Kitabı oku: «Hinkels Mord»
Bisher von der Autorin bei KBV erschienen:
SOKO Marburg-Biedenkopf (Hg.)
Christina Bacher, geb. 1973 in Kaiserslautern, mischte lange Jahre in der Marburger Kulturszene mit und entdeckte dort ihre Leidenschaft für den Kriminalroman. Die Mitbegründerin des Marburger Krimifestivals und jahrelange Autorin der hr2-Ratekrimireihe Bolle und die Bolzplatzbande gab schließlich im CRIMINALE-Jahr 2016 die KBV-Anthologie SOKO Marburg-Biedenkopf heraus. Heute lebt die Journalistin und Autorin von Jugendbüchern und Kriminalromanen in Köln, wo sie vor einigen Jahren »Bachers Büro« gründete – eine Schmiede für Texte aller Art. www.bachers-buero.de
Christina Bacher
HINKELS
MORD
Kriminalroman
Originalausgabe
© 2020 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
E-Mail: info@kbv-verlag.de
Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
Umschlaggestaltung: Ralf Kramp
unter Verwendung von © Katharina Kaufmann
Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln
Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm
Printed in Germany
Print-ISBN 978-3-95441-522-9
E-Book-ISBN 978-3-95441-533-5
»In unmittelbarer Nähe von Marburg, westlich vom malerisch gelegenen Schlosse, erhebt sich eine mit herrlichen Eichen bewachsene Kuppe, der Dammelsberg. Es ist ein wunderbares Stückchen Erde, ein Lieblingsort der Bewohner Marburgs.
Könnten sie uns erzählen, die rauschenden Blätterkronen, viel würden sie uns erzählen von Freud und Last, die sie geschaut, von frohen Liedern, die sie vernommen.
Und doch!
Auch eine dunkle, furchtbare That ist hier geschehen, mitten auf einem der das Revier durchziehenden Pfade, nicht fern vom Saume des Waldes – ein Mord.«
Didaskalia vom 15. Juni 1864
Inhalt
9. September 1861, Dammelsberg, Dorothea Wiegand
1. Kapitel
12. September 1861, Oberstadt, Lorenz Reinhardt
2. Kapitel
12. September 1861, Medizinalrat Dr. Stadler
3. Kapitel
14. September 1861, Witwe Hilberg
4. Kapitel
Marburg, den 12.12.1861, Katherine Bald
5. Kapitel
20. Januar 1862, Gastwirtschaft Ruppersberg, Martha Mudersbach
6. Kapitel
14. Oktober 1864, Rabenstein, Regine Dörr
7. Kapitel
15. Juni 1864, Privatmann Schäfer
8. Kapitel
10. Oktober 1864, Seesen, Christian Schwarz
9. Kapitel
15. Juli 1864, Pfarrer Kolbe
10. Kapitel
13. Oktober 1864, Abschiedsbrief von Ludwig Hilberg
9. September 1861, Dammelsberg, Dorothea Wiegand
Immer weiter den steilen Berg hinauf. Trotz der ungewöhnlichen Hitze, dem Hinkefuß und dem dicken Bauch konnte es ihr heute nicht schnell genug gehen. Gleich würde sie ihm wieder nahe sein. Seine Küsse erwidern, ihn wild machen, sich liebkosen lassen. Und – ja, vor allem das! – endlich in Ruhe über die Hochzeit reden. Die immer dringlicher wurde, je schneller das Kind in ihr wuchs. Deswegen hatte sie sich heute besonders hübsch gemacht. Mit neuen Mützenbändern, die sie voller Liebe angenäht hatte. Gekauft von den vier Talern, die er ihr einst zugesteckt hatte.
Liebe. War es das, was sie in diesen frühen Morgenstunden den Dammelsberg hinauftrieb? Oder eher die Angst, dass der Ludwig doch nicht zu ihr stand?
Mit einem unehelichen Kind konnte sie nirgendwo mehr eine Stelle bekommen. Kein Haus würde sie beschäftigen wollen. Und ohne Arbeit, kein Lohn und keine Bleibe. Und doch hatte sie es, wenn sie ehrlich war, auch ein bisschen darauf angelegt. Denn jetzt musste er der Hochzeit zustimmen, unbenommen, was die Alte sagte. Diese zänkische, böse Frau. »Hinkel«, hatte sie ihr abfällig nachgerufen, »mach, dass du mir aus den Augen kommst!« Genauso hatten sie die Kinder früher in der Schule gerufen. Nicht nur wegen ihres Hinkebeins, sondern weil alle sie schon immer für dumm hielten. Dabei war sie alles andere als ein Hohlkopf. Sie würde es den Ockershäusern noch zeigen, die sie ablehnten, seit sie am 6. August 1837 ihren ersten Schrei getan und ihre unverheiratete Mutter in Misskredit gebracht hatte.
