Kitabı oku: «DAS GESCHENK»
Christiane Weller, Michael Stuhr
DAS GESCHENK
silent sea-Trilogie, Band 1
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
SILENT SEA
PROLOG
01 CAMPING NEPTUNE
02 DIE ALTE SCHULD
03 IN DER STRANDBAR
04 DER WÄCHTER
05 SIEG
06 SILBERPERLEN
07 OLDIES UND NAGELLACK
08 DOLORES
09 AUF DEM CATWALK
10 DER TEST
11 PANIK
12 DER BACKFLIP
13 DER FELS
14 HIGH HEELS
15 JAGDVORBEREITUNGEN
16 LES SABLES
17 TEEN-MISS-PORT-GRIMAUD
18 FLUCHT
19 FELIX FEHLT
20 DER IDIOT
21 DIE VERNEHMUNG
22 LOKALNACHRICHTEN
23 SOCHON
24 GENESUNG
25 COMMISSAIRE RENO
26 DER LASTWAGEN
27 Der Hirte
28 PASCALS PLAN
29 DER INQUISITOR
30 MONS
31 Ärger
32 DER TURM
33 SWEETWATER
34 Port Grimaud
35 GLATTE WOGEN
36 DIEGO
37 DER WASSERPLANET
38 ATLANTIS
39 PASCAL
40 DAS TRIBUNAL
41 AM STRAND
42 ENTFÜHRT
43 ABSCHIED
Impressum neobooks
SILENT SEA
MYSTERY-TRILOGIE
ERSTES BUCH
Alle Rechte bei
Christiane Weller
und Michael Stuhr
Coverfoto:
Christiane Weller
Covergestaltung:
Michael Stuhr
Herausgeber:
WELLER UND STUHR
Gießen und Lemgo
Liste lieferbarer eBooks:
www.thriller-fantasy-leseproben.de
PROLOG
Wie immer wusste er, dass es ein Traum war, aber schon das erste Bild erzeugte eine solche Panik in ihm, dass er verzweifelt versuchte, aufzuwachen.
Es würde nicht gelingen. Es konnte nicht gelingen, weil es nie gelang. Die Bilder würden an ihm vorbeirasen, wie ein Schnellzug in voller Fahrt, und es war sinnlos, erwachen zu wollen, bevor der letzte Waggon vorbeigerauscht war.
Er war den Bildern völlig ausgeliefert. Er kannte sie alle, aber das machte es nicht besser. Er wusste, wie der Traum zu Ende gehen würde. Er kannte das letzte Bild, das er fürchtete, wie nichts sonst auf der Welt: Das Bild, auf dem er sich in Adrianos Griff wand und zurückschaute in den sonnendurchfluteten Garten, wo sich die Strahlen der Sonne vieltausendfach in der leicht gekräuselten Wasserfläche des Pools brachen.
Es begann wie immer ganz friedlich: Er schwamm allein im Pool. Obwohl er erst fünf Jahre alt war, war er ein ausgezeichneter Schwimmer und durfte schon lange allein ins Wasser. Eigentlich war das immer schon so gewesen. Er konnte sich jedenfalls nicht erinnern, dass seine Eltern ihm je das Schwimmen verboten hätten – außer in Gesellschaft natürlich.
Waren Fremde in der Nähe, durfte er nicht ins Wasser. Seine Eltern hatten ihm erklärt, dass er so gut schwamm, dass die Fremden neidisch und ärgerlich werden könnten, wenn sie ihn im Wasser sahen, aber auch da gab es Ausnahmen. Es gab nämlich einerseits die Fremden, vor denen man nicht angeben durfte, und dann gab es da auch noch die Menschen vom Alten Bund. Mit deren Kindern durfte man im Wasser spielen, und das machte dann auch richtig Spaß.
Was die Fremden so unter Schwimmen verstanden, war für den Jungen sowieso uninteressant. Das war kaum mehr als ein müdes Geplansche, und sie waren auch viel zu schnell erschöpft. Die vom Alten Bund dagegen waren stark und es machte Spaß, sich mit ihnen im Wettkampf zu messen.
In seinem Traum war das Wetter immer schön, und unter all seiner Panik spürte er den Frieden des Augenblicks, das Salzwasser des Pools, die Sonne auf der Haut, die Ruhe ringsum.
