Kitabı oku: «Seidenkinder», sayfa 5

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Fröhlich zogen die beiden ab.

Jaya blieb an seinem Schreibtisch sitzen, das Gesicht in den Händen vergraben, dachte über die unglaubliche Ähnlichkeit zwischen Rajas und seiner eigenen Geschichte nach und begann, leise zu beten.

Das Telefon klingelte unten in der Halle. Sunda, einer der beiden Erzieher, rannte, um den Hörer abzunehmen und zu antworten.

„Jaya“, rief er durch das ganze Haus, „es ist für dich.“ Jaya fragte sich, wer das sein könnte, verließ schnell sein Büro und kam zum Telefon gelaufen.

„Hallo, Jaya.“

Die Stimme hätte nicht sagen müssen, zu welcher Person sie gehörte, welchen Namen sie trug, er hätte sie wiedererkannt. Jaya räusperte sich: „Danke, dass Sie anrufen, Doktor Ranjini.“

„Bitte, nennen Sie mich doch Kala. Ich rufe an, um Ihnen zu sagen, dass ich es heute leider doch nicht schaffe, zu Ihnen in das Kinderheim zu kommen. Ich werde mich aber morgen im Laufe des Tages noch einmal bei Ihnen melden, um einen Termin zu vereinbaren, damit ich mir den kleinen Raja ansehen kann.“

Jaya nickte und erst als er merkte, dass es am anderen Ende der Leitung still wurde, realisierte er, dass sie sein Nicken nicht sehen konnte. „Ja“, sagte er. „Ja, vielen Dank. Bis morgen also.“

Kala sagte: „Ja, bis morgen.“

„Doktor Ranjini?“ Jayas Frage kam schnell und unüberlegt. „Ist alles in Ordnung? Oder habe ich mich in irgendeiner Weise falsch benommen Ihnen gegenüber?“

Er höre ihr feines Lachen. „Nein, nichts dergleichen. Aber auf der Säuglingsstation herrscht das Chaos, ein paar unvorhergesehene Problemfälle sind eingetroffen und ein paar Engpässe im Personalplan tun ihr Übriges. Ich kann hier gerade einfach nicht weg.“

Erleichtert sagte er: „Sie scheinen Ihren Beruf sehr zu lieben. Wird Ihr Mann da nicht manchmal eifersüchtig?“ Er hatte es fragen müssen, um sicherzugehen, um zu erfahren, ob sie verheiratet war und nur unverheiratet wirkte, und wartete angespannt auf ihre Antwort. „Ich bin nicht verheiratet“, kam es vom anderen Ende der Leitung. Ihre Gegenfrage stand unausgesprochen im Raum und er ersparte es ihr, sie formulieren zu müssen. „Ich bin selbst auch unverheiratet“, sagte er von sich aus.

Sie lachte wieder und fragte scherzhaft: „Und warum hat man für einen Mann wie Sie keine Ehe arrangiert?“

Er überlegte kurz, was und wie er es sagen sollte, und entschied sich für einen kurzen Satz: „Die Menschen scheinen schon immer gedacht zu haben, dass ich ein Typ bin, der allein zurechtkommt.“ Jaya selbst merkte erst in der abwartenden Stille zwischen ihnen, dass seine Antwort nicht eindeutig gewesen war und in zwei Richtungen interpretiert werden konnte. Er ärgerte sich über seine Formulierung, sie kam ihm unfair vor, als wolle er ihr Rätsel aufgeben, und sagte schnell: „Ich meinte damit, dass ich mich, entgegen allen Traditionen, wohl auch um diese Frage selbst kümmern muss.“

Sie spürte, dass in dieser Antwort viel Humor und gleichzeitig die Wahrheit lag, viel Einsamkeit wahrscheinlich obendrein. Sie entdeckte sich selbst in seiner Antwort wieder. Eine neue Art der Nähe zwischen ihnen war spürbar. Sie gaben beide einen zustimmenden Seufzer von sich und verabschiedeten sich voneinander.

