Kitabı oku: «Der Traum von Heilung», sayfa 3

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Der Berg heilt

Im 19. Jahrhundert wurde die Alpenregion nicht nur zum begehrten Ziel von Touristen oder Bergsteigern, sondern auch zum Zufluchtsort für Kranke. Dass Kranke damals anfingen, in den Bergen Heilung zu suchen, stand im Einklang mit Vorstellungen der antiken Diätetik, gemäss der zwischen Klima und Gesundheitszustand ein Zusammenhang besteht. Schon Hippokrates von Kos, der als Begründer der Medizin als Wissenschaft gilt, hat im vierten Jahrhundert vor unserer Zeit auf die therapeutische Bedeutung des Aufenthalts- und Klimawechsels hingewiesen.30 Und der griechische Arzt Galen empfahl im zweiten Jahrhundert unserer Zeit frische Luft, erhöhte Gegenden oder Seereisen und Milch für die Behandlung der Tuberkulose. Auch in der Neuzeit suchten Ärzte und Kranke nach dem gesunden Klima. Allerdings existierten unterschiedliche Meinungen darüber, welches nun das vorteilhafteste sei.31 Warme Klimata wurden empfohlen, weshalb Orte an den Mittelmeerküsten von Tuberkulosekranken aufgesucht wurden.32 Auch Schiffsreisen auf dem Meer galten als probates Mittel.33 Und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam das Gebirge dazu. Schon lange bevor Alexander Spengler der Doktrin des heilenden Höhenklimas zum Durchbruch verhalf und den Mythos Davos schuf, wurden das Gebirgsklima und die Alpenluft als heilsam erachtet. Bereits um 1570 hatte der Bündner Pfarrer Ulrich Campell (ca. 1510–1582) festgestellt, dass die Davoser Luft äusserst gesund – «aëris saluberrimi» –, aber auch kalt und rau sei.34 Konrad Gessner hatte 1555 die reine Bergluft empfohlen, und Johann Jacob Scheuchzer bestätigte 1716, dass die Schweizer Luft gesund sei, was etwa dadurch belegt werde, dass die Pest und andere gefährliche Krankheiten selten seien.35 Jean-Jacques Rousseau schliesslich schrieb 1761 in seinem Roman Julie ou la Nouvelle Héloïse, es sei ein allgemeiner Eindruck, «dass man auf hohen Bergen, wo die Luft reiner und dünner ist, leichter atmet, sich leichter bewegt und sich heiteren Geistes fühlt». Er wunderte sich deshalb, «dass die heilsamen und wohltätigen Luftbäder der Gebirge nicht zu den vorzüglichen Heilmitteln der Medizin und der Moral gerechnet werden».36 Friedrich Nietzsche bestätigte 1887 die geistige Wirkung der Höhenluft: In seinem Wohnort Sils-Maria im Oberengadin räsonierte er über das, was dem Philosophen unentbehrlich sei: «eine gute Luft, dünn, klar, frei, trocken, wie die Luft auf Höhen ist, bei der alles animalische Sein geistiger wird und Flügel bekommt».37

Kleingrafik aus einem Prospekt des Sanatoriums Valbella Davos, um 1915.

Hundert Jahre nach Rousseaus erstem Roman begannen die «heilsamen und wohltätigen Luftbäder der Gebirge» als vorzügliches Heilmittel gegen Tuberkulose zu gelten, worüber diese Arbeit berichtet. Denn auch Mediziner interessierten sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts in zunehmendem Mass für die Berge. Das hygienische Wissen vom Einfluss des Klimas auf die Gesundheit verband sich dabei mit der neuen medizinischen Wissenschaft der Physiologie.38 Physiologen untersuchten auch den Einfluss von Höhenlagen auf die Blutbildung oder die Atmung, wie diese Arbeit zeigen wird. Ab den 1860er-Jahren bot in den Schweizer Alpen eine steigende Zahl selbst ernannter Höhenkurorte ihre medizinischen Dienste an. Dass es gerade Orte in der Schweiz waren, die aufgrund eines als heilsam erachteten Klimas eine führende Stellung in der Tuberkulosetherapie einnehmen konnten, ist auch eine Folge der Entdeckungsgeschichte der Alpen: Die Schweizer Alpen wurden früher beschrieben und erforscht als andere Berglandschaften und galten etwa in Österreich als Vorbild.39 In Graubünden wiederum gab es verschiedene hoch gelegene Orte wie Davos (1560 m ü. M.), Arosa (1800 m ü. M.), St. Moritz (1855 m ü. M.) oder Pontresina (1800 m ü. M), weshalb der Kanton zum Ausgangspunkt der Theorie des heilsamen Höhenklimas werden konnte.40