Die bis zum Boden reichenden Terrassenfenster waren geöffnet, und leise Musik drang aus dem Haus. Es war ein Augenblick ungetrübten Glücks, ein unvergesslicher Moment, besonders hervorgehoben durch die Katastrophe, die gleich unausweichlich folgen musste.
Mit kraftvollen Bewegungen durchschnitt er das Wasser wie ein Delfin, tauchte ab, umrundete das Becken unter Wasser, und als er auftauchte, war sie da.
Er hatte es vorher gewusst, dass dieses kleine Mädchen am Beckenrand stehen würde, aber er erschreckte sich trotzdem jedes Mal. Sie hatte ihn beobachtet, als er getaucht war und das durfte eigentlich nicht sein. Hoffentlich hatte sie nicht bemerkt, dass er viel zu lange unter Wasser geblieben war. So lange, wie sie selbst es niemals auch nur ansatzweise schaffen würde.
Hatte sie es bemerkt? Es schien nicht so. Sie stand nur am Beckenrand und sah ihn mit tränenfeuchtem Gesicht an. Sie hatte irgendeinen Kummer. Er kannte das Mädchen vom Sehen. Der schwarze Haarschopf, die gebräunte Haut und das winzige, orangerote Bikinihöschen waren unverkennbar. Es war die Tochter der Nachbarn, die er hin und wieder aus dem Fenster seines Zimmers im ersten Stock gesehen hatte. Sie hatte in etwa sein Alter, aber sie hatten noch nie ein Wort miteinander gesprochen.
Betont langsam schwamm er auf die Leiter zu, aber trotzdem bildete sich vor seiner Brust eine Welle, die sich teilte und als hoch aufgewölbtes Dreieck aus Wasser und Lichtreflexen den ganzen Pool durchzog. Das Mädchen bemerkte es nicht. Die Kleine war ganz in ihrem Kummer gefangen und starrte mit leeren Augen über die Wasserfläche.
Der Erwachsene in ihm wollte ihr zurufen, dass sie weggehen sollte, ihm nicht zu nahe kommen, sich in Sicherheit bringen; aber er musste hilflos zusehen, wie der Junge in seinem Traum den Griff der Leiter erfasste und sich aus dem Wasser zog.
Das Mädchen sprach nicht. Das tat es nie, aber trotzdem wusste er, warum es hergekommen war: Der neue Hund der Kleinen war plötzlich gestorben und es waren nur die Dienstboten im Haus. Mürrische, ungeduldige Leute die sich weder für den Welpen noch für das Kind interessierten. Ihre Eltern waren unterwegs und sie hatte dort keinen Trost finden können, darum war sie über die Mauer geklettert, hin zu dem Nachbarjungen, den sie hier entdeckt hatte.
Unschlüssig stand der Junge am Rand des Pools und sah das Mädchen an. Er war so erzogen worden, sich nicht zu sehr mit Fremden einzulassen, und dieses hübsche, kleine Mädchen war ganz ohne Zweifel eine Fremde, das konnte er sofort erkennen. Aber sie war doch ungefährlich, so klein, wie sie war. Sie musste ungefährlich sein, denn sie war vor der Gleichgültigkeit im eigenen Haus in seinen Garten geflohen, um seinen Trost und seinen Schutz zu suchen. Und sie war sehr traurig. Stand einfach nur da und sah ihn mit ihren großen, dunklen Augen an, die immer noch in Tränen schwammen.
Der Junge spürte, wie allein und hilflos sie war. Sie wollte sich bloß bei einem menschlichen Wesen ausweinen. Sie suchte seine Nähe und sein Mitgefühl, und auf einmal war alles ganz einfach: Mit einem raschen Blick zum Haus vergewisserte er sich, dass niemand sie beobachtete, machte einen Schritt auf sie zu und legte ihr einen Arm um die Schultern.
Die Kleine atmete mit zitternden Lippen ein und legte scheu ihren Kopf an seinen Brustkorb. Sie war wirklich klein. Ihr Kopf reichte ihm gerade mal bis zum Kinn.
Er spürte ihr tränenfeuchtes Gesicht auf seiner Haut und wie ihr schmaler Körper unter kleinen Schluchzern vibrierte. Er zog sie ein wenig dichter an sich heran, weil sie ihm unendlich Leid tat, wie sie sich so an ihn lehnte und leise weinte. Irgendetwas in ihm gab nach und wurde plötzlich ganz weich. In einer schützenden Geste legte er auch noch den anderen Arm um sie und hielt sie fest.