„Bis morgen“, sagte Jaya und wiederholte noch ein paar Mal, auch als sie schon längst aufgelegt hatte, ihren Namen.

„Bis morgen, Kala.“

Am Abend, nach dem Essen, alle Hausaufgaben waren erledigt, das Geschirr wieder gespült und die Tische wieder sauber, der Boden gefegt, spielten die Jungen in ihren Zimmern. Die Gäste hatten ihnen mehrere Sets Mikado mitgebracht und jetzt saßen sie jeweils zu viert oder fünft auf dem Boden und übten sich in Geschicklichkeit.

Raja spielte mit und als er eine Spielrunde gewann, strahlte er über das ganze Gesicht. Das Großartige an diesem Moment des Erfolgs aber war, dass sich, wie bei jedem anderen auch, die anderen Jungen alle mitfreuten, ihm auf die Schulter schlugen, gratulierten, ihn lobten. So ging das jetzt seit über einer Stunde und einer der Gäste, der Journalist, der die Kinder beim Spielen beobachtete, traute schon die ganze Zeit über seinen Augen nicht. Er verstand nicht, wie man so eifrig spielen konnte, sich so ins Zeug legen, um zu beweisen, dass man es schaffen konnte, und dann trotzdem den anderen so von Herzen ihren Erfolg gönnte. Irgendetwas war hier völlig anders, als er es sonst kannte.

Gegen neun Uhr gingen die beiden Erzieher durch die Zimmer und riefen alle Kinder zum Abendgebet zusammen. Sie setzten sich im Gemeinschaftsraum, in dem auch gegessen wurde, in einem großen Kreis auf Matten auf den Boden, einige hatten Trommeln mitgebracht, alle ihre selbst gestalteten Liederbücher, und dann begannen sie laut zu singen. Raja setzte sich mit in den Kreis und hörte fasziniert zu. Die Gäste hatten sich außerhalb des Kreises auf Stühle gesetzt und waren auf ihre Weise ebenso begeistert von dem Gesang der Kinder.

Nach ein paar Liedern sagte Jaya: „Heute erzähle ich euch eine Geschichte, die mir eine schwarze Freundin aus Amerika einmal erzählt hat. Unsere Gäste haben weiße Haut, aber auch in ihrem Land gibt es Menschen, die dunkelhäutig sind. Ihr könnt sie gerne danach fragen, wie es dazu gekommen ist, nicht wahr?“ Er wandte sich fragend an die vier Männer, die sofort bereitwillig nickten.

Jaya sagte: „Ich bin der Dunkelste in meiner Familie, aber meine Mutter hat mir immer gesagt, dass ich schön bin und liebenswert. Und ich habe mich entschieden, ihr zu glauben. Sie hat uns Kinder immer alle gleich behandelt. Sie war darin ein großes Vorbild, finde ich. Andere würden zum Beispiel die Jungen vorziehen, aber meine kleine Schwester bekam genauso viel zu essen wie wir Brüder. Aber jetzt Schluss damit, kommen wir zur Geschichte.“

Jaya hatte für diesen Abend eine Geschichte ausgewählt, die die Kinder verstehen würden und die die Gäste an seinen Gedanken teilhaben lassen konnte. Und so begann er zu erzählen:

„Es war zu der Zeit, als Schwarze zum allerersten Mal Land kaufen durften, ein kleines Grundstück und ein eigenes Haus bauen; leicht, aus Holzbrettern; Kälte hielt das nicht ab, aber den Regen. Joanne wohnte zusammen mit ihren Eltern und vielen Geschwistern, ihren Tanten und Onkels und vielen Cousinen und Cousins, insgesamt an die zwanzig Kinder, in der Farmgegend. Hier arbeiteten die Erwachsenen auf dem Feld.

Eines Tages spielten die Kinder zusammen, als es plötzlich anfing zu regnen. Ein Sturm zog auf, der Himmel wurde dunkel, Tante Serena war die Einzige, die da war, und sie rief die Kinder ins Haus.

Ein Gewitter krachte und blitzte. Es regnete wie aus Eimern und der Sturm rüttelte an dem kleinen Haus.

