Kitabı oku: «Der Traum von Heilung»
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Fragestellung, Untersuchungsgegenstand und theoretischer Ansatz
Quellen und Forschungsstand
Aufbau
Die gesunde Schweizer Alpenluft
Kathedralen der Erde
Reisen in die Alpen
Der Berg heilt
Der Aufstieg der Ärzte
Ärzte werden tonangebend
Die Tuberkulose und die Diätetik
Ärztemacht und die Verbreitung von Ärztewissen
Die Theorie des immunen Klimas
Hermann Brehmer verkündet Heilung
Alexander von Humboldt und die therapeutische Entdeckung der Höhe
Konkurrenz unter Kurorten
Eine Landschaft wird zum Sanatorium
Der Mann, der Davos erfand
Ein Zeitungsartikel bringt den Durchbruch
Davos als Kopie von Görbersdorf
Der Aufstieg von Davos
«Feinde ringsum»: Streit um die Höhenkur
Abschied vom immunen Klima
Die Liegekur und die Bazillen
Konfusion um den Erreger
Frische Luft: Bakteriologischer Support für die Höhenkur
Bazillenfurcht und hygienische Sanatorien
Der Tuberkulose-Tyrann von Davos und das erste Sanatorium
Arosa, Leysin, St.Moritz – und der Uetliberg
Robert Kochs Fehlschlag als Glücksfall für die Höhenkur
Sanatorium, Exzess, Tod – die Höhenkur um 1912
«Davos, ein Schwindel?» – Geschäftemacherei mit der Familie Mann
Volksseuche, Volkssanatorien, Höhenklima
Der schädliche Exzess und die totale Institution
Privatsanatorien, Libido, Toxine
Kritik, Chirurgie, Tod
Mieschers Traum
Friedrich Miescher und die Höhenphysiologie
Pathologien der Höhe
Mieschers Physiologie der Heilung
Zweifel an Mieschers Theorie
Die Verteidigung der «Blutrevolution»
Mieschers Traum wird wahr
Ein Forschungsinstitut für die Höhenkur
Adolf Loewys Ruf nach Davos
Ein Forschungsinstitut als «sicher wirkende Reklame»
Physiologische Erkundigungen in Teneriffa
Streit über die Zahl der Blutkörperchen
Emil Abderhalden, Joseph Barcroft und die Entfernung der Milz
Eine leise Enttäuschung
Der zerstörte Mythos
Bioklimatologie – Licht und Luft des Hochgebirges
Die Klimatologische Tagung von Davos und Carl Dorno
Das Mädchen, der Tod und der Glücksfall für Davos
Dornos «Studie über Licht und Luft des Hochgebirges»
Davoser Klimatologie vor Dorno: Carl Wetzel und Hugo Bach
Pioniere der Lichttherapie: Finsen, Bernhard, Rollier
Schicksalsschläge und das Lob der UV-Strahlen
Die Abkühlungsgrösse und «das gesündeste aller Klimata der Erde»
Wissenschaft, populäre Schriften und Propaganda
Dornos Tod
Die unendliche Suche nach dem Heilfaktor
Exkurs: Die Nazis und das Höhenklima
Der Herbst der Höhenkur – im Sanatorium um 1946
Heilung durch Streptomycin und ein Verrat
Das Unbehagen der Sanatoriumsärzte
Die ungebrochene Liebe zum Messer
Der Abstieg vom Zauberberg
Schluss: Behandlung ohne Heilung
Epilog: «Der allererste Fall»
Anhang
Quellen- und Literaturverzeichnis
Bildnachweis
Anmerkungen
Vorwort
Der Mythos der Höhenkur ist bis heute lebendig, und die Alpenluft wird noch immer als heilsam beschrieben. Was vor über 150 Jahren mit der Behandlung von lungenkranken Patientinnen und Patienten im Höhenklima begann, soll heute als sogenannter medical tourism reiche Früchte tragen und gesundheitssuchende Touristen in Schweizer Ferienorte führen. Die Faszination für Luft und Licht des Hochgebirges scheint ungebrochen, und gerade deshalb entschloss ich mich, eine Dissertation über die Höhenkur zur Behandlung der Lungentuberkulose zu schreiben, nachdem ich vor über zehn Jahren eine Lizentiatsarbeit zu diesem Thema verfasst hatte. Die