Jetzt kam der Traum zu der Stelle, wo der Geist des Jungen den Körper kurz verließ. Er erhob sich ein Stück weit über die Szene und sah die beiden Kinder eng umschlungen auf dem Rasen an der Kante des Pools stehen. Für einen Moment war das hier der Mittelpunkt der Welt. Eine Oase der Ruhe, des Trostes und der unschuldigen Zuneigung. Kurz schwebte er über dem friedlichen Bild und sank wieder in den Körper des Jungen zurück.
Etwas hatte sich verändert.
Das tröstende Gefühl, das er ihr hatte geben wollen, war weit in den Hintergrund getreten und er spürte, dass die innige Berührung ihm selbst genauso gut tat wie ihr.
Er gab nicht nur, er konnte auch nehmen. Diesem völlig unerwarteten Überfluss an Wohlgefühl konnte er nicht widerstehen. Es war so, als würde er ein Geschenk erhalten, als würde das Mädchen ihm ihre ganze Kraft und Energie schenken, und er begann zu nehmen. Er spürte, wie ihre nackte, sonnenwarme Haut mit seiner zu verschmelzen schien. Er spürte wie die Energie, die sie ihm gab, in seinen Körper überströmte. Eigentlich hatte er sie nur trösten wollen, und jetzt das! War das die Belohnung dafür, wenn man sich gütig zeigte, und warum gab es dann das Verbot, sich mit Fremden abzugeben? Es war so ein gutes, übermächtiges Gefühl. Was konnte daran schlecht sein?
Er wollte mehr davon. Seine Arme umschlangen das Mädchen fester. Es gab nach und es war, als würde der Fluss der Energie zu einem gewaltigen Strom anschwellen. Er schloss die Augen. Machtvoll und unaufhaltsam ergoss sich dieses neue, unglaubliche Gefühl in seinen Körper, und er wollte mehr davon, immer mehr. Um nichts in der Welt wollte er dieses Mädchen je wieder loslassen.
Langsam ebbte der gewaltige Strom ab, wurde zu einem Fluss, einem Bach, einem Rinnsal, aber es war immer noch erregend und schön.
Er verstand es nicht, als er plötzlich Hände auf seinen Schultern spürte, die versuchten, ihn gewaltsam von dem Mädchen zu trennen. Er wehrte sich und hielt weiter fest. Er wollte auch noch den letzten Tropfen aus dieser wunderbaren Quelle genießen. Er spürte, wie etwas in seinen Armen zerbrach. Es fühlte sich an, als habe er ein dürres Bündel Holz zu stark an sich gepresst. Er öffnete die Augen und ließ los. Das Mädchen glitt zu Boden. Eine kräftige Hand schloss sich um seinen Oberarm und riss ihn von der Kleinen fort, bevor er sie noch einmal hatte ansehen können.
Es war sein Cousin Adriano, und er ging alles andere als sanft mit ihm um. Schnell und gewaltsam wurde er zum Haus geschleift, so sehr er sich auch wehrte, aber auf der Schwelle zum Salon gelang es ihm doch, sich noch einmal kurz umzudrehen.
Seine Mutter hatte sich auf den Rasen gekniet und die Hände vor das Gesicht gelegt, während sein Vater sich auf ein Knie herabgelassen hatte und fassungslos auf das aschgraue Bündel starrte, das zwischen ihm und seiner Frau lag.
Was konnte das sein, und wo war nur das Mädchen geblieben? Es war fort, und da war nur dieses kleine, dürre Etwas auf dem Rasen, das eine entfernte Ähnlichkeit mit einer menschlichen Gestalt hatte.
Der Vater sah zum Haus herüber. Rasch stand er auf und versuchte das, was da auf dem Rasen lag, vor dem Blick des Jungen zu verbergen, aber der hatte schon genug gesehen. Es war der völlig ausgedörrt wirkende Körper des kleinen Mädchens, der in seiner grotesk verrenkten Stellung wie eine zerbrochene Mumie wirkte. Das orangerote Bikinihöschen spannte sich immer noch um die grau und faltig gewordenen Hüften. Es leuchtete in der Sonne und sandte ihm ein letztes, höhnisches Signal der Lebensfreude und der Unbeschwertheit hinterher; aber das Letzte, was er mit seinem kurzen Blick wahrnahm, war der kleine, graugesichtige Schädel, um den herum ganze Büschel ausgefallener, schwarzer Haare lagen. Das Gesicht war nach oben gewandt, und es war die Maske des Todes, die da mit blicklosen Augen in den makellos blauen Himmel starrte.