Sie hatte sich vorgenommen, das Herz des Schuhmachers Hilberg zu erobern und sich als Ehefrau im Hettche-Haus einzunisten – dort, wo er schon immer mit der Mutter lebte. Immerhin: Sie, Dorothea Wiegand, trug sein Kind unter dem Herzen. So würde er sie zur Frau nehmen müssen.
Und schlau hatte sie das eingefädelt, als sie im April ihre Arbeit dort aufgenommen und ihm schöne Augen gemacht hatte. Sobald die Mutter morgens aus dem Haus gewesen war, hatte Ludwig mit ihr gescherzt. Dieser schöne Mann mit dem dichten, schwarzen Haar und dem festen Griff. Es schauderte sie jetzt noch, wenn sie daran dachte, wie er sie an sich gedrückt hatte. Bald. Bald würde es wieder so sein wie im Frühjahr. Nur dann offiziell als Mann und Frau. Ob sie heute endlich den Heiratsantrag bekommen würde, auf den sie seit Wochen wartete? Sie wusste, dass auch er viel für sie empfand. Hätte er sie sonst heute an einen so romantischen Ort gelockt? Mitten in den Wald, wo nur ab und zu ein Forstläufer vorbeikam oder ein Student auf dem Weg zum Festplatz? Er hatte einen feinen Sinn für so was, der Ludwig. Er würde den Antrag dem Anlass gebührend feierlich gestalten.
Schnell, voran, es musste schon acht Uhr durch sein, so hoch wie die Sonne stand. Und sie würde es sich nie verzeihen, zu ihrem Antrag zu spät zu kommen. Seit sie den Ludwig heute Morgen in der Frühe gesehen hatte, schlug ihr Herz kräftig. Gleich nach dem Aufwachen war sie zu ihm gelaufen, um ihre Schuhe zum Beschlagen zu bringen. Das war nur ein Vorwand gewesen, weil sie sich nichts sehnlicher wünschte, als ihn wiederzusehen. Wie gestern schon, als er nicht zu Hause gewesen war und sie ihn zufällig auf der Barfüßer Straße mit dieser Regine Dörr gesehen hatte, die ihr hinterhergespuckt hatte. Und vorgestern, als er die Tür nicht geöffnet hatte, obwohl er ganz offensichtlich zu Hause gewesen war. Seit dem 22. August wusste er von dem Kind und hatte sich seither nicht freudig geäußert. Das tat weh. Das gab einen Stich ins Herz. Selbst als sie mit hohem Fieber im Landeskrankenhaus gelegen hatte, war er nicht vorstellig geworden. Dabei hatte er sich doch sicher auch nach ihr verzehrt. Ob er Angst vor dem Gerede der Leute hatte? Oder vor dem Groll der Mutter? Oder gab es die Verlobung wirklich, von der alle redeten? Mit dieser Regine aus Bauerbach. Dann war Eile geboten. Von wegen Hinkel. Sie, die Dorothea, fand immer Mittel und Wege, ans Ziel zu kommen. Ihr Bauch war schon stattlich, der Arzt hatte ihr bestätigt, dass sie bereits in der 20. Woche sei. Das Kind würde in weniger als fünf Monaten zur Welt kommen. Ludwig hatte die Wölbung nur entsetzt angestarrt. Dann aber das Treffen oben am Dammelsberg unter der großen Eiche vorgeschlagen.
Kurz blieb sie stehen, um Luft zu holen. Ehrfürchtig befühlte sie den Elisabeth-Taler, den sie an einer silbernen Kette um den Hals trug. Unter heißen Liebesschwüren hatte er ihr die Kette umgelegt. Und sie angefleht, das Kind wegmachen zu lassen. Darauf war sie nicht eingegangen, das Medaillon hatte sie aber natürlich behalten. Es zeigte die Heilige Elisabeth mit Krone, Heiligenschein und dem Modell einer Kirche in der rechten Hand. Es war das Einzige von Wert, das sie besaß und jemals besessen hatte, und sie würde es ihrem Kind irgendwann mal vererben. So würde es beschützt sein ein Leben lang.
