Kitabı oku: «Die 1968er-Jahre in der Schweiz», sayfa 3
Zu einem breiteren Kreis der kritischen Geister der damaligen Zeit gehören die sogenannten Nonkonformisten, ein Begriff, den ursprünglich rechtsbürgerliche Kreise despektierlich für eine Reihe von Journalisten, Autoren und Intellektuellen verwenden, die sich in ihrem öffentlichen Engagement kritisch mit gesellschaftspolitischen Themen auseinandersetzen. Sie sind aber keineswegs «junge Wilde», die für radikale Visionen einer Schweiz kämpfen oder in ihren literarischen und künstlerischen Ausdrucksformen grundlegend neue Wege zu beschreiten versuchen. Zwischen 1920 und 1930 geboren, walten Nonkonformisten als eine Scharniergeneration zu den «68ern». Mit ihrem konsequenten Auftreten auf der öffentlichen Bühne gelingt es ihnen, Einspruch in der von Kompromissen geprägten schweizerischen Gesellschaft und Politik zu erheben und an der Konformität und Selbstgenügsamkeit der Nachkriegsschweiz zu kratzen.
Zur nonkonformistischen Kritik gesellen sich auch etablierte liberale Intellektuelle, die vom «Unbehagen im Kleinstaat» (Karl Schmid 1963) und der «helvetischen Malaise» (Max Imboden 1964) sprechen und damit auf grundlegende Spannungen in der schweizerischen Politik und Gesellschaft hinweisen. Doch im Gegensatz zur späteren Kritik der «68er», die sich vom «Sonderfall Schweiz» zu lösen sucht, sind sie überzeugt, dass sich Deutungen und Lösungen im nationalen Rahmen finden lassen und die notwendigen Reformen durchaus auf helvetischen Werten und Traditionen beruhen sollen.
Einen Ausgangspunkt für die nonkonformistische Strömung bildet die 1955 veröffentlichte Broschüre «achtung: die Schweiz» von Max Frisch, Lucius Burckhardt und Markus Kutter. Darin prangern die Autoren die raum- und städteplanerische Konzeptlosigkeit der Schweiz an und deuten sie als Zeichen des vorherrschenden Immobilismus. Als Antwort schlagen sie für die Landesausstellung von 1964 in Lausanne den Bau einer Musterstadt im Grünen vor. Das Projekt wird nicht realisiert, obwohl einige der an der Expo 64 gezeigten Kunstwerke und Bauten durchaus einen Hauch von Avantgarde und Moderne versprühen. Im Grossen und Ganzen vermittelt die Ausstellung jedoch ein folkloristisches, rückwärtsgewandtes Selbstbild der Schweiz, gepaart mit dem Fortschrittsglauben der Hochkonjunktur. Daher verfassen einige Autoren aus dem Kreis der Nonkonformisten die Streitschrift «Expo 64 – Trugbild der Schweiz», in der sie an der Ausstellung das bewusste Ausklammern wichtiger Zukunftsfragen und die Unterdrückung von Auseinandersetzungen kritisieren.
In den folgenden Jahren fahren einige Autoren damit fort, in gesellschaftspolitischen Debatten zu intervenieren und Kritik an den eingespielten Argumentationsweisen zu üben. 1965 publiziert Max Frisch seinen berühmt gewordenen Text zur sogenannten Fremdarbeiterfrage, 1967 stellt Alfred A. Häsler in «Das Boot ist voll» die unmenschliche Flüchtlingspolitik der Schweizer Behörden während des Zweiten Weltkriegs an den Pranger. In der Westschweiz wird das «feuilleton littéraire», die Wochenendbeilage der «Gazette de Lausanne», zu einem publizistischen Forum, wo eine Reihe von Autoren wie Franck Jotterand und André Kuenzi kritisch über gesellschaftspolitische und kulturelle Themen schreiben. Es entsteht ein Art Pendant zur nonkonformistischen Strömung in der Deutschschweiz.