Keuchend wachte er auf.
Früher war er oft schreiend aus seinem Bett hochgefahren, wenn der Traum ihn wieder mal ereilt hatte. aber mittlerweile war er älter und hatte sich fast an den Schrecken gewöhnt. Trotzdem raste sein Herz wie wahnsinnig und er merkte, dass seine Hand zitterte, als er das Deckbett zur Seite schlug und aufstand. Die grünen Leuchtziffern auf dem Wecker zeigten drei Uhr an.
Einige Minuten stand er am offenen Fenster und sah über die Küstenstraße auf das Meer hinaus. Weit draußen konnte er einige Lichter erkennen. Dort, weit vor Port Grimaud, lagen die wirklich großen Yachten auf Reede, die im Hafen niemals Platz gefunden hätten. Wie immer waren auch einige dabei, die Mitgliedern des Alten Bundes gehörten.
Die Unruhe in ihm hatte sich noch nicht gelegt. Er wandte sich vom Fenster ab und zog sich an, um das Hotel zu verlassen. Er musste hinab zum Strand. Nur das Meer konnte die alte Schuld von ihm abwaschen. – Für eine Weile wenigstens.
01 CAMPING NEPTUNE
Wir haben Aix en Provence gerade verlassen und alles klebt an mir, das Top, meine Bikinihose, die Hotpants. Schweißtropfen laufen kitzelnd in meinen Ausschnitt. Das Buch, mit dem ich bei unserer Abfahrt angefangen habe, steckt in dem Netz hinter dem Beifahrersitz. Paris liegt mittlerweile gut 700 Kilometer hinter uns und in spätestens einer Stunde werden wir in Port Grimaud sein.
Eigentlich lohnt es sich kaum noch; trotzdem versuche ich irgendwie zu schlafen. Schwierig, denn ich bin zwischen Gepäckstücken und einer Kühlbox zusammengequetscht, die zwischen mir und meinem Bruder steht. Ich könnte Didier verfluchen. Das meiste von dem Zeug, das den Fußraum hinten in unserem Kombi blockiert, gehört meinem Bruder. Nur wegen seinem dämlichen, aufblasbaren Kinderkanuboot hab ich die Knie fast am Kinn, wenn ich mich mal gerade hinsetzten will.
„Der Wohnwagen braucht ein Gegengewicht“, hat mein Vater mir wie jedes Jahr erklärt, als ich wieder mal protestierte. „Der Wagen muss auch was wiegen, sonst schlingerts.“
- Klar, so nen großen Peugeot kann man ja auch auf einer Hand wegtragen, wenn kein Kanu drin ist. - Bullshit!
Mein Vater hat wohl mitgekriegt, dass ich mich bewegt habe. „Ihr Lieben, den größten Teil der Fahrt haben wir geschafft“, erklärt er gut gelaunt. Kein Wunder. Sein Sitzplatz ist ja auch bequem.
Leise fluchend verlagere ich mein Gewicht auf die rechte Pobacke und ziehe meine Knie in Richtung Seitenfenster. Zwar sind wir wirklich bald da, aber dafür hab ich jetzt von Aix an bis zur Abfahrt in Richtung Meer das zweifelhafte Vergnügen, die knallheiße Nachmittagssonne auf meiner Haut zu spüren. Verzweifelt versuche ich, mir mein Handtuch zum Schutz über Kopf und Schultern zu ziehen. Da ich das Seitenfenster bis zum Anschlag runtergekurbelt habe, um nicht komplett zu ersticken, flattert mir das Handtuch aber immer wieder davon und ich muss kämpfen, damit es sich nicht vollends aus dem Staub macht. - Warum haben wir eigentlich immer noch kein Auto mit Klimaanlage?
Schließlich gebe ich auf und setze mich wieder gerade hin, so sind wenigstens ein Teil meiner Schultern und mein Kopf im Schatten. Der warme Fahrtwind streift meine zu einem Pferdeschwanz hochgebundenen Haare und lässt sie mir um die Ohren wehen. Ich schaue zum Fenster hinaus auf die an mir vorbeiziehende Landschaft. Die Häuser, die Bäume, die hier und dort aufblitzenden Pools in den Gärten flirren und glitzern im heißen Sonnenlicht. Ein Haus ohne Pool ist hier einfach nicht komplett. Ich liebe diese Gegend!