Bereits vor der Etablierung von Luftkurorten gab es in der Schweiz Ortschaften, die Heilung versprachen: so die schon im Mittelalter bekannten Badeorte wie Leukerbad und St.Moritz, deren Thermalwasser zum Baden oder zum Trinken verwendet wurden. Badekurorte erlebten um 1800 infolge der verbesserten Verkehrswege einen neuen Aufschwung.41 Andere therapeutische Einrichtungen setzten auf Tropfbäder, Regenduschen oder Abwaschungen.42 Ebenfalls schon vor den Höhenkuren wurden Milch- und Molkekuren zur Behandlung von Lungenleiden angeboten.43 Durch die Kur mit Alpenziegenmolke erlangte die Ortschaft Gais in Appenzell Ausserrhoden im 18. Jahrhundert als Molkekurort Bekanntheit. Teilweise wurde die Molkekur mit der Kuhstallluft-Kur kombiniert. Bei dieser nutzte man die Ammoniakdämpfe des Kuhmistes therapeutisch.44 Auf die Wirkung der Bergluft setzte dann der Schweizer Arzt Johann Jakob Guggenbühl (1816–1863): Er gründete 1841 auf dem Abendberg bei Interlaken im Berner Oberland eine Heilanstalt für Kinder, die an Kretinismus litten, einer damals auch unter Bergbewohnern verbreiteten Krankheit.45 Kretinismus galt als teilweise identisch mit anderen Krankheiten wie Rachitis und Skrofulose. Bei letztgenannter entstellten chronische Entzündungen die Gesichter von Kindern. Sie wurde als tuberkulöse Krankheitsform betrachtet.46 In den 1850er-Jahren beschrieben dann der Freiburger Medizinprofessor Anton Werber in seiner Broschüre «Die Schweizer-Alpenluft in ihrer Wirkung auf Gesunde und Kranke» oder der englische Arzt und Klimatologe Edwin Lee die therapeutische Wirkung der Alpenluft auf Brusterkrankungen und Lungenleiden.47 In dieser Konstellation gelang es dem Davoser Landschaftsarzt Alexander Spengler dank der Unterstützung von anderen Ärzten und von Financiers und Unternehmern, das Davoser Klima als heilsam für Lungentuberkulose zu positionieren. Die Vorstellung, dass der Berg heile, setzte sich durch, und die Höhentherapie der Lungentuberkulose trug ihrerseits zum Bild der «gesunden Berge» und der «gesunden Schweiz» bei.48 Dieses Bild bestand und besteht aus verschiedenen Elementen wie Luft, Höhe, Licht und Wasser. Doch diese gesundheitsfördernden Faktoren wurden nicht einfach in der Natur entdeckt, sie wurden vielmehr durch Zuschreibungen «erfunden» und vermarktet.49 In den Augen des französischen Philosophen und Mediziners François Dagognet korrespondierte das Angebot der Höhenkurorte überdies mit Vorstellungen des Unbewussten der Psychoanalyse: In seinem Aufsatz über die cure d’air von 1959 schrieb Dagognet, dass bereits C.G.Jung auf die Wichtigkeit der Erhebung, des Anstiegs hingewiesen habe. Ebenso erwähnte Dagognet das Streben der Helden der griechischen Mythologie in die Höhe und gegen die Sonne. Es waren laut Dagognet solche Motive des Unbewussten, die Menschen in der frischen Luft, in der Höhe Gesundheit suchen liessen.50

