Kitabı oku: «Els», sayfa 2

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Vanille und Erdbeer

Els träumt, und im Traum ist sie in einem anderen Land. Dieses Land ist ein einziger grosser Garten mit Gewächsen, von denen Els nur den Hibiskus kennt und die Bananenstauden. Alles ist grün in diesem Land, grün mit bunten Sprenkeln, selbst die Sonne. Els breitet die Arme aus und rennt auf einem Pfad dahin. Das Grün fängt sie auf, als sie stürzt, und es trägt sie. Aus ihren Händen und Füssen spriessen Wurzelfäden. Einen der Fäden erfasst Els sanft mit den Zähnen. Ihr Mund füllt sich mit einem bitteren Geschmack. Sie erwacht.

Etwas hat sich verändert, das spürt Els ganz deutlich. Sie liegt ruhig da, und plötzlich weiss sie es: Das Ticken der Wanduhr neben der Tür fehlt. Das Pendel ist irgendwann stehengeblieben, während Els schlafend weitergegangen ist. Die Zeit hat mich verlassen, denkt Els. Wenn sie den Kopf dreht, kann sie vom Bett aus zwar das hölzerne Gehäuse sehen, nicht aber das Zifferblatt. Rasch steht sie auf, richtet die Zeiger nach der Armbanduhr und zieht das Uhrwerk auf. Das Ticken setzt ein und füllt den Raum mit seiner monotonen Sprechweise. Els fühlt sich auf der Stelle besser. Ha-llo Ol-sson, ha-llo Ol-sson, sagt Els im Rhythmus des Tickens. Olsson ist der Schriftzug auf dem Zifferblatt. Die Uhr ist ein Ungetüm, viel zu sperrig hängt sie an der Wand von Els’ enger Kammer, wie ein Findling macht sie sich aus in dieser Umgebung, die Unnützes weder kennt noch braucht, am allerwenigsten eine Pendeluhr. Doch sie ist nun einmal da, gehört zwar nicht Els, gehört aber zu Hukejaure, genau wie die Bank draussen an der Westwand und der Bunker auf halbem Weg zur Waschstelle. Sie ist der Pulsschlag der Tage am Rand der Welt. Die Uhr muss ein Erbstück ihres Vorgängers sein, oder des Vorgängers des Vorgängers. Eine Jahrzahl ist ins Holz eingekerbt, und die Kerben sind schwarz nachgedunkelt. Rechts und links der Zahl zwei wie von Kinderhand gezeichnete Sterne. In der nachtlosen Zeit von Mittsommer muten sie fremd an. Vielleicht zeigt die Zahl ein Hochzeitsjahr an oder das Fabrikationsjahr der Uhr. Dann wäre die Uhr gleich alt wie Els’ Mutter, wenn diese noch lebte.

Els denkt, dass sie nicht nur ein, sondern mindestens zwei Leben hat. In ihrem ersten Leben hiess sie Elsbeth und war ein Kind. Els’ Puppen änderten öfters ihre Namen, doch sie selber hiess immer Elsbeth. Den eigenen Namen zu ändern, wäre gefährlich gewesen. Genauso gefährlich, wie sich vorzustellen, man wäre ein Findelkind. Ganz langsam gewöhnte man sich nicht nur an seinen Namen, sondern auch an sich selber. Dazu war die Kindheit wohl gemacht. Auch als Erwachsene fuhr Elsbeth fort, ihren Namen zu tragen und alles, was damit zusammenhing. Doch mit vierzig brach Britt in Elsbeths Leben ein, Britt, die Schwedin, Britt, die Freizügige, Britt mit ihrem Schulterzucken und dem breiten Lachen. Mit Britt begann eine neue Zeitrechnung, und aus Elsbeth wurde Els. Erst schien der neue Name fast zu gross für den mädchenhaft gebliebenen Körper, doch mit der Zeit fühlte er sich gut an, ein Futteral fürs Leben, auch später noch, als Els mit ihrem Namen alleine weiterzog, ohne Britt. Vielleicht wäre schon längst wieder ein neuer Name fällig, denkt Els. Oder ein neues Leben.

Wirst auch du einmal sterben?

Oh ja, natürlich. Aber bis es so weit ist,

dauert es noch eine ganze Weile.

Lange?

Sehr lange.

Wenn du stirbst, werde ich dann auch sterben?

Nein, Kinder überleben ihre Eltern.

Und wenn ich nun nicht überleben möchte?

Es gibt Dinge, die man nicht wählen kann.

Leben gehört dazu.