„Lana, Chérie, gibst zu mir bitte die Limonade aus der Kühlbox? Hier vorne das Wasser ist total warm.“
Mühsam mache ich mich ans Werk, die Kühlbox von Didiers Schmusekissen und seinem Dickschädel zu befreien, um sie öffnen zu können. „Was ist denn? Lass mich doch!“ murrt mein Bruder verschlafen, „Oder sind wir schon da?“
„Nein, sind wir noch nicht!“ fauche ich ihn an, während ich Maman die Limonade nach vorne reiche. „Penn du ruhig weiter, du hast ja Platz genug, während ich mich hier mit deinem blöden Boot abquäle!“
„Was kann ich denn dafür, dass du so ein Storch bist“, mault mein Bruder zurück, „außerdem liegt bei mir auch Zeug rum.“
„Ja klar“, gebe ich genervt zurück, „Dein aufblasbarer Riesenschwimmreifen, deine Luftmatratze, dein ganzes blödes Sandspielzeug. Soll ich weiter aufzählen?“
„Nun sei aber mal nicht ungerecht“, mischt sich meine Mutter ein, „Was blockiert denn unseren kompletten Wohnwagen? Deine Blaue Elise!“
„Weil ich damit immer alle Einkäufe machen muss!“, halte ich dagegen. „Chérie, hol doch mal drei rote Paprika, Chérie, ich brauche Zwiebeln, Chérie, das Wasser geht zur Neige.“
„Na, ja ...“ Mehr fällt meiner Mutter dazu nicht ein. – Treffer! Versenkt!
Bevor ich den Punkt verschenke, ziehe mich lieber in eine schweigende Schmollphase zurück.
Didier fängt es diesmal richtig listig an. „Wenn du es nicht gerne machst“, beginnt er, „könnte ja auch ich die Einkäufe ...“
„Nein!“, wird ihm gleich aus drei Kehlen das Wort abgeschnitten. Das könnte der kleinen Ratte so passen, den ganzen Tag mit meinem Roller rumzugurken, aber zum Glück ist er noch zu jung, und das wird auch noch eine ganze Zeit so bleiben. Pech gehabt!
„Ihr seid gemein!“, quengelt Didier. „Nur bis zum Supermarkt. Da würde doch keiner was sagen.“
Ich überlege, ob ich antworten soll, aber es ist mir einfach zu heiß dazu. Ich bin froh, dass wir bald da sind, auch wenn ich mich auf diese Ferien gar nicht freue. Eigentlich wollte ich dieses Jahr das erste Mal mit meinen Freundinnen zusammen in Urlaub fahren. Aber meine Eltern meinten, ich solle doch noch ein Mal mit ihnen mitkommen, damit Didier nicht ganz allein im Zelt schlafen muss. Er sei doch noch so klein und hätte doch noch Angst so ganz allein im Dunkeln. Nächstes Jahr hätte sich das dann ganz bestimmt ausgewachsen. Toll! Und wenn nicht? Was soll es wohl ausmachen, ob er elf oder zwölf Jahre alt ist?
In Gedanken fasse ich die Aussichten auf diesen Urlaub zusammen: Ich würde mit meinen siebzehn Jahren mit meinem kleinen Bruder im Kinderzelt schlafen, den größten Teil der Zeit das machen müssen, was meine Eltern wollen und mich ansonsten tödlich langweilen. Mein einziger Trost ist, dass wenigstens ein paar meiner Freunde aus den vergangenen Jahren dieses Jahr auch noch mal mit ihren Eltern mitfahren. Schön, dass es facebook gibt. Manchmal kann es die Laune echt verbessern.
Fleur ist schon seit einer Woche hier und Pauline sogar schon seit vierzehn Tagen. Na, dann ist es wenigstens nur die letzte Woche, in der ich allein bin. Was für ein Glück, sonst würden die ganzen drei Wochen in endloser Langeweile und Eintönigkeit dahin ziehen.
So sitze ich da, schmelze in der Hitze vor mich hin und starre geist- und sinnfrei aus dem Fenster. Ich bin froh, als wir endlich die Abfahrt Richtung St. Maxime und Port Grimaud erreichen.
„Da hinten ist schon das Meer!“, ruft meine Mutter.