Der Aufstieg der Ärzte
Ärzte werden tonangebend

Als Charles Bovary sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Rouen anschickt, Medizin zu studieren, ist er beunruhigt: «Vor dem Verzeichnis der Vorlesungen auf dem Anschlagbrett überfiel ihn ein Schwindelgefühl: Vorlesungen über Anatomie, Vorlesungen über Pathologie, Vorlesungen über Physiologie, Vorlesungen über Pharmazeutik, Vorlesungen über Chemie und über Botanik, und über praktische Medizin, und über Heilkunde, ganz abgesehen von Hygiene und Heilmittelkunde, alles Namen, deren Etymologie er nicht kannte und die ihm vorkamen wie Pforten zu Heiligtümern von erhabener Finsternis.»1 Charles Bovary, der spätere Landarzt und Ehemann von Emma, der Madame Bovary, zeigt sich in Gustave Flauberts Roman anfänglich überfordert von all den Ansprüchen, welche die Medizin an die Studenten stellte. Diese Ansprüche zeugen von der Wissenschaftlichkeit, der sich die Medizin im 19. Jahrhundert zu verschreiben begann. «Modern times dawned with nineteenth century», schrieb der renommierte Medizinhistoriker Roy Porter. Und die Medizin gewann an Bedeutung, indem sie wissenschaftlich wurde.2 In Deutschland stieg die Physiologie ab etwa 1830 zur Leitwissenschaft auf. Sie ermöglichte die Wende zur naturwissenschaftlichen Medizin.3 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich unter der Ägide von Louis Pasteur (1822–1896) und Robert Koch (1843–1910) die Bakteriologie zur zweiten Leitwissenschaft. Durch die Bakteriologie wurde es erstmals möglich, eine einzige und eindeutige Ursache von Krankheiten zu bestimmen: das Bakterium.4 Der naturwissenschaftliche Anspruch der Medizin im 19. Jahrhundert ging mit einem neuen Selbstverständnis der Ärzte einher: Sie sahen sich als Vertreter der «wahren Wissenschaft» und nahmen die Medizin nicht mehr wie früher als Kunst wahr.5 Methoden der Naturwissenschaften ersetzten die spekulative Naturbetrachtung. Führende Mediziner verpflichteten sich kausalem Denken und leitenden Theorien.6 Auch die Herausgeber des Correspondenz-Blatts für Schweizer Aerzte forderten die Ärzte 1885 dazu auf, als Diener der Aufklärung vermehrt in die Öffentlichkeit zu treten und die «wissenschaftliche Medicin» gegenüber abergläubischen «Volksmitteln» zu stärken. Dies sollte auch mit Artikeln in der Tagespresse gemacht werden.7

Der grosse gesellschaftliche Wandel des 19. Jahrhunderts verhalf der Medizin zu einer neuen Rolle. Der Nationalstaat etablierte sich, die Industrialisierung veränderte die Gesellschaft, es vollzog sich eine «Verwissenschaftlichung des Alltags».8 Säkulare Denkmuster gewannen gegenüber dem theologischen Weltbild seit der Aufklärung an Bedeutung – auch in der Frage der Gesundheit, für welche wohlhabend gewordene Bürger es sich nun leisten konnten, Geld auszugeben. Für sie wurde Gesundheit ein wichtiger Teil der richtigen und vernünftigen Lebensführung.9 Medizin und Ärzte stiessen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf eine zunehmende Nachfrage.10 Denn das naturwissenschaftliche Verständnis der Medizin, welches Leben und Körper des Menschen einer rationalen Kalkulation zugänglich machte und die Leistungsfähigkeit zu optimieren versprach, entsprach dem bürgerlichen Denken der Zeit. Diese sich verändernde Rolle der Medizin bildet den Rahmen, in dem die Ärzte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts agierten. Ärzte wurden, was Gesundheitsfragen betraf, in dieser Zeit in Staat und Gesellschaft tonangebend. Aufgrund dieser Voraussetzung vermochten sie auch die Tuberkulosetherapie zunehmend zu prägen. Und dies obwohl die neue, naturwissenschaftliche Medizin den Patientinnen und Patienten vorderhand einiges schuldig blieb: Als in ihrem Selbstanspruch auf das Heilen gerichtete Disziplin vermochte sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur wenige therapeutische Erfolge vorzuweisen. Gerade in der Bakteriologie waren diese, verglichen mit den Resultaten der medizinischen Grundlagenforschung, bescheiden.11