Und dann traute Joanne ihren Augen nicht. Sie saßen alle zusammen in ihrem Holzhäuschen und plötzlich wurde eine Ecke des Hauses hochgehoben; es war einfach zu leicht. Da sagte ihre Tante Serena:

,Kinder, haltet euch an den Händen und geht mit mir zu der Ecke, wo das Haus wegfliegt, der Stelle, wo das Haus am leichtesten ist, und stellt euch mit eurem ganzen Gewicht gegen das Wetter.`

Sie taten sofort, was sie sagte. Alle blieben, niemand rannte weg und ließ das Haus im Stich. Sie waren eine Gruppe wie wir, an die zwanzig Kinder, Verbündete, die sich an den Händen hielten und die dann mal da und mal dort in die nächste Ecke gingen, sich an die Wand lehnten und wieder zurück in die Ecke gingen. Der Sturm zog vorbei und das Haus war stehen geblieben.“

Jaya schwieg für einen Moment und sagte dann: „Ich sage euch, warum ich diese Geschichte mag und was sie mir sagt. Dieses Erlebnis von Joanne ist eine Erfahrung, die ich auch immer wieder mache. Das Leben nimmt uns an die Hand. Wir stehen zusammen auf. Jeder einzelne Mensch hat Gewicht. Wir sollen uns gegen das Wetter stellen. Wir müssen zusammen in die Ecken gehen, wo diese Welt am schwächsten ist, wo das Lebenshaus von Familie Mensch am leichtesten auseinanderfliegen kann.“

Und damit stand er auf und sagte: „Kommt, lasst uns einen großen Kreis bilden und auch unsere Gäste und Raja mit hineinnehmen. Lasst uns einander an den Händen fassen und beten.“ Mit ein paar wenigen Worten bat Jaya seinen Gott um Segen und Schutz für die Nacht. Sie sangen ihr Gutenachtlied, ein Kinderlied, untermalt von Trommeln:

Segensreiche Nacht.

Die Engel singen.

Denn das Licht des Himmels kam zur Welt, liegt in seinem Bett, in einer Krippe.

Seine Mutter gibt ihm einen Kuss und singt ihm ein Schlaflied.

Segensreiche Nacht.


Kapitel 7

Das Geräusch des Motorrollers unterbrach Priya in ihren Gedanken. Sie lief, um das kleine Tor zu öffnen, aber als sie dort ankam, war Ganesh bereits vor ihr angekommen und ließ Jaya in den Hof fahren. Wo war der Kleine denn plötzlich hergekommen? Er war so leise und so unauffällig wie ein Chamäleon, das sich seiner Umgebung anpasste, um nicht entdeckt zu werden. Er schien jahrelange Übung darin zu haben, nicht aufzufallen, man musste das schon fast als eine besondere Fähigkeit betrachten.

Jaya war um das Haus herumgefahren, hatte geparkt und kam jetzt auf sie zugelaufen. Er grüßte mit einem Lachen und hielt eine kleine Tüte in der Hand, die er, als er näher kam, schwenkte, um sie neugierig zu machen. Sie erkannte das Papier, rosafarbene Servietten, in die der Bäcker in der Nähe des Kinderheims die köstlichen Süßigkeiten einwickelte.

Jaya hatte ihr schon früher häufiger Süßigkeiten gekauft, aber in letzter Zeit brachte er ihr immer öfter solche kleinen Aufmerksamkeiten mit. Vielleicht, weil er es sich jetzt leisten konnte, wie um die früheren Jahre des Verzichts ein wenig auszugleichen. Vielleicht, weil auch er ahnte, dass sie nicht mehr lange da sein würde, und man die Lebenden mit Aufmerksamkeiten bedenken sollte, denn die Toten zu beschenken, würde nicht viel Sinn machen.