Die 1960er-Jahre bilden auch einen fruchtbaren Boden für Neugründungen von Zeitschriften. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang die «neutralität», die der 24-jährige Student Paul Ignaz Vogel 1963 aus Unzufriedenheit über das «erstarrte geistige und politische Klima» in der Schweiz gründet. Die ersten Nummern redigiert er vom Küchentisch in der elterlichen Wohnung aus. Die Zeitschrift trifft offensichtlich zumindest bei den Autoren einen Nerv. Schon in der zweiten Ausgabe schreiben Arnold Künzli und Hansjörg Schneider, im dritten Heft gesellen sich Heinrich Böll und Konrad Farner dazu. Bei den Abonnenten bringt indessen erst das Erstarken des Nonkonformismus im Winter 1964/65 einen Wendepunkt. Bis 1967 erreicht die Zeitschrift eine Auflage von 1000 Exemplaren.
Auch das schweizerische Filmschaffen gerät allmählich in Bewegung und kündigt – wie Martin Schaub in seiner Geschichte des Schweizer Films schreibt – den Bruch von «1968» früher an als anderswo. Anfang der 1960er-Jahre ist das einheimische Filmschaffen noch weitgehend durch kleinbürgerliche und bäuerliche Themen und melodramatische Inszenierungen geprägt. Das Aufkommen einer jüngeren Generation von Filmemachern läutet die Phase des Neuen Schweizer Films ein. An der Expo 64 zeigt Henry Brandt unter dem Titel «La Suisse s’interroge» fünf Kurzfilme zu aktuellen gesellschaftspolitischen Themen wie Immigration, Umweltproblemen, Konsumgesellschaft und Wohnungsnot und grenzt sich ab von zwei mit viel Aufwand produzierten Filmen: der erste eine touristische Landschaftsschau der Schweiz, der zweite ein geräuschvoller Armeefilm. Im gleichen Jahr erscheint Alexander J. Seilers «Siamo Italiani», ein eindrücklicher, kreativ mit filmischen Mitteln arbeitender Dokumentarstreifen zur italienischen Immigration in die Schweiz. 1966 findet die erste Ausgabe der Solothurner Filmtage statt, die in den nächsten Jahren zum Treffpunkt des Schweizer Filmschaffens werden. In der Westschweiz streben eine Reihe von Filmemachern wie Alain Tanner, Claude Goretta, Francis Reusser und Yves Yersin nach einem Aufbruch, was später als Nouveau cinéma suisse bezeichnet wird. Insbesondere Alain Tanner, der Ende der 1950er-Jahre im Umfeld des britischen New Cinema Erfahrungen sammelt und zusammen mit Claude Goretta den Experimentalfilm «Nice Time» (1957) dreht, entwickelt sich auch zum international renommierten Repräsentanten des anderen Schweizer Films.
Weite Kreise der bürgerlichen Schweiz fühlen sich von den nonkonformistischen Strömungen in Kunst, Literatur und Film provoziert und manifestieren ihre Abneigung gegenüber dem aufkommenden kritischen Geist, eine Abneigung, die bis zur tiefen Abscheu geht, wie der sogenannte Zürcher Literaturstreit verdeutlicht: Als Emil Staiger, renommierter Professor für deutsche Literatur an der Universität Zürich, 1966 den Literaturpreis der Stadt Zürich im dortigen Schauspielhaus entgegennimmt, spricht er in seiner Dankesrede von der «über die ganze westliche Welt verbreiteten Legion von Dichtern, deren Lebensberuf es ist, im Scheusslichen und Gemeinen zu wühlen». Seine Tirade richtet sich gegen die zeitgenössische Littérature engagée, die er als «krank», «verbrecherisch», «nihilistisch» und als «Kloakenliteratur» verpönt. In der Folge nimmt eine Reihe von Intellektuellen vehement Stellung gegen Staigers Rede, sodass der Literaturstreit zumindest im etablierten Kulturbetrieb Zürichs gewissermassen den Beginn des Kulturkampfs von «1968» markiert.
Avantgarde in Kunst und Kultur
In Bern organisiert sich in den 1960er-Jahren eine Kultur- und Literaturszene, die ihre Vorläufer in den 1950er-Jahren hat und die Stadt zu einem Ort künstlerischer Avantgarde macht. 1953 erscheint die erste Ausgabe der «spirale», der «internationalen zeitschrift für junge kunst», unter anderem mit Gedichten der konkreten Poesie, und zeigt, dass neben Zürich auch Bern Epigonen der weltweit aufkommenden konkreten Kunst aufweist. Vom damaligen Geist künstlerischer Avantgarde in der Bundeshauptstadt zeugen Leute wie Eugen Gomringer, ein von Stéphane Mallarmé und Guillaume Apollinaire beeinflusster Vertreter der konkreten Poesie, oder Claus Bremer, der während seiner Theatertätigkeit in der BRD von John Cages Minimal Music beeinflusst wird und von 1960 bis 1962 als Dramaturg am Berner Stadttheater tätig ist.