Im Zuge dieser sogenannten Medikalisierung konnten sich die akademischen Ärzte Anfang 19. Jahrhundert noch gegen hoch angesehene Heilkundige wie Bader, Barbiere und Handwerkschirurgen durchsetzen.12 Um den eigenen Berufsstand zu schützen und zu stärken, setzten Ärzte auf die Professionalisierung, insbesondere auf die Regulierung der Ausbildung. In der Schweiz des 19. Jahrhunderts erfolgte dieser Prozess lange Zeit auf der Ebene der Kantone.13 Der 1848 gegründete Bundesstaat wurde erst 1877 mit einem Bundesgesetz über die Freizügigkeit der Medizinalpersonen direkt gesetzgeberisch tätig. Standesorganisationen förderten in Zusammenarbeit mit den Kantonen das Fortkommen der ärztlichen Profession. 1870 gründeten verschiedene Deutschschweizer Ärztegesellschaften den «Ärztlichen Centralverein», während französisch sprechende Ärzte schon 1867 eine eigene Vereinigung gegründet hatten. Eine nationale medizinische Standesorganisation, die heutige Verbindung Schweizerischer Ärzte (FMH), entstand erst 1901.14 Ärztinnen hatten damals im Berufsleben einen schweren Stand, obwohl Schweizer Universitäten vergleichsweise früh Frauen zum Studium zuliessen (Zürich 1867, Genf und Bern 1872).15 Das zeigt etwa ein im Correspondenz-Blatt abgedrucktes Protokoll einer Sitzung der Zürcher Ärztegesellschaft im Dezember 1883: Die Aufnahme einer Ärztin in die Gesellschaft scheiterte in der Abstimmung deutlich.16 1890 gab es in der Schweiz insgesamt 1530 Ärzte. Darunter waren nur 10 Frauen.17 Bei damals insgesamt knapp drei Millionen Einwohnern in der Schweiz kamen auf 10 000 Menschen 5,2 Ärzte. Im Vergleich zu heute waren die Menschen damit weit weniger mit ärztlichem Wirken konfrontiert. Die heutige Ärztedichte ist wesentlich höher: 2014 betrug sie 21,6 Ärzte pro 10 000 Einwohner.18