Ja, Maman, so wie jedes Jahr an dieser Stelle! Aber ich sage natürlich nichts. Jetzt dauert es wirklich nicht mehr lange. Ich versuche meine zusammen gequetschten Gliedmaßen ein wenig zu strecken.
Die Straße von St. Maxime nach St. Tropez ist, wie immer um diese Nachmittagszeit, komplett verstopft. Mühsam schleichen wir Zentimeter um Zentimeter, Stoßstange an Stoßstange voran in Richtung Campingplatz. Es riecht nach Abgasen und heißem Asphalt und nach den sich zwischen den Autos hindurchmogelnden Motorrollern. ‚Die kommen schneller voran als wir’, stelle ich neidisch fest und mir wird immer klarer, dass meine Eltern mir die blaue Elise wohl nicht ganz uneigennützig geschenkt haben. Ich bin es nämlich, die jeden Morgen durch diese stinkende Blechlawine im Slalom in den Ort fahren wird, um Baguette und frische Croissants zu holen. Oh Mann, die Aussichten werden wirklich immer toller.
Endlich erreichen wir unseren Campingplatz und finden auch einen netten Autofahrer, der uns eine Lücke lässt, um nach links abzubiegen. Wir verlassen die Küstenstraße und den Verkehrslärm.
Das erstaunt mich jedes mal wieder. Die Einfahrt zum Campingplatz ist mit hohen Pinien und Oleanderbüschen gesäumt und hinter dem Eingangstor beginnt eine andere Welt: Schattige Bäume, Büsche, Blüten, Rasenflächen und sandige Wege. Der Lärm der Zikaden verschlingt den Verkehrlärm fast vollständig.
Wie jedes Jahr haben wir rechtzeitig unseren Platz nahe am Wasser reservieren lassen.
Nachdem Papa an der Rezeption die alljährliche Begrüßungszeremonie hinter sich gebracht hat, kommt er mit unserer Chipkarte zurück, mit der man das Eingangstor Tag und Nacht öffnen kann. Nur noch ein paar Meter, dann sind wir endlich da.
Langsam fahren wir die schmalen Wege entlang zu unserem Platz. Es ist derselbe wie jedes Jahr, deswegen finden wir ihn auch problemlos. Trotzdem ist Didier ausgestiegen und macht den Führer. Er winkt nach hier und zeigt nach da und freut sich, so ein wichtiges Amt bekleiden zu können. Soll er, ich will nur noch eins: ins Wasser! Und zwar so schnell wie möglich.
Verdammt! Ich ducke mich unwillkürlich auf meinem Sitz zusammen, denn etwas hat uns erkannt und verfolgt uns, etwas, das sofort, nachdem wir das Auto verlassen haben, erbarmungslos über uns herfallen wird, etwas Grausames, schrecklich Unerbittliches, das uns nicht so schnell aus seinen Fängen lassen wird: Monsieur Bardane!
Wir sind da. Zögernd öffne ich die Tür und sehe mich vorsichtig um. Natürlich! Er kommt uns nach und ist keine zehn Meter mehr entfernt. Meine Eltern haben ihn auch gesehen und gehen schnell ein paar Schritte, um den Stellplatz zu begutachten. Oh bitte nein! Jetzt wendet er sich natürlich mir zu! An Flucht ist nicht zu denken!
„Hallo Lana!“ Ein grünes Sonnenhütchen mit spindeldürren O-Beinen, die in Sandalen mit weißen Sportsocken stecken, kommt auf mich zugewackelt. Die blaugeblümten, langen Badeshorts und den faltigen Bauch darüber übersehe ich, denn was mich bannt, ist sein Gesicht. Beschattet von seinem Hütchen leuchtet mir als erstes der goldene Eckzahn entgegen, der mich als kleines Mädchen immer so sehr erschreckt hat. Ich hatte immer Angst gehabt, er wolle mich damit beißen.
In Wirklichkeit ist Monsieur Bardane gar nicht bösartig, sondern eigentlich sogar recht freundlich und hilfsbereit. Nur, er ist einfach wie eine Klette. Deswegen nennen wir ihn untereinander auch so – Bardane. Sein wirklicher Name lautet Georges Irgendwas. Er ist Rentner und kommt eigentlich aus Orleans. Den ganzen Sommer lang lebt er aber hier auf dem Campingplatz. Alle hier nennen ihn Georges. Er ist die wandelnde Platzzeitung, gewissermaßen die Paris Match des Camping Neptune. Er weiß alles und wenn er etwas nicht weiß, kriegt er es raus. Und er ist ein Geiselnehmer! Erwischt er dich, bist du verloren! Unter einer Stunde Smalltalk, in der man mit allen Neuigkeiten, ob man sie wissen will oder nicht, bombardiert wird, kommt man bei ihm nicht weg. Und das ist genau mein Problem! Ich – will – ins – Wasser!