Anfang der 1960er-Jahre schliesst sich in Bern ein Kreis von gesellschaftskritischen Schriftstellern und Journalisten sowie Avantgardekünstlern, aber auch Anhängern einer subkulturellen, von der Beat-Generation geprägten Jugendkultur zusammen. Es ist der Beginn des Berner «Untergrunds», wie es im damaligen Sprachgebrauch heisst. Basis und Treffpunkt ist die «Junkere 37», ein Keller an der Junkerngasse 37, den der Künstler Franz Gertsch, der Verleger Niklaus von Steiger, der Volkskundler und Erzähler Sergius Golowin und der Schriftsteller Zeno Zürcher ab 1964 mieten. Dass das Veranstaltungslokal einen Namen im Deutschschweizer Dialekt erhält, ist kein Zufall. Mundartdichtung spielt für diesen Kreis, zu dem auch Schriftsteller wie Kurt Marti, Walter Matthias Diggelmann und Peter Bichsel zählen, eine wichtige Rolle. «Junkere 37» strahlt als Ort für Lesungen, Vorträge, Diskussionspodien und Ausstellungen weit über Bern hinaus. Im Oktober 1966 nimmt auch Theodor W. Adorno an einer Diskussion im Keller «Junkere 37» teil, der sich – wie die «Weltwoche» schreibt – zum «Berner Hyde-Park» entwickelt.
Als im Sommer 1966 eine heftige öffentliche Debatte um die Verhaftung des Berner Grossrats Arthur Villard, seines Zeichens Präsident der Vereinigung Internationale der Kriegsdienstverweigerer (IDK), wegen Dienstverweigerung aus Gewissensgründen entbrennt, es zu breiten Solidaritätskundgebungen kommt und die bürgerliche Presse mit Etikettierungen wie «Nestbeschmutzer» jene diffamiert, die öffentlich mit Villard sympathisieren, beginnt sich die Szene um die «Junkere 37» zunehmend zu politisieren. Während die als staatsgefährdend eingestufte IDK bereits damals unter intensiver Beobachtung der Bundespolizei steht, unterstützt drei Jahre später der Vorsteher des Eidgenössischen Militärdepartements, Bundesrat Rudolf Gnägi, in einem internen Schreiben die Bestrebungen, «dass unsere Abwehr gegen subversive Einflüsse und Agitationen verschärft werden muss».
Seit Anfang der 1960er-Jahre tritt der Zürcher Poet und Performer Urban Gwerder in Erscheinung und fungiert dann in der 68er-Bewegung als einer der Hauptvertreter der Subkultur. 1961 veröffentlicht er mit 16 Jahren den Aufsatz «Die Moderne», in dem er Stéphane Mallarmé, Arthur Rimbaud, Wladimir Majakowski, Federico García Lorca und Ezra Pound als Wegweiser der modernen Literatur bezeichnet. Ein Jahr später folgt der Gedichtband «Oase der Bitternis» im Arche Verlag. 1966 bringt er das Zürcher Kunst- und Kulturestablishment in helle Aufregung, als er in der Nacht vor der Einweihung der Gedenktafel «50 Jahre Dada» am ehemaligen Haus des Cabaret Voltaire diese mit einem Flugblatt überklebt und sein «AnarCHIE du Manifeste» als Protestnote zu den offiziellen Jubiläumsfestivitäten im Niederdorf verteilt. Die ausländische Presse berichtet über die Aktion und stellt sie in die Tradition des Dadaismus, während die städtischen Behörden wenig Verständnis dafür zeigen. Im gleichen Jahr ist Gwerder mit seiner multimedialen «Poëtenz»-Show in der Schweiz und der BRD auf Tournee. Auf den Veranstaltungsplakaten wird angekündigt, dass die Eintrittspreise Fr. 2.75 für «Gastarbeiter», Fr. 5.50 für «Normale» und Fr. 11.— für «Studenten und Militär» betragen. Die Aufführungen sind eine Mischung aus Wort, Ton und Bild und erinnern an die Poetry Readings der Beatniks, Auftritte der amerikanischen Band The Fugs und den Theaterstücken Alfred Jarrys. Gwerders Spoken Words und Kabaretteinlagen sind begleitet von der improvisierten Musik der Beat-Band The Onion Gook, die überdies live zum 27-minütigen 16-mm-Film «Chicoree» spielt, Fredi Murers experimentellem Streifen über Gwerder, dessen Aktionen und Familienleben. Wie ein Filmkritiker schreibt, ist die «Poëtenz»-Show «das erste Pop-Kunstwerk von Bedeutung in der Schweiz».