Die Tuberkulose und die Diätetik

Die Tuberkulose war um 1900 die häufigste Todesursache. Das Correspondenz-Blatt veröffentlichte 1883 eine Mortalitätsstatistik, gemäss der im Jahr 1882 von 10 000 Einwohnern 33,7 an Lungenschwindsucht starben.19 Damit stellte die Lungentuberkulose von den aufgeführten Todesursachen die mit Abstand bedeutendste dar. Neben «Lungenschwindsucht» waren lange Zeit weitere Bezeichnungen für Lungentuberkulose gebräuchlich: Das griechische «Phthisis», welches insbesondere Ärzte verwendeten, ausserdem «Auszehrung», «weisse Pest» oder – im englischen Sprachraum – «Captain of All These Men of Death».20 Gleichzeitig war unter Ärzten lange Zeit umstritten, welche Krankheitsbilder zur Tuberkulose zählten. So unterschied Rudolf Virchow (1821–1902), der Gründer der Zellularpathologie, zwischen der eigentlichen Tuberkulose, bei der die charakteristischen Tuberkel, also knötchenförmige Gewebeveränderungen, auftraten, und der Phthise, einer «verkäsenden», gewebezerstörenden Pneumonie.21 Mit der Entdeckung des Tuberkulosebakteriums durch Robert Koch im Jahr 1882 konnten Krankheitsbilder, welche vorher verschiedenen Krankheiten zugeordnet worden waren, nun auf eine einzige Ursache, den Tuberkelbazillus, zurückgeführt werden.22 Es zeigte sich, dass die Tuberkulose verschiedene Organe befallen kann, am häufigsten jedoch die Lunge. Sie wird durch Tröpfcheninfektion, das heisst durch die Hustentröpfchen eines Kranken, übertragen. Ohne Behandlung ist die Lungentuberkulose häufig tödlich. Sie verläuft sehr langwierig: Es kann Jahre dauern, bis der Tod eintritt. Blässe, Abmagerung, Müdigkeit und erhöhte Temperatur treten auf, dazu ein blutiger Husten, wenn die Blutgefässe angegriffen sind. Doch führt nicht jede Infektion mit dem Bazillus zum Ausbruch der Krankheit. Zumeist erfolgt die Erkrankung nur dann, wenn ein Mensch in seiner körperlichen Verfassung und in seinem Immunsystem geschwächt ist.23 Die Tuberkulose kann heute in den meisten Fällen durch Antibiotika geheilt werden. Es treten jedoch zunehmend Probleme mit multiresistenten Bakterien auf, gegen die Medikamente nicht mehr wirken. Die Tuberkulose konnte entgegen früherer Hoffnungen denn auch nicht ausgerottet werden, sondern ist vor allem in ärmeren Ländern weitverbreitet.24 Ab 1985 führte die HIV-Epidemie zu einer deutlichen Zunahme der Tuberkuloseerkrankungen.25 Ungefähr ein Drittel aller Menschen ist gemäss WHO mit dem Tuberkuloseerreger infiziert. 2014 starben 1,5 Millionen Menschen an Tuberkulose.26 Diese Todesfälle sind meist darauf zurückzuführen, dass Menschen in ärmeren Ländern kaum Zugang zu Medikamenten und passender Therapie haben.27 In der Schweiz erkranken heute jährlich rund 550 Personen an Tuberkulose, zumeist sind es Migrantinnen und Migranten.28

Um 1850, als die Tuberkulose auch in Europa und den USA epidemisch war und vielerorts als unheilbar galt, begann ein schlesischer Arzt, deren Heilbarkeit zu propagieren: Hermann Brehmer stellte 1853 in seiner Dissertation die These auf, dass die Tuberkulose in ihren frühen Stadien immer heilbar sei.29 Brehmer nahm ein althergebrachtes medizinisches Konzept zu Hilfe: die antike Diätetik. Diese bildet neben Operation und Medikament den dritten Ansatz medizinischer Therapie und geht davon aus, dass Umweltfaktoren Ursache von Krankheit und Gesundheit sind.30 Ausschlaggebend sind die sogenannten «sex res non naturales», die sechs nichtnatürlichen Dinge: Licht und Luft, Essen und Trinken, Bewegung und Ruhe, Wachen und Schlafen, Ausscheidungen, Gemütsbewegungen.31 Da die «sex res» über Krankheit und Gesundheit entscheiden, gilt es, diese günstig zu beeinflussen. So empfahlen die antiken Ärzte Hippokrates und Galen als therapeutische Massnahme einen Wechsel in gesundheitsförderndes Klima.32 Das antike Schema der «sex res» wurde gegen 1800 aufgrund der neuen bürgerlichen Wertschätzung der Gesundheit wieder breit rezipiert und setzte sich im 19. Jahrhundert als konzeptionelle Basis der Hygiene durch. Mit Hygiene ist hier nicht wie heute die von der Bakteriologie geprägte Idee der keimfreien Sauberkeit gemeint, sondern das umfassende Gesundheitskonzept der Diätetik mit den «sex res».33