Sie nahm die Papiertüte entgegen, öffnete sie, zog den süßen Duft von Mandeln, Kokos und Zucker ein und griff sofort mit zwei Fingern nach einer Makrone, schob sie sich in den Mund, verspielt, wie ein junges Mädchen, und kaute genussvoll auf der klebrigen Masse herum. Sie strahlte. Sie bot auch ihm davon an, aber er lehnte dankend ab, wie sie es schon vermutet hatte. Sie reichte die Papiertüte weiter an Ganesh, der sich erst nach einer weiteren Aufforderung traute, eins der leckeren Plätzchen für sich zu nehmen. Alle miteinander gingen sie ins Haus.

Kaum hatte sich Jaya in seinen Sessel gesetzt, brachte Ganesh ihm eine Tasse frischen Tee: geriebener Ingwer, Zitrone und Zucker mit ein paar Blättern Schwarztee in einer großen Kanne mit heißem Wasser aufgegossen. Jaya lehnte sich zurück und wartete, dass seine Mutter anfangen würde, zu reden. Er konnte ihr ansehen, dass sie sich kaum noch zurückhalten konnte, wusste aber auch, dass sie aus Rücksicht auf ihn noch einen Moment wartete, bis er sich etwas entspannt hatte und zu Hause angekommen war. Er nickte ihr zu.

Priya gab sich gar nicht erst die Mühe, ihre Gedanken zu ordnen, sondern überließ es Jaya, sich aus dem bunten Angebot ein Thema herauszusuchen, dem er zuerst nachgehen wollte. Und so sprach sie ohne Pause, in einem Fluss, schnappte nur hin und wieder kurz nach Luft und erzählte von ihren Beobachtungen gestern Abend, fragte nach den Gästen und ob er ihnen auch die Geschichte von Doktor Ida erzählt habe, wie er es oft mit Gästen tat, erwähnte kurz die Saatgut-Satyagraha der Reisbauern in Chattisgarh, die sie im Fernsehen gesehen hatte, brachte ganz beiläufig ins Spiel, dass sie bemerkt hatte, dass die Gäste ihn angestrengt hatten, fragte nach, ob ihm die Mango geschmeckt hatte und das Essen, sagte ein paar wohlwollende Worte über Ganesh, hielt nicht zurück, dass sie sich über Shantis Mutter ärgerte, die ihre Tochter Ornamente mit Kreide malen ließ statt mit zermahlenem Reis, warf kurz ein, dass sie wirklich froh sei über die guten Niemblätter, sagte, dass ihr wieder eingefallen war, dass der Palar früher, als sie noch ein kleines Mädchen war, nie ganz ausgetrocknet gewesen war, und fragte, ob er ihr eine Erklärung dafür liefern könnte.

Sie sprudelte nur so. Sie wollte ihre Gedanken mit ihm teilen, erwartete Antworten von ihm auf ihre Fragen und wollte ihrerseits hören, was ihn bewegte, wie sein Tag gewesen war, was er erlebt hatte. Es war wunderbar, ihm erzählen zu können, was sie bewegte, aber das Größte für sie war, wenn er sie umgekehrt mit hineinnahm in seine Welt, in seine Überlegungen und Entscheidungen. Sie lehnte sich zurück und wartete, was er sagen würde.

Jaya fing langsam und mit ausgesuchten Worten an, von seinem Tag zu erzählen, und begann mit einem Satz, der eher ungewöhnlich für ihn war: „Heute habe ich oft an dich gedacht, Ma.“

Sie zog fragend die Stirn in Falten. Der kleine Satz klang ernst. Gleich würde er ihr sicher sagen, warum.

Jaya erzählte, und was er zu berichten hatte, klang zunächst nach einem ganz normalen Tag. Er erwähnte kurz, dass er mit seinen amerikanischen Gästen im CMC gewesen war und eine Klinikführung für sie organisiert hatte, beschloss, Dr. Ranjinis Namen nicht zu nennen, sondern von dem zu erzählen, was ihn tatsächlich am meisten beschäftigte, Raja. Dass ein neuer Junge in das Kinderheim aufgenommen worden war, war, wenn auch keine alltägliche Zeremonie, doch nicht so außergewöhnlich. Aber etwas war besonders an Raja, sie spürte es. Und dann, als sie die Geschichte dieses neuen Jungen hörte, wurde ihr auch schnell klar, warum Jaya an sie hatte denken müssen. Denn die Geschichte des Neuen war Jayas eigener und damit ihrer verblüffend ähnlich.