Opposition von links
Auch organisatorisch gibt es zahlreiche Wegbereiter für «1968». Die 1958 gegründete Schweizerische Bewegung gegen die atomare Aufrüstung (SBgaA) ist eine der einflussreichsten Vorläuferinnen. Angesichts des Klimas des Kalten Kriegs steht sie von Anfang an im Blick der Behörden, und so pflegt ihr Präsident jeweils bei der Begrüssung der Versammelten die anwesenden Vertreter des Staatsschutzes willkommen zu heissen. Ende der 1950er-Jahre lanciert die SBgaA eine Initiative für das Verbot von Atomwaffen, die in der Volksabstimmung 1962 von gerade 34,8 Prozent der Stimmbürger unterstützt wird. Wichtiger im Hinblick auf die 68er-Bewegung ist jedoch, dass die SBgaA neue Aktionsformen erprobt, um ihre Forderungen durchzusetzen. Sie arbeitet nicht nur mit den traditionellen Mitteln der direkten Demokratie wie Initiativen und Referenden, sondern setzt auch auf spontane Aktivierungen, auf zivilen Ungehorsam und gewaltfreie Aktionen.
Ein jährlich wiederkehrendes Beispiel für die unkonventionellen Aktionsformen sind die Ostermärsche, die nach internationalem Vorbild zwischen 1963 und 1967 auch in der Schweiz durchgeführt werden, zunächst in der französischen Schweiz, in späteren Jahren auch in der Deutschschweiz. Dass die ersten Ostermärsche in der Westschweiz stattfinden und von Lausanne nach Genf führen, ist kein Zufall. Hier sind die Sympathien für die Antiatombewegung gross, was auch in den Abstimmungen zu friedenspolitischen Initiativen und Referenden jener Jahre zu Ausdruck kommt. Ausserdem haben bereits in den 1950er-Jahren die drei Chevallier-Initiativen, die eine Beschränkung der Militärausgaben verlangten, aber nie zur Abstimmung kamen, in der französischen Schweiz breite Kreise mobilisiert.
Neben den neuen Aktionsformen bereitet die Friedensbewegung den «68ern» auch inhaltlich den Weg. Als die Schweiz 1967 den Atomsperrvertrag unterzeichnet, verlagern sich die friedenspolitischen Interessen der Bewegung zu Themen im Ausland, und der Friedensmarsch von jenem Jahr stellt den Protest gegen den Vietnamkrieg, eines der wichtigsten Mobilisierungsmomente der späteren 68er-Bewegung, ins Zentrum. Schliesslich gibt es zwischen der Antiatombewegung und den «68ern» auch personelle Kontinuitäten. Einige Aktivisten der 68er-Bewegung absolvieren ihre politische Lehre in den friedenspolitischen Aktivitäten der frühen 1960er-Jahre. Am vorläufig letzten Friedensmarsch im April 1967 in Bern machen sich denn auch die ersten Vertreter der maoistischen Neuen Linken bemerkbar. Der Umstand, dass sie Vietcong-Fahnen mit sich tragen, führt zu Dissonanzen und heftigen Auseinandersetzungen innerhalb der grösstenteils pazifistisch ausgerichteten Friedensbewegung.