Ludwig. Endlich wollte er sie alleine sehen. Unter vier Augen. Wie früher. Deutlicher konnte man nicht sagen, dass man sich sehnte. Oder?
1. Kapitel
Liva tanzte. Das Teufels-Zeug ging schnell ins Blut. Gut so. Genial, wie einfach man das Hirn mit ein paar Kräutern austricksen konnte. Ganz easy. Gib ihm Spice, und du bist frei.
Die Bässe wummerten durch ihren zierlichen Körper, fühlten sich an wie Schläge auf den Hinterkopf. Hirn raustanzen, Seele aus dem Leib treiben, die ganze Scheiße hinter sich lassen. Die Bässe waren heute ihre Freunde, der kleine Ehrenfelder Club ihr Heim. Dann war auch der Rest besser zu ertragen. Denn Tanzen half gegen Trauer. Und gegen die Wut. Wut und Angst. Tanzen war gut. So wild du kannst. Auf den Tag heute vor drei Jahren hatte sie ihren Bruder verloren, seitdem musste sie ohne ihn klarkommen. Sie hätte sich vielleicht damit abgefunden. Hätte sich der Trauer weiterhin hingegeben, wie es ihre Mutter seit Jahren tat.
Wären da nicht seit ein paar Monaten diese regelmäßigen seltsamen Anrufe in den Abendstunden gewesen. Und immer, wenn sie dranging, legte derjenige auf. Auch heute hatte sich der unbekannte Anrufer mit unterdrückter Nummer wieder gemeldet. Das konnte jeder sein, das war klar. Aber Liva bildete sich ein, dass es Alex war, der dahintersteckte. Vielleicht wollte er nur mal hören, ob es ihr gutging? Um nicht als verrückt dazustehen, hatte sie bislang niemandem von den Anrufen erzählt. Das war sicher besser so.
Heute hatte sie Alex ganz besonders vermisst. Sie hätte ihm gerne ihr Herz ausgeschüttet und ihren Kummer geklagt. Jetzt, wo es auf das Semesterende zuging, wollten alle Studierenden offenbar noch mal einen guten Eindruck machen – um sie herum nur noch Egos kurz vor dem Exitus. Ob das nur an diesen renommierten Journalistenschulen so war oder an jeder normalen Universität? Unerträglich jedenfalls. Fiese Andeutungen vom Prof in ihre Richtung. Alle verehrten den Hallermann, alle, sie ausgenommen. Und das wusste er und spielte die kleine Macht aus, die er hatte. Er saß am längeren Hebel, das wollte er beweisen.
Letzter Aufruf, Frau Lohrey. Ohne Thema, kein Abschluss, Frau Lohrey. Wenn das Thema Ihrer Reportage nicht rechtzeitig angemeldet wird, drehen Sie hier noch eine Runde, Frau Lohrey. So wird das nie etwas mit dem Journalismus, Leute.
Runden drehen. Gerne. Aber nicht an der Schule, sondern lieber hier, im Club. Sowieso: Warum sollte sie sich beeilen? Ob in Frankfurt, München, Berlin oder hier in Köln – überall freischaffende, schlecht verdienende Schreiberlinge mit lebenserhaltenden Nebenjobs. Sie schuftete jetzt schon mehrmals die Woche als Aushilfe in einer Bäckerei. Sollte sie doch noch überraschend ihren Abschluss an dieser hochehrwürdigen Schule machen – wobei sie keinen Schimmer hatte, welches Thema sie für ihre Abschlussreportage wählen sollte – würde da draußen bestimmt keine Tageszeitung, kein Hochglanzmagazin und schon gar kein Radiosender »Hier« schreien. So fing der Konkurrenzdruck schon unter den Studierenden an, die teilweise ein Praktikum nach dem anderen absolvierten.
Ihr Bruder hätte sich das alles nie gefallen lassen. Er hätte – da war sie sich sicher – seinen Platz an dieser Schmiede für Journalisten-Snobs nach kurzer Zeit aufgekündigt und sich was Neues gesucht. Wenn er etwas anpackte, dann mit voller Überzeugung. Liva erinnerte sich noch gut, wie beeindruckt sie gewesen war davon, wie er in seinem Geschichtsstudium aufgegangen war. Er hatte sogar seine Freundin vernachlässigt, wenn er an einem Thema dran gewesen war, das ihn interessierte. Und kam ihm jemand blöd, ignorierte er denjenigen einfach. Radikal. Konsequent. Auch ein bisschen verrückt. Alex eben.