Dissertation, die ich für das vorliegende Buch überarbeitet und gekürzt habe, entstand neben meiner hauptberuflichen Tätigkeit als Journalist. Dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen, konnte nur gelingen, weil mich zahlreiche Personen unterstützten. Ihnen allen bin ich zu grossem Dank verpflichtet. Namentlich danke ich Philipp Sarasin, meinem Gutachter am Historischen Seminar der Universität Zürich, der meinem Projekt jederzeit wohlwollendes Interesse entgegengebracht hat und mir konzeptuell und inhaltlich äusserst wertvolle Anregungen gegeben hat. Monika Dommann hat sich spontan bereit erklärt, die Zweitbegutachtung zu übernehmen. Dafür wie auch für versierte Vorschläge bin ich ihr sehr dankbar. Dank schulde ich auch Iris Ritzmann, deren Fachwissen für mich überaus wertvoll war. Wichtig war überdies die Mitarbeit derjenigen Personen, die mir beim Auffinden der Quellen zu dieser Geschichte geholfen haben. Ich bedanke mich insbesondere bei Timothy Nelson von der Dokumentationsbibliothek Davos und bei Monika Huber und Ursula Reis vom Medizinhistorischen Institut der Universität Zürich. Werner Schmutz, Direktor des Physikalisch-Meteorologischen Observatoriums Davos /Weltstrahlungszentrum, hat mir freundlicherweise Zugang zu seinem Archiv gewährt.
Mehrere Personen haben Teile dieser Arbeit gelesen und mir in Gesprächen wichtige Anstösse gegeben. Ich bedanke mich dafür bei Niklaus Ingold, Florian Rohner, Markus Binder, Stephan Durrer, Tamara Weder und Stefan Schürer. Sehr anregend waren zudem die fachlichen Diskussionen in meiner Lesegruppe, der auch Michael Jucker und Stefan Keller angehören. Im Weiteren konnte ich mich mit verschiedenen Personen austauschen, welche die Geschichte der Tuberkulosebehandlung aus eigener Erfahrung kennen. Zu grossem Dank verpflichtet bin ich Hedi Csomor-Scheiwiller, einst Lungenpatientin in Davos und später selbst Ärztin. Sie hat mir mit ihren Schilderungen eine andere Sichtweise des Themas ermöglicht. Sehr wertvoll war für mich auch der Austausch mit Markus Noll, emeritierter Professor für Molekularbiologie. Ebenfalls sehr anregend waren die Gespräche mit Peter Braun, dem langjährigen Chefarzt der Höhenklinik Clavadel in Davos. Für das Interesse an meiner Arbeit und die hilfreiche Unterstützung bedanke ich mich zudem bei Otto Brändli, ehemals Chefarzt der Zürcher Höhenklinik Wald, und bei Max Kuhn, ehemals Leitender Arzt für Pneumologie am Kantonsspital Chur.
Verschiedene Institutionen haben die Drucklegung finanziell unterstützt. Ich bedanke mich bei Lunge Zürich, der Schweizerischen Stiftung für Tuberkuloseforschung, der Kulturförderung Graubünden, der Claire Sturzenegger-Jeanfavre Stiftung und der Stiftung vormals Bündner Heilstätte Arosa. Zudem bedanke ich mich bei der Salomon David Steinberg-Stipendien-Stiftung. Bei der Suche nach Bildern für die Publikation war mir Pascal Werner von der Fotostiftung Graubünden behilflich. Ermöglicht hat die Publikation schliesslich der Verlag Hier und Jetzt in Baden. Ich danke Verlegerin Madlaina Bundi für die umsichtige Begleitung der Publikation und Rafael Werner für das sorgfältige Lektorat.
Am meisten zu danken habe ich aber meiner Familie, ohne deren Verständnis und Hilfe ich dieses Buch nicht hätte schreiben können. Ich bedanke mich bei Sara Galle für ihre Anteilnahme und für zahlreiche wertvolle Gespräche. Ihr und unseren Söhnen Andri und David ist dieses Buch gewidmet.
