte Bedingungen geknüpft ist. So wird man erst dann Angestellter eines Unternehmens, wenn man einen Arbeitsvertrag unterzeichnet hat, der bestimmte Verpflichtungen beinhaltet. Solche Mitgliedschaftsregeln erlauben es Organisationen, ungeheure Mengen von Interaktionen aufeinander abzustimmen und damit Abläufe wahrscheinlich zu machen, die in der Umwelt des Systems äußerst unwahrscheinlich sind. So wird es etwa wahrscheinlich, dass Angestellte pflichtgemäß zur Arbeit erscheinen, selbst wenn ihr organisches System sich im Zustand gesteigerter Müdigkeit befindet.

Aller Anfang ist erfunden

»Die Bestimmung eines Anfangs, eines Ursprungs, einer ‚Quelle‘ und eines (oder keines) ‚Davor‘ ist ein im System selbst gefertigter Mythos – oder die Erzählung eines anderen Beobachters.«

(Luhmann, »Die Gesellschaft der Gesellschaft«, 441)

Der dritte Typus sozialer Systeme, das Gesellschaftssystem, nimmt eine Sonderstellung ein. Es ist ein »System höherer Ordnung«, weil es alle Interaktions- und Organisationssysteme beinhaltet, ohne jedoch deren bloße Summe zu sein. Schließlich gibt es im Gesellschaftssystem eine Vielzahl von Kommunikationen, die weder in Interaktionssystemen noch in Organisationssystemen hervorgebracht werden. Die Gesellschaft ist die Gesamtheit aller Kommunikationen.

Andererseits ist »die« Gesellschaft zugleich ein Konstrukt: Sie gehorcht ja keinem »obersten Gebot«, keiner Über-Einheit, sondern ist vielmehr die Gesamtheit ihrer Beobachtungen. Das erklärt auch den tautologisch anmutenden Titel von Luhmanns Hauptwerk, »Die Gesellschaft der Gesellschaft«, in dem diese »Unsichtbarkeit« der Gesellschaft sichtbar gemacht wird: Über die Gesellschaft sprechen kann man nur in Form von Themen, nur über Verweise auf Bestimmtes, auf beobachtbare Handlungen – zum Beispiel die Veröffentlichung eines Buches über Niklas Luhmann und seine Theorie der Gesellschaft.

Autopoiesis: Systeme als Selbstversorger

Soziale Systeme bestehen aus Kommunikationen, die an Kommunikationen anschließen und weitere Kommunikationen provozieren. Dieses selbstreferenzielle Grundmuster hat Luhmann mit einem ebenso zentralen wie schillernden Begriff umschrieben: Autopoiesis.

Das Kunstwort »Autopoiesis«, eine Zusammensetzung aus den griechischen Begriffen autos (selbst) und poiesis (Schöpfung, Dichtung), wurde von dem chilenischen Biologen und Neurophysiologen Humberto R. Maturana geprägt. Die Grundlagen des Autopoiesis-Konzepts entwickelte Maturana bereits in den 1960er- und 1970er-Jahren zusammen mit seinem Kollegen Francisco J. Varela. Bei Luhmann ist der Begriff seit Anfang der 1980er-Jahre prägend, voll zur Geltung kam er 1984 in seinem erstem Hauptwerk »Soziale Systeme«, das die so genannte »autopoietische Wende« der Systemtheorie markiert.

Kommunikation mit System

»Unter sozialem System verstehe ich ganz allgemein ein System, dessen Operation Kommunikation ist, das also ständig Kommunikation durch Kommunikation ersetzt.«

(Luhmann, Interview in »Texte zur Kunst«, 1991)

Was ist Autopoiesis? Maturana und Varela bezeichnen damit eine Theorie alles Lebendigen, ein Organisationsprinzip, das für alle Lebewesen gilt. Alle lebenden Systeme – von der Amöbe bis zum Pottwal, vom Menschen bis zur Kakerlake – sind autopoietische Systeme: Sie erzeugen und erhalten sich selbst, indem sie die Komponenten, aus denen sie bestehen, selbst produzieren und herstellen. So erzeugt eine Zelle auf molekularer Ebene ständig die Bestandteile, die sie zur Aufrechterhaltung ihrer Organisation benötigt: Proteine, Nukleinsäuren, Lipide usw. Durch ihre Zellmembrane grenzt sie sich als operierende Einheit gegenüber ihrer Umwelt ab – fertig ist das autopoietische Minisystem »Zelle«.

Diese Geschlossenheit gegenüber der Umwelt ist, wie bereits erwähnt, ein zentrales Kennzeichen autopoietischer Systeme. Aufgrund ihrer Geschlossenheit beziehen sich autopoietische Systeme ausschließlich auf sich selbst, sie operieren gänzlich ohne In- und Output. Alles, was sie zur Erhaltung ihrer Organisation benötigen, produzieren sie selbst. Autopoietische Systeme sind Selbstversorger.