Jaya erzählte. Leiser als sonst. Während er von Raja berichtete, lief ein Film in seinem Kopf ab, der aus Bildern der Vergangenheit bestand und ihm seine eigene Entwicklung in Erinnerung rief und sehr konkret vor Augen malte. Ja, er meinte, selbst die Gerüche dieser Jahre wahrnehmen zu können, das brackige Wasser in den Pfützen auf der Straße, wo er gekniet hatte und kleine Palmkörbchen verkauft hatte, die Mischung aus Schweiß und saurer Milch, die in der Kleidung seiner Mutter hing, die staubige alte Matratze in der kleinen Hütte, in der sie wohnten. So roch der Hunger, so roch die Armut. Er führte den Becher mit Tee zum Mund, nahm einen großen Schluck und verjagte die Gerüche. Er versuchte, sich der Gegenwart zuzuwenden, dem Jungen, dem er heute ein Zuhause geschenkt hatte, und fuhr bewusst fröhlicher fort: „Raja ist ein aufgeweckter Junge.“ So wie du damals, dachte Priya. „Er ist in der Stadt aufgewachsen, in den Slums, in Chennai. Sein Vater hat in Sri Lanka Stoffe verkauft.“ Genau wie deiner, dachte Priya. Wie viele Inder es in der Vergangenheit gemacht haben, um Geld zu verdienen. „Seine Mutter hat keine Ausbildung machen können.“ Wie ich, dachte Priya. Jaya sah sie an; beiden war die Parallele deutlich bewusst. Er wusste nicht, ob er wirklich weitererzählen sollte.

Priya sah ihn fragend an und Jaya sah darin eine Aufforderung, weiterzumachen. „Rajas Vater verlor seine Anstellung und kam zurück nach Indien. Er hatte auch in Sri Lanka schon zu viel getrunken, wohl aus Einsamkeit, fand hier keinen neuen Job und starb, als er betrunken auf die Straße lief und auf einer viel befahrenen Kreuzung unter einen Wagen kam. Rajas Mutter starb nur ein paar Wochen später.“ Priya seufzte: „Der arme Kleine, das ist zu viel.“

Jaya sagte nachdenklich: „Er hat nicht genau gesagt, was mit seiner Mutter geschehen ist. Aber ich denke, dass sie lebensmüde war, zu verzweifelt. Der Verlauf ihrer Krankengeschichte hört sich so an, als habe sie vielleicht Gift geschluckt. Man hat ihr nicht mehr helfen können. Ihre Jüngste war wohl die ganze Zeit bei ihr, die beiden Älteren, die Söhne, waren auf sich gestellt. Der Älteste ist weggelaufen, Raja ist in der Nähe des Krankenhauses geblieben und hat es irgendwie und mit viel Geschick geschafft, hier zu überleben. Irgendwo in der Stadt könnte es eine Tante geben, sie war der Grund, warum die Familie nach dem Tod des Vaters überhaupt nach Vellore gekommen ist. Vielleicht können wir sie ausfindig machen. Rajas kleine Schwester hat man sicher in eins der Mädchenheime gebracht und wir können ihre Spur verfolgen. Die Mutter“, Jaya schüttelte den Kopf, „wie verzweifelt sie gewesen sein muss, dass sie sogar riskierte, ihre Kinder im Stich zu lassen!“