Damit ist schon angedeutet, dass sich auch in der Schweiz eine Neue Linke in den frühen 1960er-Jahren bemerkbar macht. Doch im Gegensatz zu anderen westeuropäischen Ländern entstehen die wichtigsten Gruppen und Organisationen der Neuen Linken erst nach den Ereignissen von 1968. Das Schisma zwischen der UdSSR und China, das sich im Lauf der 1950er-Jahre anbahnt, aber erst 1963 in der Öffentlichkeit bekannt wird, hat auch in der Schweiz die Abtrennung von maoistischen Gruppen von der kommunistischen, an der Sowjetunion orientierten Partei der Arbeit (PdA) zur Folge. Die erste maoistische Strömung, die in der Schweiz entsteht, ist der Parti communiste suisse, der der ehemalige Boxer Gérard Bulliard nach einem Besuch in Albanien im Jahr 1963 gründet. Die von ihm herausgegebene Zeitschrift «L’étincelle» fällt unter anderem durch ihren antisemitisch motivierten Antizionismus auf. Eine weitere maoistische Gruppe ist das 1964 vom Schweden Nils Andersson gegründete Centre Lénine, aus dem drei Jahre später die Organisation des communistes de Suisse (Marxiste-Léniniste) mit der Zeitschrift «Octobre» hervorgeht. Diese Umbenennung erlebt Andersson allerdings nicht mehr mit, denn er ist kurz zuvor wegen Gefährdung der inneren und äusseren Sicherheit aus der Schweiz ausgewiesen worden.
Auch innerhalb der PdA beginnt es in den 1960er-Jahren zu gären. Vor allem die junge Generation wendet sich gegen die Orthodoxie der Parteispitze und beginnt sich für maoistische und trotzkistische Autoren zu interessieren. 1964 gründen sie in Zürich die Junge Sektion der PdA, die bei den Ereignissen im Sommer 1968 eine wichtige Rolle spielen wird. Auch im Waadtländer Parti ouvrier et populaire (POP) setzt eine allmähliche Absetzbewegung von der Mutterpartei ein, und zwar unter dem Einfluss von Charles-André Udry, der 1966 in die Partei eingetreten ist, um sie trotzkistisch zu unterwandern. Zusammen mit anderen begründet er die Tendance de gauche, aus der später die neulinke Ligue marxiste révolutionnaire (LMR) hervorgehen wird. Ähnliche Entwicklungen finden auch in den Basler, Genfer und Tessiner Sektionen der PdA statt. In dissidenten Kreisen der Alten Linken werden im Lauf der 1960er-Jahre zudem neue Zeitungen und Zeitschriften auf den Markt gebracht, etwa die 1963 gegründete «Domaine public», die sich am linken Rand der Sozialdemokratie positioniert, oder die 1965 erstmals erscheinende «politica nuova», die aus der Antiatombewegung hervorgeht und von Abweichlern der Tessiner Sozialdemokraten herausgegeben wird. Diese werden sich 1969 zur erfolgreichsten Partei der Neuen Linken im Tessin, dem Partito socialista autonomo (PSA), vereinigen.
Erste Aktionen von Studierenden
Die Studierenden beginnen sich ebenfalls in den 1960er-Jahren neu zu formieren und Verbesserungen ihrer Situation zu fordern. Ein früher Vertreter dieser Bewegung ist der zwischen 1956 und 1964 aktive Mouvement démocratique des étudiants (MDE), der in Lausanne und Genf insgesamt etwa 100 bis 200 Studierende versammelt. Die hauptsächlichen Forderungen und Aktivitäten des MDE, der seinen Höhepunkt zu Beginn der 1960er-Jahre erlebt, beziehen sich vor allem auf eine Demokratisierung der Universitäten, studentischen Syndikalismus sowie auf den Algerienkrieg und Fragen des Antikolonialismus. Am 1. November 1960 organisiert der MDE in Lausanne ein erstes Treffen zum Thema des Algerienkriegs, das ein beträchtliches Publikum anzieht und in der Presse auf grosses Echo stösst. Ein Jahr später findet in Genf eine Solidaritätsveranstaltung mit den algerischen Studenten statt, an der eine Petition an den Grossen Rat verabschiedet wird, die eine Spitalbehandlung junger Algerier, die im Befreiungskrieg verletzt worden sind, und die Zusprechung von Stipendien an in die Schweiz geflüchtete Studenten fordert. Der MDE ist auch ein gutes Beispiel für die Bedeutung von organisatorischen und persönlichen Netzwerken. Während die Gruppe bei der SBgaA mitmacht, baut der Gründer des Centre Lénine, Nils Andersson, im Zuge der Solidaritätsaktionen für Algerien enge Beziehungen zum MDE auf. Zudem sind ehemalige Mitglieder des MDE später in der RML aktiv. Wichtige Nachfolgeorganisationen des MDE sind die 1962 in Genf gegründete Action syndicale universitaire, die im Mai 1968 eine wichtige Rolle spielen wird, und das Rassemblement des étudiants de gauche.