Zugleich sind autopoietische Systeme aber auch offene Systeme, denn sie haben ja Umweltkontakt und sind sogar hochgradig auf ihre Umwelt angewiesen. So gibt es einen regen Austausch von Energie und Materie zwischen Zelle und Umwelt. Das Entscheidende ist jedoch: Dieser Umweltkontakt wird eigenmächtig von der Zelle gesteuert. Das führt zu der paradoxen Erkenntnis, dass erst Geschlossenheit Offenheit ermöglicht. Autopoietische Systeme »handeln« nach eigener Maßgabe, leben aber in einem bestimmtem Milieu, von dem sie zugleich abhängig sind. Sie sind autonom, aber nicht autark.

Anschluss erwünscht

»Die Autopoiesis sozialer Systeme ist nichts weiter als dieser ständige Prozess des Reduzierens und Öffnens von Anschlussmöglichkeiten. Sie kann nur fortgesetzt werden, wenn sie in Gang ist.«

(Luhmann, »Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?«, 40)

Diese Selbstherstellung vollziehen autopoietische Systeme, indem sie sich selbstreferenzieller Techniken be-dienen – Selbstbeobachtung, Selbstbeschreibung, Selbst-vereinfachung. Bevor wir aber diese Begriffe näher betrachten, soll noch einmal festgehalten werden, dass Luhmann mit dem Import des neurobiologischen Autopoiesis-Konzepts die soziologische Theorie auf eine völlig neue Ebene hob: Es handelt sich um einen Paradigmenwechsel in der Systemtheorie. Eben deshalb ist »Soziale Systeme« auch Luhmanns erstes Werk, das er selbst nicht mehr zur »Nullserie der Theorieproduktion« (Auw, 142) zählte.

Selbstorganisation: Mit Strukturen auf Touren

Die Übertragung des Autopoiesis-Konzepts von organischen auf soziale Systeme – und, wie später noch ausführlicher gezeigt wird, auf psychische Systeme – wirft eine Vielzahl von Fragen auf. Eine entscheidende konnte bereits beantwortet werden, nämlich aus welchen Elementen soziale Systeme bestehen: aus Kommunikationen. Menschen kommen dabei allenfalls in der Umwelt sozialer Systeme vor, schließlich ist Kommunikation nicht das Produkt von Menschen, sondern von sozialen Systemen. Ohne Menschen, das heißt ohne psychische Systeme, wäre das zwar nicht möglich, dennoch gilt: Nur die Kommunikation kann kommunizieren.

Eine weitere Frage lautet: Wie vollzieht sich die Autopoiesis sozialer Systeme, wie kommen Kommunikationssysteme »auf Touren« und entwickeln sich weiter? Wie beschrieben, können Systeme ihre Umweltkomplexität erst dann reduzieren, wenn sie eine hinreichende Eigenkomplexität ausgebildet haben. Dies gelingt sozialen Systemen, indem sie die Ereignisse, aus denen sie bestehen, und die vom einen Moment zum nächsten wieder verschwinden, verknüpfen: Sie bilden Prozesse und Strukturen.

Strukturen reduzieren Komplexität, indem sie die Anschlussmöglichkeiten, die im System zugelassen sind, einschränken: Sie sorgen dafür, dass die Autopoiesis des Systems nicht durch beliebige, sondern nur durch bestimmte Elemente – im Fall sozialer Systeme: durch Kommunikationen – fortgesetzt werden kann. Einige Anschlusskommunikationen werden dann wahrscheinlicher, andere unwahrscheinlicher, wieder andere werden komplett ausgeschlossen. In diesem Sinne sind die Strukturen sozialer Systeme Erwartungsstrukturen: Sie treffen eine Art Vorauswahl und garantieren so die Anschlussfähigkeit von bestimmten Elementen.

Ähnliches leisten Prozesse, nur auf komplementäre Weise. Während Strukturen bestimmte Möglichkeiten ausschließen, wählen Prozesse passende Anschlussmöglichkeiten aus. Strukturen bilden sich über Exklusion, Prozesse über Inklusion. Eine besondere Rolle spielt dabei die Verzeitlichung der Elemente: Kommunikationen erscheinen als zeitlich fixierte Ereignisse, die Anschlussereignisse provozieren und damit die Autopoiesis des Systems am Laufen halten. So erzwingt das kommunikative Ereignis »Wie geht‘s?« ein kommunikatives Anschlussereignis, und sei es in der Form des demonstrativen Nichtanschließens oder Nichtantwortens. Aber: Selbst eine Allerweltskommunikation wie die Frage »Wie geht‘s?« hat nicht in jedem sozialen System gleiche Chancen auf Erfolg auf Anschlusskommunikation. Wenig wahrscheinlich wäre sie zum Beispiel im System der Massenmedien aus dem Mund einer »Tagesschau«-Sprecherin.