War er deshalb verschwunden? Weil er nicht bereit gewesen war, ein Leben voller Kompromisse zu führen? Hatte er die Nase voll gehabt von all den Menschen, die etwas von ihm wollten – seine Mutter, die Freundin, die kleine Schwester, sein Freundeskreis? Liva hatte von solchen Leuten schon gehört, die ihr altes Leben einfach radikal abbrachen und woanders neu anfingen. So hart es war, sie konnte diese Erklärung besser ertragen als die Selbstmordtheorie ihrer Mutter. Immer und immer wieder hatte sie betont, ihr Sohn sei in den letzten Wochen vor seinem Verschwinden zerstreut gewesen, nahezu depressiv. Er habe eine Therapie begonnen, über die er aber nicht habe sprechen wollen. Obwohl Liva damals ja noch im selben Haushalt gelebt hatte, hatte sie von all dem nichts bemerkt. Vielleicht waren sich die Geschwister in diesen Jahren doch fremder gewesen als man gedacht hatte. Denn es gab wohl einiges, das sie über Alex’ Leben nicht gewusst hatte. Und auch das schmerzte sie.
Was würde sie dafür geben, zu erfahren, was tatsächlich an diesem 6. August vor drei Jahren in Marburg passiert war. Die Polizei hatte die Suche nach dem erwachsenen, jungen Mann zeitnah eingestellt, weil es keinerlei Hinweise auf ein Verbrechen gab.
Verflucht, was war nur los? Plötzlich all diese trüben Gedanken. Die Zauberkräuter wirkten nicht mehr. Dabei sollten sie doch diese Scheiß-Sorgen abschießen. Krieger, wo seid ihr? Vielleicht musste sie sich noch einen Joint genehmigen, wenigstens einen kleinen. Hier im Flore gab es kein Legal High, der Club galt als sauber. Vielleicht würde sie Konstantin doch noch überreden können, kurz mit rüber ins Fortuna zu gehen. Er hatte ihr doch selten einen Gefallen abschlagen können. Das war schon zu Schulzeiten so gewesen. Konstantin, ihr Freund und Helfer. Mit trübem Blick scannte sie die Theke ab, auf der Suche nach dem dunkelbraunen Lockenkopf. Da hinten saß er, ganz alleine mit seinem Bier und seinen Gedanken, genoss die lauten Beats und schaute hin und wieder zu ihr rüber. Sie freute sich, wenn es ihm gut ging. Das war selten in letzter Zeit, und Liva hatte das Gefühl, dass ihn etwas bedrückte. Darüber reden wollte er nicht, das hatte sie schon gemerkt.
Liva taumelte. Erst, als sie sich auf den Barhocker neben Konsti sinken ließ, fühlte sie sich wieder sicher. Seltsam, dass sie tanzen konnte, aber nicht mehr laufen. Dass sie rauchen konnte, nur nicht reden. Überhaupt: Dass man einsam sein konnte inmitten von Menschen – das war das Schlimmste.
»Wollen wir noch ins Fortuna? Auf einen Absacker?« Er wusste natürlich sofort, warum sie da hinwollte. Er kannte sie so lange, dass er ihre Bedürfnisse immer verstand. Dass man in dem Club leicht an illegale Drogen kam, wusste sie ja sogar von ihm. Einmal hatte er im Rahmen seines Praktikums der Sozialarbeit einen schwer erziehbaren Jugendlichen begleitet, der dort Drogen gekauft hatte und später bei einer Razzia festgenommen wurde. Konstantin war total fertig gewesen, Liva dagegen sehr interessiert.
Sie musste sich jetzt an ihrem Begleiter festhalten, um nicht zu fallen. Der Boden schien zu schwanken, und Konstantins Gesicht war ganz verzerrt, nicht mehr so hübsch wie sonst. Alle ihre Freundinnen waren früher in ihn vernarrt gewesen. Er aber hatte immer nur Augen für sie gehabt. Ihre Freundin Jessi hatte sie damit aufgezogen, dass er sich nur deshalb in der achten Klasse mit ihrem Bruder angefreundet hatte, um ihr nahe zu sein. Konsti und Alex waren nämlich das absolute Dream-Team gewesen, unzertrennlich, wie Brüder – bis zuletzt. Er vermisste den Freund auch schmerzlich, das wusste sie. Auch, wenn er darüber nie sprach.