Auch an anderen Universitäten entstehen in den 1960er-Jahren studentische Organisationen und Gruppierungen, die 1968 und in den darauf folgenden Jahren zu wichtigen Akteuren der 68er-Bewegung werden. Zu nennen ist etwa die 1963 gegründete Fortschrittliche Studentenschaft Zürich (FSZ), die sich 1967 zusammen mit der Jungen Sektion der PdA im Rahmen der Organisation zweier grosser Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg mit weiteren Gruppierungen zu den Fortschrittlichen Arbeitern und Studenten (FAS), später Fortschrittliche Arbeiter, Schüler und Studenten (FASS), zusammentun und ab Sommer 1968 einige beachtliche Mobilisierungserfolge erzielen. An der Universität Bern konstituiert sich 1966 das forum politicum, in dem vor allem Studierende der Soziologie aktiv sind. Sie beklagen sich über die undemokratischen universitären Strukturen und engagieren sich im Studentenrat und in anderen studentischen Gremien. Öffentliche Aufmerksamkeit erregt die Gruppe, als sie am 26. November 1966 eine Manifestation gegen den Vietnamkrieg organisiert, die von Couleur-Studenten gestört wird. Diese versuchen, das Verlesen dreier Resolutionen mit Burschenliedern zu übertönen. Dank diesem Zwischenfall schafft es die Vietnam-Demonstration, die als erstes Lebenszeichen der sich formierenden Studierendenbewegung in Bern gewertet werden kann, am nächsten Tag auf die Frontseite des «Blick». Im folgenden Jahr bemüht sich das forum politicum, die in der BRD entstehenden Diskussionen in die Schweiz zu tragen, als sie im Zusammenhang mit dem Schah-Besuch in der BRD Anfang Juni 1967 zusammen mit der FSZ eine Podiumsdiskussion zur Situation in Persien veranstaltet. Eingeladen ist der junge iranische Literaturwissenschaftler Bahman Nirumand, der am 1. Juni 1967, also einen Tag bevor Benno Ohnesorg in Berlin erschossen wird, im überfüllten Audimax der Berliner Freien Universität ein Referat hält.
Trotz der Heterogenität der verschiedenen Szenen, Gruppierungen, Zeitschriften und Projekte der späten 1950er- und der 1960er-Jahre sind gewisse gemeinsame Deutungen und Anliegen kennzeichnend. Es besteht ein Unbehagen über das geistige und politische Klima in der Schweiz, das als erstarrt, konformistisch, langweilig, kleinkariert und konservativ empfunden wird. Viele, wenn auch nicht alle der Kritiker und Aufmüpfigen in diesen Jahren sind jung und in den 1940er-Jahren geboren. Ihr Ziel ist es, die Erwachsenengeneration und etablierte Kreise der Gesellschaft zu provozieren, sei dies durch radikale politische Forderungen oder durch ihren Lebensstil, durch Auftreten, Kleidung, Frisuren oder Musik. Während die aufkommende Pop- und Rockkultur Ausdruck einer Aufbruchsstimmung ist, die den Jugendlichen ein Gefühl des Ausbruchs aus der normierten Existenz der Nachkriegsschweiz gibt, beginnt der Vietnamkrieg als politischer Katalysator für eine ganze Generation zu wirken. Der Protest dagegen vereinigt die verschiedensten Akteurinnen und Akteure, und als er sich um 1968 radikalisiert, verändert er nachhaltig die Art und Weise, wie in der Schweiz politische Forderungen artikuliert werden. Derweil sind Konzerte, Musik, Drogen und Fanzines Teil einer entstehenden Gegenkultur und Akte der Befreiung, die ein neues Lebensgefühl vermitteln und einen umfassenden kulturellen Umbruch in der schweizerischen Gesellschaft ankündigen.
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