Und genau hier hört die Ähnlichkeit auf, dachte Priya und setzte sich ein bisschen aufrechter in ihren Sessel. Hatte sie jemals den Gedanken gehabt, aufzugeben? Es hatte wohl Momente gegeben, in denen sie müde war, sehr müde. Tage, an denen schon das Aufstehen am Morgen unendlich schwerfiel. Tage, an denen sie verzweifelt zusehen musste, wie ihre Kinder sich vor Hunger den Bauch hielten, und sie einfach nicht wusste, wie sie ihnen helfen sollte. Das Gefühl, dass ihre Brüste nicht genug Milch hatten, um ihr Neugeborenes zu stillen, war herzzerreißend gewesen. Und doch hatte sie weitergelebt. Gekämpft. Gebetet. Hatte Maria ihr Kind nicht in einer Hütte zur Welt bringen müssen? Und doch war es heilig gewesen. Hatte sie nicht auch fliehen müssen? Sie hatte immer gehofft. Nein, ihre vier Kinder hatten sie Kraft gekostet und doch gleichzeitig auch immer wieder Kräfte in ihr geweckt. Sie hatte leben wollen. Alle gemeinsam hatten sie kleine Körbe aus Palmblättern geflochten und sie am Straßenrand verkauft, bis spät in die Nacht hinein. So hatten sie es irgendwie geschafft, zu überleben. Allein und völlig auf sich gestellt. Eine Witwe und vier kleine Kinder. Nein, lebensmüde war sie zum Glück nie gewesen.

Jaya sah seine Mutter an. Sie hatte nie viel über diese Jahre gesprochen. Aber er hatte Fragen. Und in letzter Zeit drängte es ihn, sie zu stellen. Aber er war dabei immer unsicher, ob er ihr zumuten dürfe, sich mit den dunklen schweren Bildern von gestern auseinanderzusetzen. Er wusste, sie war stark und zäh, und deshalb wagte er es, eine erste, sehr direkte Frage zu stellen, von der er nicht wusste, wie man sie umschreiben sollte: Wie ist Papa gestorben?

Priya atmete langsam weiter. Sie kniff den Mund zusammen und für einen Moment dachte Jaya, sie wolle ihm signalisieren, dass die Antwort verschlossen sei und nicht über ihre Lippen käme. Aber dann redete sie doch.

„Deine Geschichte ist der von Raja sehr ähnlich. Auch dein Vater hat getrunken. Der Alkohol hat ihm wohl geholfen, seinen Misserfolg zu vergessen. Als er krank wurde - eigentlich war es eine einfache Grippe -, hatte er keine Abwehrkräfte und wurde nicht wieder gesund. Ich habe ihn am Morgen gefunden. Vor der Tür unserer Hütte, mit einer Flasche in der Hand, tot.“

Jaya spürte, dass er wohl nicht mehr Einzelheiten erfahren würde, zumindest nicht heute, und gab sich zufrieden. Stattdessen erzählte er, wie er Raja kennengelernt hatte.

„Ich habe ihn eingeladen, sich das Haus anzusehen und die anderen Jungen kennenzulernen. Er ist ohne zu zögern mitgekommen.“

Priya nickte: „Du hast das Richtige getan. Wir müssen teilen, was wir haben.“

„Ja“, sagte Jaya, „das stimmt. Und weißt du, das ist immer das Beste, was passieren kann. Es gibt mir das untrügliche Gefühl, dass hier ein Kind ist, das seine Chance erkennt und deshalb nicht wegwerfen wird. Raja wird uns nicht enttäuschen.“

Priya nickte zustimmend und sagte: „So wie du damals den weißen Missionar nicht enttäuscht hast. Erinnerst du dich noch?“

Oh ja, das tat er. Er schob die Gedanken an den kleinen Raja beiseite, hoffte, dass sein Besuch in den Gästezimmern des Kinderheims gut versorgt war, sah für einen Moment die funkelnden Augen von Dr. Kala Ranjini vor sich und tauchte dann vollkommen ein in die Erinnerung an den Tag, der zum ersten Mal alles in seinem Leben wirklich zum Guten verändern sollte. Nicht, dass er an Einzelheiten zurückdenken konnte, dafür war er wohl noch zu jung gewesen, gerade erst fünf. Die konkreten Bilder stammten aus den Erzählungen seiner Mutter, er selber verband mit dem Tag der wunderbaren Wendung, wie Priya ihn nannte, nur ein unbestimmtes, aber starkes Gefühl von Glück.

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22 aralık 2023
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9783865064417
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