Neben der Uhr, gleich bei der Tür, hängt ein Spiegel. Wenn Els will, kann sie sich beim Verlassen der Hütte mit einem Blick von sich selber verabschieden. Eines ihrer Ichs, das Wohn-Schlaf-Küchen-Ich, bleibt dann in der Hütte zurück, während sie in ein anderes Ich hineingeht. Ins Ich des Wetterprüfens, des Umherstreifens, ins Ich des Wasserschöpfens und Reparierens, ins Ich der Hüttenwartin und Gastgeberin. In einem Spiegel hat sie diese ausserhäuslichen Ichs allerdings noch nie gesehen, höchstens als verwackeltes Spiegelbild auf der Wasseroberfläche des Hukesees, flüchtig wie ein Windstoss, wie eine Wolke. Das muss reichen. Es kommt Els richtig vor. Mit Widerwillen denkt sie an die vielen Fotos, die von ihr in halb Europa in Alben und auf Computerfestplatten gespeichert sein müssen. Els hasst es, Motiv zu sein. Wenn sie die Macht hätte, würde sie mit einem Zauber alle diese Bilder löschen, als Hackerin in eigener Sache. Leute mit Kameras sind Diebe, hatte sie bei Klement geschimpft. In den Fotos, die sie nach Hause tragen, bauen sie an ihrem Selbstbildnis wie die Ameisen an ihrem Ameisenberg.

Vor vierzehn Jahren, am ersten Morgen ihres ersten Sommers auf Hukejaure, stellte Els fest, dass sie den Spiegel ein ganzes Stück tiefer hängen musste, da sie sonst bloss ihren Schopf darin sehen konnte, ihr struppiges, dichtes Haar, damals noch eher hellbraun als grau, von Arcos Fell kaum zu unterscheiden. Mittlerweile trägt Els den Pelz eines Grauwolfs, und ihre Augen haben das grüne Glimmen abgelegt, sind müde geworden und tränen am Abend. Wie der Fels vor der Hütte mit Flechten, ist ihre Gesichtshaut von einem feinen Haarfilm überzogen, vielleicht, um die dünne Haut des Alters gegen die Zumutungen von Wind und Wetter zu schützen. Ihre Nase, schon immer gerade und fein geformt, ist noch schmaler und schärfer geworden, ihr kleiner Mund droht einzufallen. Was Els noch nie an sich bemerkt hat, so alt sie auch geworden ist: dass sich die Lippen in regelmässigen Abständen vorstülpen und zurückziehen, einer Seeforelle nicht unähnlich. Es sieht aus, als wolle sie sich ein Lachen verkneifen. Oder verhindern, dass ihr eine spöttische Bemerkung entschlüpft.

Der Sonnenstreifen in der Hütte zeigt an, was Els bereits von der Uhr abgelesen hat: Es geht gegen Mittag. Els ist es sich nicht gewohnt, so weit in den Tag hinein zu schlafen. Schmerzhaft drückt ihr Gehirn an Schläfen und Augäpfel. Ein Kater, denkt Els und lächelt. Ein Badewonnenkater. Arco hätte keine Freude gehabt an einem Kater.

Sie schaltet das Radio ein. Els hat den Vorrat an Batterien in Hörzeit umgerechnet. Drei Stunden pro Tag stehen ihr zur Verfügung. Drei Stunden sind zwar eine stattliche Zeiteinheit, doch was an einem Tag reichlich erscheint, wirkt am andern Tag knapp. Wie eine Kerkerhaft bei Wasser und Brot. Zu viel zum Sterben und zu wenig zum Leben. Der Mangel sendet eine Botschaft: Man hat es nicht besser verdient.

Na, komm her, komm schon her. So ist’s gut.

Bist ein Braver, ein ganz Braver.

Ruhig, mach Platz. Da ist nichts.

Platz, sag ich. Ja, so ist’s gut.

Dieser Tag ist Els entlaufen. Er wird nicht mehr einzuholen sein, so viel ist sicher. Alle paar Stunden wird er sich nach ihr umdrehen und ihr eine lange Nase drehen. Bäh, ich bin schon längst da, wird er rufen und munter weiterhüpfen, während sie ihm hinterherhinkt und grollt. Einem jungen Tag ist sie nicht mehr gewachsen. Sie wird ihm ihr eigenes Tempo entgegenhalten müssen, den langsamen Reigen sich abwechselnder Tätigkeiten, das Gewölk regelloser Gedanken, die Suche nach einer Ordnung, einer Abfolge der Dinge, die Stille und das Vergessen der Stille im Geschwätz des Gehirns. Els hat Hunger.