Zürich, im November 2016
Einleitung
An keiner Krankheit starben um 1900 in der Schweiz oder in Deutschland mehr Menschen als an Tuberkulose. Wirksame Medikamente gegen die Krankheit fehlten, weshalb die Behandlung in Sanatorien und Heilanstalten vielen als einziger Hoffnungsschimmer erschien. Viel frische Luft, reichliche Ernährung, Ruhe und Bewegung und häufig auch der Aufenthalt in einem als heilsam erachteten Klima waren die Eckpfeiler der Therapie. Verschiedene Ärzte propagierten diese Behandlung, während andere sie verwarfen. «Wie ich helfen soll, weiss ich nicht, aber was Sie meinen, Herr Kollege, ist Unsinn», gab der Davoser Arzt Friedrich Jessen die verfahrene Situation wieder.1 Das berühmteste Beispiel von Kritik am Sanatoriumsbetrieb ist Thomas Manns Roman Der Zauberberg von 1924. In Roman entpuppt sich Hofrat Behrens, ärztlicher Leiter des fiktiven Davoser Sanatoriums Berghof, als gewiefter Geschäftsmann, der sich seine Patientennachfrage gleich selbst schafft: «Früher hätten im Sommer nur die Treuesten der Treuen in diesem Tale ausgeharrt», heisst es im Roman. Diesen für die Davoser Sanatorien unerfreulichen «Missstand» verstand der Arzt zu korrigieren. «Er habe die Lehre aufgestellt», so die Erzählung eines langjährigen Kurgasts, dass «die sommerliche Kur nicht nur nicht weniger empfehlenswert, sondern sogar besonders wirksam und geradezu unentbehrlich sei. Und er habe dieses Theorem unter die Leute zu bringen gewusst, habe populäre Artikel darüber verfasst und sie in die Presse lanciert. Seitdem gehe das Geschäft im Sommer so flott wie im Winter.»2 Der wirtschaftliche Erfolg des Sanatoriums im Zauberberg war also auf eine Reihe von Artikeln zurückzuführen.
Die Passage aus dem Zauberberg umreisst anschaulich den Gegenstand dieses Buches: Ärzte empfahlen und bekräftigten in (populär-)wissenschaftlichen Schriften und Artikeln die Behandlung der Lungentuberkulose im Höhenklima und beschrieben dessen Heilkraft. Diese publizistischen Bemühungen waren sehr erfolgreich. Die Theorie, dass das Höhenklima die Lungentuberkulose heilt, konnte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der medizinischen Diskussion festsetzen und bis weit ins 20. Jahrhundert behaupten, obwohl sie von Anfang an infrage gestellt wurde. Eine entscheidende Rolle spielten dabei Artikel in Fachzeitschriften, worauf auch ein medialer Schlagabtausch unter «realen» Kurärzten hinweist: 1886 kritisierte der Arzt Andreas Siebenmann in der Zeitschrift Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte, dass Davos wegen heftiger Lokalwinde und Schattenarmut als Sommerkurort nicht geeignet sei.3 Obwohl Siebenmann, der im nahe gelegenen Klosters praktizierte, Davos als Luftkurort für Lungenkranke insgesamt lobte, lösten seine Bemerkungen bei Davoser Ärzten helle Empörung aus. Der Davoser Arzt Alexander Volland versuchte, die Kritik zu parieren, indem er Siebenmann und einem weiteren Kritiker Unwissenheit vorwarf. Er schrieb im Fachblatt Deutsche Medicinische Wochenschrift, dass der Kurerfolg in Davos «eine auf langjährigen Erfahrungen beruhende Tatsache» sei. Bemerkenswert ist, dass Volland gegenüber den Kritikern explizit wirtschaftliche Argumente ins Feld führte und vor den wirtschaftlichen Folgen eines Verfalls des damals erfolgreichen Höhenkurorts warnte.4 1887 veröffentlichte Siebenmann im Correspondenz-Blatt eine Replik auf Vollands Artikel. Siebenmann wunderte sich angesichts der in seinen Augen geringfügigen Kritik über die empörten Reaktionen aus Davos. «Warum nun dieser Sturm im Glase Wasser?», fragte Siebenmann. Die Antwort war für ihn in den finanziellen Interessen der Davoser zu finden: Die dortigen Ärzte hätten Angst um ihr Geschäft. Mit ihren Stellungnahmen für Davos würden sie versuchen, die Werbetrommel für ihren Kurort zu rühren.5 Vertreter der Tuberkulosebehandlung im Höhenklima massen, das wird hier deutlich, einer positiven Berichterstattung in der Fachpresse grosse Bedeutung zu. Das Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte oder die Deutsche medicinische Wochenschrift spielten für die ärztliche Meinungsbildung eine entscheidende Rolle. Und die Meinung der Ärzte war für die Kurorte in wirtschaftlicher Hinsicht entscheidend: Es waren die Ärzte, die ihren Patientinnen und Patienten den Aufenthalt in einem bestimmten Kurort empfahlen oder ihnen davon abrieten.