Die Autopoiesis sozialer Systeme führt also zu Prozessen und Strukturbildungen, die selbstorganisatorisch gesteuert werden. Der Begriff Selbstorganisation verdeutlicht, dass soziale Systeme ausschließlich nach ihrer jeweiligen Eigenlogik auf Umweltveränderungen reagieren. So reagiert das Organisationssystem »Deutscher Fußball Bund« anders auf einen WM-Titelgewinn der deutschen Mannschaft als das Organisationssystem »Zeugen Jehovas« oder das Interaktionssystem Hooligan-Haufen. Aber, und damit ist bereits der nächste wichtige Trakt im Palast der Systemtheorie erreicht: Alle sozialen und alle psychischen Systeme operieren auf ihre Art »sinnvoll«.

Sinn-voll: Soziale und psychische Systeme

Autopoietische Systeme sind selbstreferenziell geschlossene Systeme. Wie aber kombinieren sie diese Geschlossenheit mit ihrer Umweltoffenheit? Indem sie Sinn verwenden. Diese Aussage mag auf den ersten Blick selbst wenig »Sinn« machen, andererseits ist dieser Sinn der Systeme auch kein Sinn im alltäglichen oder psychologischen Sinne. Im Systemtheorie-Vokabular bezeichnet Sinn die grundlegende Ordnungsform menschlichen Erlebens, nämlich die Bedeutung, die etwas für einen Beobachter hat.

Die Verwendung von Sinn ist eine Grundoperation der Systemtheorie. Alles Erleben und alles Handeln sozialer und psychischer Systeme erfolgt nach Sinnkriterien. Alle anderen Systemtypen, etwa Organismen oder Maschinen, können mit Sinn nichts anfangen. Für soziale und psychische Systeme hingegen ist Sinn der gemeinsame Nenner. Das bedeutet nicht, dass beide Systemformen sich überschneiden würden. Aber die gemeinsame Verwendung von Sinn ermöglicht eine Art gegenseitiger Durchdringung und macht beide Seiten besonders leistungsfähig (dieses symbiotische Phänomen der »strukturellen Kopplung« wird im Anschluss noch näher beschrieben).

Abstrakt lässt sich Sinn definieren als die Unterscheidung von Aktualität und Potenzialität, oder genauer: das Prozessieren von Informationen anhand der Differenz aktuell/potenziell. Der Letzthorizont allen Sinns ist dabei die Welt. Sie verhält sich zu Sinn wie die Umwelt zum System, als unbestimmter Begriff für alles Gegenüberstehende.

Soziale und psychische Systeme sind mit nichts anderem beschäftigt als mit dem fortlaufenden Neuarrangieren dieser Unterscheidung von Aktuellem und Möglichem. So hat ein Gespräch immer ein aktuelles Thema, das aus der Masse der Möglichkeiten ausgewählt ist, und das Wechseln, Ändern, Fokussieren der Themen folgt den jeweils durch Aktualisierung geöffneten Möglichkeitsspektren. Die Äußerung »Soziale Systeme operieren sinnvoll« eröffnet etwa einen Spielraum möglicher Anschlüsse wie »Was heißt denn überhaupt ‚sinnvoll’?« oder »Psychische Systeme aber auch!« Die jeweils nicht gewählten Anschlüsse bleiben als Möglichkeiten erhalten und können ihrerseits später aktualisiert werden.

System Sinn

»Die Selbstbeweglichkeit des Sinngeschehens ist Autopoiesis par excellence.«

(Luhmann, »Soziale Systeme«, 101)

Weil jede Auswahl aus dem Meer der Möglichkeiten eine weitere, anschließende Aktualisierung aus dem geöffneten Möglichkeitsspektrum nach sich zieht, ist das Medium Sinn insbesondere in zeitlicher Hinsicht von Bedeutung. Sinn prozessiert Kommunikationen und provoziert dabei wie in einer Dominokette aktuelle Ereignisse, die verschwinden und durch neue ersetzt werden müssen. Jede Kommunikation schließt an eine vorige an und zieht, als aktuelle Auswahl einer Möglichkeit, eine weitere Anschlusskommuni-kation nach sich, die ihrerseits eine Auswahl ist und einen neuen Möglichkeitsraum öffnet, aus dem wiederum ausgewählt wird. Die Tatsache, dass alles nur als aktuelle Auswahl einer Möglichkeit Sinn hat, macht Sinn zu einem Prozess, der sich, wie eine Bugwelle der Bedeutung, selbst nach vorne treibt.

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