In der Tuberkulosetherapie des 19. Jahrhunderts setzten Ärzte auf diätetische Massnahmen.34 Verschiedene Mediziner beschrieben die günstige Wirkung, die ein Wechsel in ein als gesund angesehenes Klima auf Kranke mit Lungentuberkulose hatte. Anfänglich empfahlen Klimatherapeuten vor allem milde Klimate am Mittelmeer oder Orte am Seeufer. Die Berge waren hingegen noch kein Thema.35 An den Erholungsorten des Mittelmeers entstanden detaillierte Verhaltensvorschriften für die Kranken zur «Förderung des Wohlbefindens», wie der französische Historiker Alain Corbin schrieb.36 Der englische Arzt Harry Bennet berichtete 1814, wie seine Tuberkulose durch Aufenthalt in Mentone an der Côte d’Azur (im Winter) und in Schottland (im Sommer) heilte.37 Vielfach aufgelegt wurde die Studie des englischen Arztes James Clark, The Sanative Influence of Climate. Er empfahl Tuberkulosekranken den Wechsel in ein mildes Klima («a very powerful remedy»), nebst reichlicher Ernährung und Aufenthalt in frischer Luft.38 Auf diese Elemente setzte auch Hermann Brehmer. Er verband seine Verkündung von Heilung allerdings nicht mit Orten am Mittelmeer. Vielmehr glaubte er, dass die Tuberkulose nur geheilt werden könnte, wenn die Kur an einem hoch gelegenen, «immunen Ort» stattfand. Das waren Orte, an denen die Tuberkulose angeblich nicht vorkam.39 Diese Idee übernahmen die Promotoren der Höhenkur in den Schweizer Alpen.

Die diätetische Behandlung der Tuberkulose blieb auch im Zeitalter der Bakteriologie lange Zeit wichtig. Reichliche Ernährung, frische Luft und ein ausgewogenes Mass an Ruhe und Bewegung sollten die Abwehrkräfte stärken. Bei Weitem nicht bei jedem, der sich mit dem Tuberkulosebakterium angesteckt hatte, brach die Krankheit aus. 1888 formulierte dies ein Arzt im Correspondenz-Blatt folgendermassen: «Der Bazillus für sich allein macht ja bekanntlich noch keine Lungenschwindsucht, sonst wäre bei dessen Ubiquität nicht zu begreifen, weshalb wir nicht alle, samt und sonders, phthisisch werden sollten.»40 In der Tat war die sogenannte Durchseuchung damals äussert hoch. Dies zeigte eine Untersuchung Otto Naegelis (1871–1938) aus dem Jahr 1900. Anhand von 500 Sektionen am Pathologischen Institut Zürich kam er zum Schluss: «Jeder Erwachsene ist tuberkulös.» Dieses Resultat barg in Naegelis Augen jedoch Trost. Da erfahrungsgemäss nicht mehr als ein Siebtel bis ein Achtel der Menschen der Tuberkulose zum Opfer fallen würden, ergebe sich daraus, dass weitaus die Mehrzahl imstande sei, «den Kampf mit der Tuberkulose siegreich durchzuführen, und die Sturmflut der Bazillen durch die natürlichen Schutzwehren des Organismus einzudämmen und zur Ruhe zu bringen». Naegeli hatte bei 97 Prozent der von ihm sezierten Leichen tuberkulöse Veränderungen entdeckt. Daraus leitete Naegeli ab, dass der «Disposition» eine ungleich grössere Bedeutung als der Infektion zukam.41 Er definierte den Begriff Disposition als anatomisch-physiologische Konstitution, die erst dem Tuberkelbazillus den Boden gebe, auf dem er mit «höchst malignem Charakter um sich greift».42

Ärztemacht und die Verbreitung von Ärztewissen

Mit dem Aufstieg der Medizin im 19. Jahrhundert erlangten die Ärzte zunehmend Definitionsmacht über Gesundheit und Krankheit. Gleichzeitig veränderte sich das Verhältnis zwischen Ärzten und Patienten.43 Der Arzt verkörperte um 1900 die Wissenschaft und vermochte nun anstelle von Ratschlägen Anordnungen zu erteilen.44 Elementar für diese Entwicklung war die Geburt der Krankenhaus-Medizin, welche die ärztliche Autorität institutionell durchsetzte. Um 1800 hatte sich dies noch anders verhalten: Den Ärzten mangelte es an Expertenautorität, die Klientel, also die Patienten, übten Kontrolle über das ärztliche Handeln aus. Zudem standen die Ärzte sozial unterhalb ihrer vornehmlich wohlhabenden Kunden und waren von diesen ökonomisch abhängig.45 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts konnten sich immer mehr Menschen eine ärztliche Behandlung leisten. Der Markt für medizinische Dienstleistungen vergrösserte sich, obwohl für wirtschaftlich schlechtgestellte Bevölkerungsschichten der Arzt vielfach zu teuer blieb.46 Ein soziales Krankenversicherungssystem wie heute bestand nicht.