Die Thesen der Mediziner in Fachartikeln blieben nicht graue Theorie, sondern prägten das Handeln von Ärzten und von Patientinnen und Patienten: Immer mehr tuberkulosekranke Menschen strömten zur Höhenkur in eine steigende Zahl selbst ernannter Höhenkurorte. Die Schweiz habe von der Tuberkulose profitiert, schreibt der Medizinhistoriker Francis Barrymore Smith: Verarmte Bergtäler wurden durch die Behandlung der Lungentuberkulose zu Goldgruben.6 Wichtigster Schauplatz dieser Entwicklung war die Landschaft Davos im Landwassertal.7 Der Davoser Landschaftsarzt Alexander Spengler griff um 1860 geschickt die in der medizinischen Diskussion zirkulierenden Theorien über eine heilsame Wirkung des Höhenklimas auf und erkannte als einer der Ersten das Potenzial einer hoch gelegenen Landschaft in den Alpen als Höhenkurort. Spengler tat sich mit Financiers und Unternehmern zusammen. Der Bündner Kurort entwickelte sich in der Folge zum Inbegriff der Tuberkulosebehandlung und erlebte von 1890 bis 1914 seine Glanzzeit.8 Den Höhenkurorten kam zugute, dass die Schweizer Alpen seit dem 18. Jahrhundert auf ein steigendes Interesse von Künstlern, Naturforschern oder Reisenden gestossen waren und eine vorteilhafte, bisweilen geradezu erhabene Wahrnehmung der Alpen entstehen konnte. Es ist die These dieser Arbeit, dass Davos und später andere Orte in den Schweizer Alpen – anders als in der Fachliteratur häufig beschrieben – nicht wegen eines der Natur innewohnenden Heilfaktors zu berühmten Luftkurorten wurden, sondern weil sie sich clever als Orte der Gesundheit vermarkteten. Der Aufenthalt in Schweizer Höhenkurorten erschien wohlhabenden Patientinnen und Patienten in Europa dadurch beinahe als selbstverständlich: «Es war Sitte, wenn man die Mittel dazu hatte, wurde man nach Davos oder Arosa geschickt», berichtet Katia Mann im Buch Meine ungeschriebenen Memoiren.9 Sie weilte 1912 wegen einer vermeintlichen Lungentuberkulose ein halbes Jahr in Davos und ein Jahr später in Arosa und gab mit ihren Berichten über den Kurbetrieb ihrem Ehemann Anregungen für den Zauberberg.10
In der Schweiz wurden zahlreiche Sanatorien in hoch gelegenen Ortschaften gebaut. Doch auch Sanatorien und Kurhäuser im Flachland oder am Mittelmeer boten lungenkranken Patienten ihre Dienste an. Schweizer Höhenkurorte wie Arosa, Leysin, Crans-Montana oder eben Davos, die ebenfalls um eine zahlungskräftige ausländische Klientel buhlten, waren ständig bestrebt, sich gegen diese zu behaupten, und setzten alles daran, die Wirkung des Höhenklimas mithilfe von wissenschaftlichen Studien und eigenen Forschungsinstitutionen zu belegen. Beispielhaft ist die Stellungnahme des Davoser Arztes und Sanatoriumseigners Rudolf Wolfer von 1933: Die wissenschaftliche Ergründung der Kuren im Höhenklima stelle die beste Förderung der Höhenkurorte «auch in wirtschaftlicher Hinsicht dar». Insbesondere müsse mit wissenschaftlichen Studien dafür gesorgt werden, dass die Ärzte von einer Behandlung im Höhenklima überzeugt würden, denn diese seien die «Berater» ihrer Patienten. Als Höhenklima im medizinischen Sinn definierten Forscher den Höhenbereich zwischen 1200 und 1800 Meter über Meer.11 Tatsächlich vermochten Vertreter der Klimatherapie Ärzte von der Wichtigkeit des Höhenklimas zu überzeugen. Die Beschreibungen eines heilsamen Effekts des Hochgebirges auf die Tuberkulose trugen ab den 1860er-Jahren dazu bei, dass hoch gelegene Ortschaften in den Schweizer Bergen geradezu als Quelle der Gesundheit erschienen. Das Klima und die Ortschaften selbst erhielten einen «heilträchtigen Nimbus», der immer weitere Patientinnen und Patienten in Höhenkurorte lockte.12 Berge wurden mit der «magischen Eigenschaft» versehen, Körper und Seele zu regenerieren, was auch die Entwicklung von Tourismuszentren in den Alpen beförderte. Die Entstehung des Wintertourismus in der Schweiz vor 150 Jahren ist denn auch eine Folge der Behandlung von Lungenkranken.13 Exemplarisch kommt die Vorstellung des heilenden Bergs im Slogan von Otto Morachs oft reproduziertem Werbeplakat für Davos aus dem Jahr 1926 zum Ausdruck: «Der Weg zur Kraft u. Gesundheit führt über Davos».14
Plakat von Otto Morach im Auftrag des Verkehrsvereins Davos, um 1926.