„Lana, hast du schon gesehen?“ Speichelfeuchte Küsschen rechts – links –rechts, leider auf die Wange und nicht in die Luft. „Das Plakat an der Rezeption? Die machen morgen am Strand einen Schönheitswettbewerb. Eine Miss-Teen-Beach-Wahl!
„Ach ja? Da geh ich doch gleich mal gucken.“ Ich will mich wegdrehen.
„Warte mal!“, stoppt die Klette mich. „ Alle Campingplätze beteiligen sich. Die ersten drei von jedem Campingplatz hier werden dann abends ins Les Sables eingeladen.“
„Wow!“ Das beeindruckt mich nun wirklich. Das LS ist die größte, bekannteste und teuerste Disco hier in der Gegend. Ich war noch nie dort.
„Pass auf!“, fordert die Klette. „Da wird dann die Teen-Miss-Port-Grimaud gewählt. Bei Champagner und Kaviar!“ Er jubelt fast und sein Mund macht schmatzende Geräusche. „Das wäre doch was für dich, so wie du aussiehst!“
Bei diesen Worten mustert Monsieur Bardane meinen Körper auf eine Art, die mir ein seltsames Gefühl verursacht. Nichts gegen neue Verehrer, aber dieses grüne Hütchen macht wirklich alles kaputt.
„Ach ja? Interessant“, stottere ich verlegen.
„Ja, nicht wahr?“, grinst die Klette. „Da fällt mir ein, dass vor vier Jahren ...“
„Monsieur Bar... äh Georges, setzten sie meiner Tochter keine Flausen in den Kopf“, mischt sich meine Mutter ein und erlöst mich damit aus meiner Geiselhaft. Arme Maman! Aber sie hat sich freiwillig in seine Fänge begeben, und er schnappt prompt zu: „Madame Rouvier! Schön, dass Sie da sind!“ Wieder wird er seine spuckenden Küsschen los. „Haben Sie schon gehört, dass im letzten Jahr, kaum dass Sie weg waren, ein Holländer einen Unfall hatte? Armer Kerl, er ...“
Nun muss Papa wohl mit Didier alles alleine aufbauen. Mir egal! Ich schnappe mir mein Badehandtuch, winke Maman kurz zu und verschwinde in Richtung Strand.
Auf dem Weg hinunter zum Wasser begleitet mich das Schrillen der Zikaden und vermischt sich mit dem Duft nach Pinien, Oleanderblüten und heißem Sand zu einem einzigen, guten Gefühl: Urlaub!
Neugierig schaue ich nach allen Seiten, um zu sehen, ob ich jemand Bekanntes entdecke. Bis jetzt sieht es nicht gut aus, aber ich bin einfach zu schlapp, jetzt den ganzen Platz abzulaufen, um meine Freundinnen zu suchen. Ein wenig betrübt schlendere ich weiter zum Meer.
Es ist immer wieder schön, auf den freien Strand hinauszutreten. Der nach Salzwasser duftende warme Wind umspielt meinen verschwitzten Körper und lässt ihn frösteln. Obwohl mir von der Fahrt noch ganz heiß ist, schaudere ich einen Moment und überlege, ob ich wirklich ins Wasser gehen soll. Aber schließlich löse ich mein Haargummi, ziehe mein Top und die Hotpants aus, lasse sie beim Handtuch und den Badelatschen liegen, renne los und stürze mich nach einer kurzen Abkühlung mit einem Kopfsprung ins Meer.
Das warme Wasser umfängt mich wie eine gute alte Freundin, gleitet an meiner Haut entlang und lässt sie in einer leichten Gänsehaut erstarren, während ich tauche. Prustend komme ich wieder hoch, streife meine nassen Haare nach hinten und schaue mich um.