»Ich bestell dir ein Taxi. Hast du deinen Schlüssel griffbereit?« So was fragte er nur, wenn er nicht mehr mit zu ihr kommen mochte. Manchmal kam er mit, nur, dass sie nicht alleine einschlafen musste. Aber auch das hatte er seit Monaten nicht mehr getan.
Liva bekam kurz Panik. Sie konnte jetzt unmöglich alleine sein. Die Bässe waren verklungen, der DJ packte seinen Kram zusammen, das Licht im Club wurde heller. Sie hasste es, wenn eine Nacht dem Ende zuging und sie noch nicht müde war. »Komm mit, Konsti. Komm mit nach Hause!« Liva schmiegte sich an den Freund. Spice, richtig dosiert, machte enorme Lust auf Sex. Konstantin war da natürlich der falsche Ansprechpartner. Er verurteilte es auf Schärfste, dass sie Männer mit nach Hause nahm, ohne sich am nächsten Morgen an deren Namen erinnern zu können. Das hatte er ihr mehrmals gesagt.
»Gute Nacht, Liv«, er schob sie raus in die kühle Nachtluft und winkte ein Taxi herbei.
Das machte sie jetzt richtig wütend. Warum sie sich nie in ihn verliebt hatte, lag doch auf der Hand: Er war eben langweilig. Was bitte war cool an einem Typen, der sich immer unter Kontrolle hatte? Der vom ersten Tag an seinen großen Traum geglaubt hatte: als Sozialarbeiter die Welt zu retten oder wenigstens ein kleines Stückchen besser zu machen. Inzwischen arbeitete er als Streetworker in einer Einrichtung für schwer erziehbare Jugendliche, nahm nie Drogen, trank selten einen über den Durst und machte täglich Sport.
»Du Spießer!« Sie wollte ihn aus der Reserve locken. Aus Verzweiflung. Und weil sie den ganzen Abend schon so eine große Wut in sich spürte, die mit ihm ja eigentlich nichts zu tun hatte. Ursprünglich hatten sie sich einfach nur treffen wollen, um an diesem besonderen Tag gemeinsam an Alex zu denken. Wie bereits im letzten und im vorletzten Jahr, als die Wunde noch ganz frisch gewesen war.
»Lieber Spießer als Junkie! Du solltest nach Hause gehen und deinen Rausch ausschlafen. Was denkst du, hätte Alex gesagt, wenn er dich so hätte sehen können?«
Das saß! Dabei sah er gerade gar nicht wütend, eher sehr traurig aus, während er sie in das Auto schob. Sie war doch keine seiner schwer erziehbaren Schützlinge, die er herumkommandieren konnte, wie er wollte. Eine Art Betreuer, der sie auf allen Wegen begleiten musste. Auch, wenn er es gut meinte, mochte sie so etwas gar nicht.
Konstantin schaute jetzt richtig enttäuscht. Liva wollte wieder was Nettes sagen. Sie war fies zu ihm gewesen, das tat ihr leid. Es ist diese Großstadt, die mich fertigmacht, wollte sie noch sagen. Quasi als Entschuldigung. Manchmal dachte sie, dass es für sie besser sei, nach Marburg zurückzugehen. In ihre Hood. Wo sie herkam. Wo ihre Familie war. Genauer: deren klägliche Überreste.
Konstantin schob sie in den Wagen und steckte der Taxifahrerin einen Schein zu. »Er wird nicht wiederkommen, Liva. Finde dich endlich damit ab«, sagte er noch, bevor er die Tür zuschlug. Dann war er schon außer Sichtweite. So deutlich hatte er noch nie gesagt, was er über Alex’ Verschwinden dachte. Auch er hatte ihn also für immer abgeschrieben?
Oder war er heute nur besonders schlecht drauf? Er war den ganzen Abend wieder so wortkarg gewesen. Ob er es irgendwann mal schaffen würde, sich ihr anzuvertrauen?
Liva glotzte durch die vernebelten Scheiben. Draußen war nur Dunkelheit.
»Wohin willste?« Die Taxifahrerin duzte sie einfach. Gut, sie war die Ältere. Vor allem aber war Liva schwächer, besoffener und augenscheinlich unglücklicher. Sie, die Frau am Steuer, war also die Überlegene. Ihr Blick ruhte im Rückspiegel auf dem neuen Fahrgast. Sie wartete auf eine Anweisung, bezahlt war ja schon.