Unabhängig davon, ob die Tuberkulosebehandlung im Höhenklima oder wie in Deutschland oder England in einem Sanatorium im Flachland stattfand: Zentrales Element der Therapie war, dass sich die Patientinnen und Patienten möglichst lang an der frischen Luft aufhielten. Neben der Luft war ab 1900 für manche Mediziner auch das Licht entscheidend für die Therapie. Ärzte beschrieben die Tuberkulose als «Krankheit der Dunkelheit», die durch lichtarme, rauchbelastete Wohn- und Arbeitsverhältnisse in den Städten gefördert wurde. Ausserhalb der Industriezentren gelegene Lungenheilanstalten versprachen dank frischer Luft und Sonnenlicht Heilung. Aufgrund der Tuberkulosetherapie wurden Licht, Luft und Sonne zum Inbegriff von Gesundheit, was auch auf Kunst und Architektur ausstrahlte. Es entstanden spezielle Heilanstalten, Sanatorien mit geschützten Balkonen und Liegehallen, welche den Patienten den «Genuss» von möglichst viel Luft und Licht ermöglichten. Auch im Wohnhausbau der Moderne hielt dieses Ideal mit dem Einbezug von Balkonen, Terrassen oder grossen Fenstern Einzug.15 Und noch heute ist die «gute Bergluft» ein wichtiges Element für die Vermarktung der Alpenregion.16 Kürzlich hat die Regierung des Kantons Graubünden den «Gesundheitstourismus» zu einem Schwerpunkt ihrer Tätigkeit erhoben und dabei auf die Mitte des 19. Jahrhunderts erkannte «gesundheitsfördernde Wirkung des Hochgebirgsklimas» verwiesen.17 Und selbst in der neuesten Fachliteratur über Davos wird die Meinung vertreten, dass das Höhenklima die Tuberkulose heile.18
Einige elegante Bauten in Davos oder Leysin erinnern noch an die Sanatoriumsbehandlung, die während Jahrzehnten als Standardtherapie bei Lungentuberkulose galt. Zahllose Patienten suchten Heilung in solchen Heilstätten, nicht selten vergeblich. In der Schweiz war von 1891 bis 1900 mehr als jeder zehnte Todesfall auf Lungentuberkulose zurückzuführen.19 Wirksame Medikamente gegen die «weisse Pest» fehlten bis Ende der 1940er-Jahre, als gegen das Tuberkulosebakterium wirkende Substanzen erhältlich wurden. Die Hoffnung, die Tuberkulose mit den Antibiotika besiegen zu können, erfüllte sich trotz eines Rückgangs der Krankheit in den folgenden Dekaden nicht. Heute stellt die Tuberkulose nach wie vor eine äusserst gefährliche Infektionskrankheit dar: Zwei Milliarden Menschen sind Träger des Tuberkulosebakteriums, jährlich sterben rund eineinhalb Millionen Menschen an dieser Krankheit. Regelmässig berichten Medien über die «Rückkehr der Tuberkulose» nach Westeuropa und in die USA. Resistente Keime erschweren die medikamentöse Therapie, Patienten mit schweren Resistenzen können manchmal nicht mehr behandelt werden. Experten fordern deshalb gar die Wiedereinrichtung von Sanatorien, um Patienten mit resistenten Bakterien palliativ betreuen zu können und um die Bevölkerung vor Ansteckung zu schützen.20
Fragestellung, Untersuchungsgegenstand und theoretischer Ansatz