Es sind nicht mehr viele Leute am Strand. Die meisten duschen wohl schon und machen sich fertig für das Abendessen. Ein älteres Ehepaar hockt auf seiner Decke und unterhält sich. Zwei Jungen spielen noch bei den Felsen rechts von mir. Ich erkenne Paul, Didiers Freund vom letzten Jahr. Also ist seine Schwester Celine wohl auch da, denke ich. Ich kann sie zwar nicht wirklich leiden, aber vielleicht bin ich in der letzten Woche ja doch nicht ganz alleine hier.
Im Wasser ist außer mir niemand mehr. In schnellen Zügen schwimme ich zurück zum Strand und nehme meine Sachen mit zu der Dusche am Eingang zum Campingplatz.
Natürlich steht Monsieur Bardane noch bei unserem Platz und redet auf meine Eltern ein, die sich abschuften, um das Vorzelt mit ein paar Spannleinen in eine einigermaßen akzeptable Form zu zwingen. „... lauter Turnschuhe in der Waschmaschine“, höre ich ihn sagen. „Und dann musste die Platzleitung die Maschine auch noch ...“
Ich schalte meine Ohren auf Durchzug und helfe Didier, das alte Zweikabinenzelt aufzubauen, das jedes Jahr für ein paar Wochen unser Zuhause ist. Unser Auto ist schon mit einer großen, weißen Plane abgedeckt, damit die Sonne es tagsüber nicht allzu sehr aufheizt. Eingemottet! Dafür steht die Blaue Elise jetzt neben dem Wohnwagen. Wahrscheinlich freut sie sich schon auf die belustigten Blicke der Passanten, wenn wir unterwegs sind. Ich freue mich jedenfalls nicht darauf.
Elise ist ein Geschenk meines Vaters, und ich hasse sie! Sie ist veraltet, hässlich und lächerlich! Keine Ahnung mit welchem Schrotthändler mein Vater da in Kontakt gekommen war, aber mehr als hundert Euro hat er für diese Ausgeburt einer kranken Fantasie niemals ausgegeben. Eher weniger. Viel weniger!
Elise ist so etwas wie eine Kreuzung aus Moped, Roller und Supermarkt-Einkaufswagen. Sie ist kaum größer als ein Kinderfahrrad und sah immer schon so aus, als wäre jemand damit voll gegen die Wand gefahren. Die Räder sind winzig, aber dafür sind die Schutzbleche so breit wie Kohlenschaufeln. Als Krönung kommt das Ganze auch noch in einem verwaschenen, sehr hellen Babyschlüpferblau daher. Es ist grausam!
In gewissem Sinn ist Elise allerdings erstaunlich: Der kleinste Dreh am Gasgriff lässt sie nach vorne schießen, dass es einem die Arme lang zieht, und die Kurvenlage ist so hervorragend, als würde sie auf klebrigen Walzen laufen, und nicht auf diesen lächerlich kleinen Schubkarrenrädern. - Jedenfalls ist sie das schärfste Stück Metall von ganz Paris. Soweit ich weiß, hat mein Vater das Ding nie gefahren, und ich denke, er würde ziemlich blass werden bei dem Gedanken, mit was für einer Rakete seine Tochter da unterwegs ist. Das ist ein Geheimnis, das ich mit Elise teile, und das soll es auch bleiben.
Trotzdem kann ich sie nicht leiden. Besonders toll findet mein Vater es übrigens, dass Elise mit ihrem grotesk schmalen Lenker sogar durch die Tür unseres Wohnwagens passt, sodass ich selbst in den Ferien nicht darauf verzichten muss. Mit anderen Worten: Das Ding klebt an mir wie Hundekacke am Absatz und ich fürchte, ich werde es niemals loswerden, wenn ich nicht auswandere oder es mal versehentlich in die Seine plumpsen lasse.
„Gehen wir nachher noch zu Barnabé?“, will Didier wissen, als unser Zelt endlich steht.
„Klar doch!“, antwortet mein Vater.
Barnabé ist der Wirt des Strandrestaurants und unser Haupternährer im Urlaub. Wir kochen nur selten im Wohnwagen. Tagsüber gibt es immer nur irgendwelche Häppchen, aber am Abend wird dann im Restaurant richtig getafelt. Wenigstens etwas, auf das ich mich freuen kann in diesem verkorksten Urlaub.
„Ich gehe schon mal vor!“, gebe ich bekannt, nachdem ich schnell meine Schlafkabine eingeräumt und mich abendfein gemacht habe. Vielleicht treffe ich ja Fleur und Pauline, oder sonst irgendjemanden den ich kenne. - Bitte!