»Ins Fortuna«, sagte Liva trotzig. »Kennen Sie die Adresse?«
Die Frau nickte. Natürlich. Jede Taxifahrerin in Köln kannte den Club.
Liva checkte ihr Handy, um zu schauen, wie spät es war. Mist, jetzt war auch noch der Akku leer.
»Es ist Viertel nach drei.« Die Rothaarige hinter dem Steuer hatte ihren Fahrgast offenbar gut im Blick.
Gut, dachte Liva. Um diese Uhrzeit ging es dort erst richtig los.
Erst mal war sie heilfroh, dass kein nackter Typ neben ihr lag. Alles schon passiert nach so einer Nacht, die aus dem Ruder gelaufen war. Als Nächstes ärgerte sie sich darüber, dass sie überhaupt wieder so versackt war, Konstantins Warnungen zum Trotz. Obwohl heute wieder dieses wichtige Reportage-Seminar stattfand, für das sie bis Ende nächster Woche ihre Abschlussarbeit anmelden musste. Tat sie das nicht, würde sie noch ein Semester dranhängen müssen. Was sie aber gerade am meisten nervte – und nur mit Mühe schaffte es Liva, sich in ihrem Bett aufzurichten – war dieses permanente Klingeln. Immer wieder, unablässig, hoch und schrill.
Mist, das war ja gar nicht in ihrem Kopf. Das musste das Telefon im Flur sein. Sie hatte diesen Ton so selten gehört, dass sie ihn zuerst gar nicht erkannte. Liva konnte sich nicht erinnern, dass überhaupt mal jemand auf ihrem Festnetz-Anschluss angerufen hatte. Ihre Freunde nutzten seit Jahren E-Mail, WhatsApp, Threema, Tellonym, Snapchat, SMS oder Insta. Wer – verflucht – besaß überhaupt diese antiquierte Festnetznummer? Die Telekom, okay. Ihr Vermieter, dieser alte Abzocker. Und ihre Mutter.
Mit einem Hechtsprung war sie im Flur und nahm umständlich den Hörer ab. »Ja?«
»Dr. Konrad Naumann, Universitäts-Klinikum Marburg. Sind Sie die Tochter?«
»Tochter?« Sie hörte, wie ihre eigene Stimme ganz seltsam hoch klang und fast kippte. Irgendwie hysterisch. Aufgescheucht. Nahezu verrückt. Was für einen Eindruck sie gerade hinterließ? Aber was Schlaueres fiel Liva gerade nicht ein. Es ging um ihre Mutter, das hatte sie kapiert. »Ist etwas mit meiner Mutter passiert? Geht es ihr gut?« Warum sagte man in solchen Momenten automatisch das, was nahezu unmöglich war? Würde ein Arzt anrufen, wenn alles in Butter war?
Der Mann am anderen Ende hustete, hörte gar nicht mehr auf. »Entschuldigung«, sagte er. »Ich habe mich gerade verschluckt.«
Liva wartete. Ihre Gedanken fuhren Karussell. Warum sprach er nicht weiter? Sie hatte ihre Mutter seit mehr als zwei Jahren nicht mehr besucht. Marburg war verbrannte Erde, Stadt ohne Bruder, Ort der Trauer. Klar. Ihre Mutter wollte sie nie ziehen lassen. Sie hatte Alex’ Stelle einnehmen sollen, den Platz des Erstgeborenen, des einzigen Sohnes. Wäre sie nicht weggezogen, wäre sie mit dieser Bürde vor die Hunde gegangen. Zurückgelassen hatte sie eine zerstörte Frau. Eine Mutter ohne Kinder.
Wie aus der Ferne hörte sie ihre eigene brüchige Stimme, panisch, voller Angst. »Was ist passiert?«
»Sie hat ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Es gab wohl heute Nacht im Haus Ihrer Mutter einen Einbruch. Offenbar hat sie den oder die Täter dabei überrascht. Jedenfalls wurde sie niedergeschlagen oder die Treppe hinuntergestoßen. In der Sache ermittelt die Polizei, die werden sich sicher noch mit Ihnen in Verbindung setzen.«
Die Marburger Polizei. Von der hatte Liva nun wirklich genug. Diese stundenlangen Gespräche nach Alex’ Verschwinden. Manchmal hatte sie sich wie bei einem Verhör gefühlt. Hatte die vielen unsensiblen Mutmaßungen über das Verschwinden eines 20-Jährigen über sich ergehen lassen müssen. Dabei Schuldgefühle entwickelt. Irgendwann war das nur noch durch das eine Ohr rein-, das andere wieder rausgegangen.