Wie kam es nun dazu, dass es unter den Gutbetuchten in ganz Europa «Sitte» war, zur Tuberkulosebehandlung nach Davos oder Arosa zu fahren, wie es Katia Mann beschrieben hat? Dieser Frage gehe ich in meiner Arbeit nach. Mich interessiert, wie sich die Theorie, dass das Höhenklima die Lungentuberkulose heilen könne, nach 1850 in Medizin und Gesellschaft etablieren und bis 1950 bei der Behandlung der Lungentuberkulose eine derart wichtige Rolle spielen konnte. Im Einzelnen ergeben sich daraus folgende Fragen: Wann und in welcher Form tauchte die Theorie des heilenden Höhenklimas in der medizinischen Diskussion auf? Mit welchen Argumenten konnte sie sich in der Medizin etablieren und behaupten? Wie setzten sich ihre ärztlichen Befürworter – die für die Diskussion zentralen Akteure – mit konkurrierenden Theorien auseinander, und wie reagierten sie auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse? Und schliesslich: Wie wirkte sich die Theorie auf die Praxis der Ärzte, auf die Situation von Patientinnen und Patienten und auf die Entwicklung von Höhenkurorten aus? Meine Arbeit geht somit primär wissenschaftsgeschichtlichen Fragen nach und untersucht die Entstehung und Zirkulation von Wissen, daneben kommen auch medizin- und sozialgeschichtliche Aspekte zur Sprache.21 Von Interesse sind auch biografische Bezüge von Ärzten und Wissenschaftlern, die über die Höhentherapie publizierten und diese verteidigten, da ihre persönliche Lebenssituation oftmals in enger Beziehung mit ihrem wissenschaftlichen oder therapeutischen Wirken stand. Untersucht wird in der Arbeit die Zeit zwischen 1850 und 1950. Ab 1850 setzen Ärzte die Idee um, dass hoch gelegene Orte die Lungenschwindsucht heilen könnten. Um 1950 verlor die Höhenbehandlung in Sanatorien an Bedeutung, unter anderem weil nun Antibiotika zur Verfügung standen, die eine Behandlung in Sanatorien nicht mehr zwingend notwendig erscheinen liessen. Davos war gemessen an den Gästezahlen der bedeutendste Kurort, in dem zahlreiche Interessenvertreter der Höhenkur tätig waren.22 Zudem entstanden wissenschaftliche Studien, welche die «Heilkraft» des Höhenklimas bei Lungentuberkulose belegen sollten, häufig in Davos, weshalb Davos als Pionierort und bekanntester Höhenkurort in dieser Arbeit häufig vorkommt. Es geht mir jedoch nicht um die Lokalgeschichte dieses Ortes, vielmehr sind auch andere hoch gelegene Orte in der Schweiz Schauplatz des Buches. Insgesamt waren es nämlich schweizerische Ortschaften, denen es gelang, eine heilsame Höhenklimawirkung geltend zu machen, obwohl der Anteil der Schweiz an den Alpen flächenmässig deutlich kleiner ist als derjenige von Österreich oder Italien. Dennoch kommen in meiner Studie auch Orte und Mediziner aus anderen Ländern vor: So wurde die Höhentherapie konzeptionell und methodisch um 1850 von einem Arzt im damals preussischen Schlesien entwickelt, und auch in anderen Ländern setzten Mediziner auf die therapeutische Wirkung von erhöhten Gegenden. Zudem hatte die Höhenkur in der Schweiz internationale Ausstrahlung, weshalb auch Ärzte aus anderen Ländern ihre Patienten zur Lungenkur ins Hochgebirge sandten.