Die neue Rolle der Medizin im 19. Jahrhundert, wie ich sie geschildert habe, wäre ohne die Vermittlung des medizinischen Wissens durch Zeitungen, Zeitschriften und populäre Schriften nicht möglich geworden.47 Die Popularisierung von Wissenschaft und Technik erlebte im 19. Jahrhundert eine Blütezeit, wobei in Gesundheitsfragen Ärzte als Popularisatoren in Erscheinung traten.48 Medizinische Theorien gelangten so zu einem breiten Publikum. In Bezug auf die Leitfrage dieses Buches, warum sich die Höhenbehandlung der Lungentuberkulose durchsetzen und behaupten konnte, untersuche ich primär, wie sich medizinisches Wissen innerhalb des Kreises der Fachleute ausbreitete. Hatten sich die Ärzte nämlich einmal für eine bestimmte Behandlung entschieden, empfahlen sie diese den Patientinnen und Patienten. Das Handeln der Patienten reduzierte sich zusehends auf den Vollzug ärztlicher Anordnungen.49 Die Machtposition der Ärzte gegenüber ihren Patienten ist auch in der heutigen Medizin von strategischer Bedeutung: So ist es für die Pharmaindustrie entscheidend, die Ärzte mittels Rabatten, Honoraren für «Scheinstudien» oder Kongressteilnahmen für eine neue Therapie zu gewinnen.50 Auch für Promotoren der Theorie des heilenden Höhenklimas war es entscheidend, andere Ärzte von ihrer Theorie zu überzeugen. Die Ärzte entschieden vielfach, an welchen Kurort sich Kranke begeben sollten. Dies kommt in einem Artikel in der Kurortszeitung Davoser Blätter von 1876 zum Ausdruck. In diesem wird kritisiert, dass noch zu wenige Ärzte Kranke nach Davos schicken würden. Gemäss dem Artikel war es deshalb entscheidend, mehr Ärzte auf den Kurort aufmerksam zu machen.51

Als Plattform für die Meinungsbildung boten sich Publikationen wie das Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte an, eine Fachzeitschrift, welche sich an Ärzte und Medizinwissenschaftler richtete. Ins Leben gerufen wurde sie 1871, kurz nach der Gründung des ärztlichen Centralvereins, vom Berner Professor Ernst Klebs (1834–1913). Dieser schrieb in der ersten Ausgabe, dass es Aufgabe der Zeitschrift sei, die «Beziehung zwischen den Vertretern ärztlichen Wissens und Handelns zu pflegen».52 Die Herausgeber wollten also zwischen universitärer Forschung und ärztlicher Praxis vermitteln. Eine Episode aus Flauberts Madame Bovary handelt davon, dass die Ärzte in die Praxis umzusetzen versuchten, was sie in Fachpublikationen gelesen haben: Homais, der Apotheker des Städtchens Yonville, hat «über eine vielgelobte Methode zur Heilung von Klumpfüssen gelesen».53 Er überzeugt nun Charles Bovary, mittlerweile Landarzt geworden, den klumpfüssigen Hippolyte zu operieren. Bovary führt die Operation mithilfe der Fachliteratur durch. Der Aufklärer Homais schreibt daraufhin im Fanal de Rouen: «Trotz der Vorurteile, die noch einen Teil Europas wie ein Netz überziehen, beginnt das Licht doch auch auf unsere ländlichen Gegenden zu fallen. Am Dienstag war unser Städtchen Yonville der Schauplatz eines chirurgischen Eingriffs, der gleichzeitig auch ein Beispiel schönster Menschenliebe darstellt.»54 Doch die Lobeshymne des Apothekers ist verfrüht. Die Operation stellt keinen Erfolg dar, das operierte Bein muss schliesslich amputiert werden.

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