Liva bemerkte erst jetzt, dass der Arzt einfach weiterredete. »… Wir mussten sie in ein künstliches Koma versetzen, dass die Hirnschwellung zurückgeht.«
»Koma«, wiederholte Liva.
»Ja, der Zustand Ihrer Mutter ist sehr kritisch, Frau Lohrey.«
Liva hörte die Stimme des Arztes nur noch gedämpft. Ein Einbruch? Daheim? Was gab es dort schon zu holen – ihre Mutter hatte doch nie etwas von Wert besessen. Nicht mal eine Stereoanlage oder ein Computer befand sich in dem kleinen, windschiefen Häuschen an der Hohen Leuchte im Ortsteil Ockershausen, das ihre Vorfahren zu einer Zeit gebaut hatten, als der kleine Stadtteil noch gar nicht zu Marburg gehört hatte. Altes Fachwerk, von außen schön verputzt, innen marode.
Hatte der Arzt sie gerade etwas gefragt? »Wie bitte?«
»Können Sie schnellstmöglich nach Marburg kommen?« Pause. »Gibt es noch jemanden, den ich informieren muss? Einen Ehemann vielleicht?«
Liva zögerte und sagte dann: »Nein, gibt es nicht.« Sie notierte sich noch Station und Zimmernummer und den Namen des Arztes. Naumann.
»Ich bin schon unterwegs.« Dann legte sie auf. Es war jetzt kurz vor neun Uhr. Auch wenn sie sich sofort auf den Weg machte, würde sie erst weit nach Mittag in Marburg sein.
Liva zog den schwarzen Rollkoffer aus dem Schrank, den sie sich letztes Jahr für eine England-Rundreise gekauft hatte, die sie nie angetreten hatte. Was hatte sie in den letzten Jahren, seit sie zu Hause ausgezogen war, schon alles gewollt und nicht gemacht. Manchmal fühlte sie sich wie gelähmt in ihrem Sein. An manchen Tagen war sie einfach nur froh, wenn wieder ein Tag rum war. Aber all das war unwichtig in Momenten wie diesen. Zwei Jeans, zwei T-Shirts, einen Pullover, Kulturbeutel und Unterwäsche lagen jetzt kreuz und quer im Koffer. Ihr Laptop obenauf. Wie lange würde sie wegbleiben? Einen Tag? Eine Woche? Ihr altes und ihr neues Leben – nur drei Zugstunden voneinander entfernt – und doch waren es Lichtjahre.
Als Liva ein Geräusch aus dem Bad hörte, erschrak sie. Hatte da nicht eben jemand die Toilettenspülung betätigt? Und jetzt wurde Wasser in die Badewanne gelassen. Ein fröhliches Pfeifen drang an ihr Ohr, eine ihr völlig unbekannte Melodie. Panik ergriff sie, Scham. Jetzt fiel es ihr plötzlich wieder ein: Da war ein Junggesellenabschied im Fortuna gewesen. Und da hatte ihr dieser süße Typ erzählt, dass er am Wochenende heiraten würde. Seine besoffenen Freunde hatten genug mit sich selbst zu tun gehabt. Und dann war die unvermeidliche Frage gekommen, ob sie beide nicht lieber wohin gehen könnten, wo es ruhiger sei. Und dieser Mann befand sich offenbar gerade in ihrem Badezimmer. Was er noch nicht wusste: Er würde zu Hause baden müssen …
Sie hatte vollstes Verständnis für seine Reaktion. Wenn die Frau, mit der man die Nacht verbracht hat, plötzlich an die Tür pocht und in strengem Ton gebietet, sich vom Acker zu machen, ist das sicher nicht sehr lustig. Der Mann im Bademantel – und das hielt Liva ihm zugute – hatte es dennoch mit Fassung getragen, aber das fröhliche Pfeifen war ihm vergangen. So schnell sei er noch nie irgendwo rausgekehrt worden, hatte er vor sich hingemurmelt.
»Sehen wir uns denn mal wieder?« Nachtragend war er nicht und offenbar ein Romantiker, der in Verdrängung die Note 1+ verdient hatte. Der angehende Bräutigam hatte offenbar vergessen, dass er in 72 Stunden schon unter der Haube sein würde.