In theoretischer Hinsicht nehme ich eine konstruktivistische Perspektive ein. Ich gehe davon aus, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Medizin nicht einfach die Entdeckung einer natürlichen Ordnung darstellen, welche unabhängig vom menschlichen Handeln existiert.23 Vielmehr können die Beziehungen zwischen Menschen und ihre sozialen Interessen zur Erklärung beitragen, wie es zu bestimmten wissenschaftlichen Aussagen kommt.24 So wurde die Höhenkur auch deshalb wichtig, weil Mediziner geschickt ihre Interessen vertraten und Verfechter der Höhenbehandlung unablässig Artikel und Studien über heilsame Faktoren des Höhenklimas publizierten. Ein Artikel ist gemäss dem Wissenschaftssoziologen Bruno Latour «eine kleine Maschine, um Interessen, Überzeugungen zu verschieben und in einer Weise zu orientieren, dass der Leser gleichsam unweigerlich in eine bestimmte Richtung gelenkt wird».25
Die Erforschung von Interessen, welche Theorie und Praxis der Medizin formen, wird als wichtiges Thema der Geschichtswissenschaft angesehen.26 Wissenschaftshistoriker stellen sie aber auch infrage, etwa weil sich der kausale Zusammenhang zwischen Interessen der Akteure und medizinischem Inhalt nicht belegen lasse.27 Interessen der damaligen Akteure geltend zu machen, nimmt zudem in Anspruch, deren Intentionen erkennen zu können.28 Ich halte es jedoch für angemessen, in dieser Arbeit über die Höhenkur eine Interessentheorie zu verwenden – weil Interessen wie das Streben nach Macht, Geld und Autorität in den Quellen fassbar werden: Viele der Ärzte, welche zur Höhenbehandlung der Tuberkulose anmahnten, zogen als Kurärzte oder Mitbesitzer von Kurhäusern und Sanatorien einen direkten finanziellen Nutzen daraus – der Medizinhistoriker Vincent Barras spricht vom Typus des «entrepreneur médical».29 Dies verweist auf die Gesundheitsökonomie mit ihrer Theorie der «angebotsinduzierten Nachfrage»: Der Arzt ist Anbieter von Leistungen, zugleich berät er die Patienten beim Entscheid, welche Leistungen sie nachfragen sollen.30 Die Ärzte haben so die Möglichkeit, die Nachfrage nach Therapien zu steuern. Ärzte können ihr Einkommen erhöhen, wenn sie mehr Patienten mehr medizinische Leistungen nachfragen lassen. Allerdings wäre es eine unzutreffende Verkürzung, den Einsatz der Ärzte für das Höhenklima auf finanzielles Eigeninteresse zu reduzieren. Nicht alle Ärzte, welche die Höhenbehandlung befürworteten, profitierten persönlich davon. Zudem waren wohl viele Ärzte in Übereinstimmung mit ihrer Berufsethik davon überzeugt, zum Wohl ihrer Patienten zu handeln. Die Ärzteschaft war in den ersten Jahren des Untersuchungszeitraums noch immer bestrebt, sich in der Gesellschaft als Heilkundige zu etablieren. Der «Aufstieg» der Ärzte konnte sich nur vollziehen, wenn sie Therapieangebote bereithielten, die Heilung versprachen.31
Selbstredend vermögen soziale Faktoren die Theorie des heilenden Höhenklimas allein nicht zu erklären. Diese ist nur in ihrer Vermittlung mit dem durchaus realen, vielfach tödlichen Wirken der Krankheit Tuberkulose zu verstehen. Eine einseitige soziologische Erklärung von wissenschaftlichem Wissen wird denn auch kritisiert.32 Zudem konnten die Aussagen und Argumente, welche die Ärzte in den von mir untersuchten Quellentexten entwickelten, ihre Durchschlagskraft auch unabhängig von Intentionen und Interessen der Akteure gewinnen. Damit sie «wahr» wurden, mussten sie aber an bestimmte historische Bedingungen und Umstände anknüpfen können, wie etwa an das breit akzeptierte Denkmuster einer positiven Wahrnehmung der Alpen.33 Da die Theorie des kurierenden Höhenklimas wiederholt von Kritikern infrage gestellt wurde, sei es von Wissenschaftlern oder Anbietern konkurrierender Therapiemöglichkeiten, betrieben die Verfechter der Höhenkur viel Aufwand, um ihre Position verbessern zu können – mit Erfolg: Es gelang ihnen immer wieder, die These des heilsamen Höhenklimas in der medizinischen Diskussion zu stärken. In Davos gründeten sie eigene Forschungsinstitute, um Belege für die behauptete Heilwirkung des Höhenklimas vorweisen zu können. Diese Forschung funktionierte keineswegs losgelöst von praktischen und monetären Interessen der Geldgeber, den Bündner Behörden und Ärzten. Meine Arbeit wirft somit auch ein Schlaglicht auf eine grundsätzliche, wenn auch oft verdrängte Eigenschaft wissenschaftlicher Forschung.34