»Wenn du mich am Samstag zu deiner Hochzeit einladen möchtest, komme ich gerne«, Liva war selbst überrascht gewesen über ihre eigene Schlagfertigkeit. Erst, als sie sicher sein konnte, dass er das Haus wirklich verlassen hatte, hatte auch sie sich auf den Weg zum Bahnhof gemacht. Wobei sie – auch mit etwas zeitlichem Abstand – sagen musste, dass er auch noch am helllichten Tag ein Sahneschnittchen war. Wie er da so im Bad vor ihr gestanden und sie so lieb angeschaut hatte. Aber der Gute war ja eh bald vom Markt. Und sie musste sich jetzt erst mal um ihre Mutter kümmern.
Die Regionalbahn ab Frankfurt hielt heute gefühlt an jeder Bushaltestelle. Friedelhausen. Niederwalgern. Niederweimar. Noch zwei Stationen bis zum Marburger Hauptbahnhof. Jedes Fahrgeräusch verursachte ein lautes Dröhnen in ihrem Kopf, das Quietschen der alten Bremsen ließ sie jedes Mal zusammenzucken. Sie hatte zwar eine aktuelle Tageszeitung auf den Knien liegen, aber an Lesen war nicht zu denken. In ihrem Kopf rotierte es. Unzählige Male war sie diese Strecke von Köln über Frankfurt nach Marburg gefahren. Doch nie mit einer solchen Angst im Bauch, die sich umso mächtiger anfühlte, je näher sie ihrem Ziel kam. Was, wenn ihre Mutter, deren Leben gerade auf des Messers Schneide stand, die Augen für immer zumachte, ohne sich von ihr zu verabschieden? Das konnte, das durfte nicht passieren. Wenn Liva nicht schnell genug in der Klinik auf den Lahnbergen sein konnte, würde sie sich das nie verzeihen.
Erst als sie von Weitem das Schloss im Nebel ausmachen konnte, wurde sie innerlich ruhig. Als Kind hatte sie sich eingebildet, dass das neunhundert Jahre alte Gebäude über der Stadt alldiejenigen beschütze, die in seinem Schatten lebten. Es war in ihren Träumen immer ein freundliches Schloss gewesen, mit guten Kräften. Bis zu Alex’ rätselhaftem Verschwinden hätte sie sich nicht vorstellen können, dass in dem beschaulichen Städtchen an der Lahn überhaupt etwas Schlimmes geschehen konnte. Eins stand fest: Sie hatte sich hier viel zu lange viel zu sicher gefühlt.
Auf den ersten Blick hatte sich der Marburger Hauptbahnhof kaum verändert. Liva wurde ganz melancholisch, als sie aus dem Zug stieg. Wer hätte gedacht, dass sie doch so schnell wieder hierher zurückkehren würde? Sie erinnerte sich noch gut, wie sie – mit dem Gefühl der Trauer, aber auch einer großen Hoffnung, dass alles irgendwie wieder normal werden würde – mit ein paar Habseligkeiten nach Köln aufgebrochen war.
Während Liva mit der Menschenmasse – vor allem mit großen Rucksäcken bepackte Erstsemester – zum Ausgang drängte, schweifte ihr Blick rüber zum Ortenbergsteg, der über die Schienen führte. Sie sah hoch zum Kontrollturm, in dem ein Typ von der Bahn saß, den man über eine Sprechanlage erreichen konnte. Ein Mythos! Denn wie oft hatten Alex und sie kichernd diese Sprechtaste ausprobiert, ohne, dass sich jemals jemand gemeldet hatte. Dabei kannten sie die besten Bahnwitze und hatten eine Menge lustiger Fragen gesammelt. Aber die dort oben hatten offenbar ein gutes Fernglas und sahen, wer es ernst meinte oder wer sich einen Scherz erlaubte. In dem riesigen Bau dahinter befanden sich seit ein paar Jahren Proberäume und diese Disco, in der Alex seine große Liebe kennengelernt hatte. Melli. Ab dem Zeitpunkt, als die beiden zusammengekommen waren, hatte er dann Besseres zu tun gehabt, als mit der kleinen Schwester abzuhängen. Sogar von Zusammenziehen war nach kurzer Zeit die Rede gewesen. Da hatte es plötzlich einer ganz eilig gehabt, sich aus dem Gefängnis seiner Kindheit zu verabschieden, spotteten ein paar alte Freunde. Was er nie vernachlässigte, war sein Studium. Das hatte »Prio 1«, wie er immer gesagt hatte. Liva bewunderte das, wie konsequent er war.