Während das Kaffeewasser heiss wird, geht sie zum Bunker, um Margarine und Käse zu holen. Der Bunker stammt aus dem Ersten Weltkrieg, ein in den Fels gehauenes Verlies mit einer granatensicheren Eisentür. Der Permafrost macht es zu einem begehbaren Kühlschrank. Mehrere Familienpackungen Eiscreme bewahrt Els in einer Styroporkiste darin auf. Erdbeer mit Vanille, ihre Lieblingssorte. Gustav und Jan-Erik, die beiden Männer, welche die Hütten im April auf ihren Motorschlitten besuchen und mit dem bestellten Material versorgen, mussten nicht schlecht gestaunt haben: Keine einzige Büchse Leichtbier, aber Unmengen von Eiscreme. Nur eine gestandene Sünde ist eine gute Sünde, hatte sich Els im Frühling beim Ausfüllen des Bestellformulars gesagt und ihren Sonderwunsch handschriftlich hinzugefügt. All die Jahre zuvor hatte sie sich dies nicht gegönnt. Sie wollte keinesfalls als naschhaft gelten. Es wäre gleichbedeutend gewesen mit unzuverlässig. Doch in diesem Jahr hatte die Sünde kampflos gesiegt. Sollten sie sich ruhig über sie den Mund zerreissen. Das Speiseeis war tatsächlich in der gewünschten Menge geliefert worden. Els stellte es mit Genugtuung fest. Selbst in Schweden wiesen Systeme Lücken auf, in denen eine Schrulle Platz fand. Als Grussbotschaft hatten die beiden Männer einen Zettel mit einem grossen, leckenden Smiley hinterlassen, und Els hatte ihn an den Lebensmittelschrank in der Hütte gepinnt. Gustav und Jan-Erik, zwei Kerle wie Hammer und Amboss.

Die Bunkertür hängt nicht lotrecht, sondern im Schutze eines überhängenden Felsens nach hinten geneigt in den Angeln. Die Schwerkraft macht sie zur Panzertür. Els kann sie nur mit Mühe öffnen. Für Nagetiere ist die Vorratskammer eine uneinnehmbare Festung. Armer Feind, murmelt Els, denkt an die nadelfeinen Zähnchen der Mäuse und Lemminge, an ihre durchsichtigen Krällchen. Kühle Luft schlägt ihr entgegen. Es riecht nach gar nichts, nach Stein vielleicht, nach Fels und ewiger Verbannung. Arco hätte diesen Geruch genau taxieren, er hätte diesen Nichtgeruch lesen können wie die Seite eines abenteuerlichen Buches. Wie spannend muss es für ihn gewesen sein, zu leben und seine Nase durch den Tag zu tragen, denkt Els.

Sie nimmt ein vakuumiertes Stück Käse und die Dose mit der Margarine aus dem Regal. Der Käsestapel kommt ihr niedriger vor, als sie ihn in Erinnerung hat. Dieser Eindruck mag vom grellen Lichteinfall von aussen her rühren. Oder von ihrem hungrigen Magen. Eiscreme wird es später geben, erst am Abend, so hat sie es mit sich ausgemacht, eine Belohnung für etwas, was Els vage mit Verleben bezeichnet. Es ist mehr als Überstehen und weniger als Verbringen. Die Tage und Stunden in dieser Abgeschiedenheit pendeln zwischen Anpassung und Widerstand. Sie sind reich und arm in einem, sie sind ausgefüllt, und sie sind leer. Genau wie die Wanduhr brauchen sie einen Schlüssel, der ihr Werk regelmässig aufzieht. Der Schlüssel heisst Aufmerksamkeit. Bald gilt es, Gewohnheiten zu folgen, bald sie zu brechen. List ist ebenso gefragt wie Routine. Und Disziplin ist alles. Doch heute steht die Disziplin auf verlorenem Posten. Els kann der Kiste aus Styropor nicht länger widerstehen. Sie öffnet den Deckel, entnimmt ihr eine angebrochene Packung Eis und bohrt den Zeigefinger tief in die kalte, halbfeste Masse aus Zucker, Rahm und Aroma.

Anne hatte ihr Dessert gemocht. Els hatte die Eiscreme für sie mit heissem Moltebeermus und den besten Biskuits dekoriert. Sweet and sour, hot and cold!, hatte Anne gelacht. Lappland, hatte Els gemeint. Sie hatte Anne mit dem Feldstecher bereits seit einer Stunde beobachtet. Anne war am späten Nachmittag als roter Fleck im Einschnitt beim östlichen Grat erschienen, der so etwas wie den Passübergang von Sälka nach Hukejaure darstellt. Lange hatte der rote Fleck dort oben verharrt, umgeben von viel Weiss und wenig Schwarz, und es hätte auch ein Mann sein können. Els’ erster Gast. Jedes Jahr gab es einen ersten Gast, und noch nie hatte sich Els darüber gefreut, den Umstand vielmehr hingenommen, handelte es sich doch um den Kern ihrer Aufgabe: das Beherbergen von Wanderern. Es war ihr gutes Recht, in Els’ Einsamkeit einzubrechen, sie mit den immer gleichen Fragen zu ermüden, Schmutz und Lärm über die Schwelle zu tragen, übelriechende Pastasaucen zu kochen, die Nächte durchzuschnarchen, das Plumpsklo zu besetzen und schliesslich allem wieder den Rücken zu kehren, den Abfall zurückzulassen, den Abfall und Els und diese nette kleine Hütte, die für Els mehr ist als eine Unterkunft: ein Fluchtort vielleicht, eine Heimat auf Zeit.

Els kennt viele verschiedene Heimaten. Am besten kennt sie die Heimat des Dazwischen. Es ist genaugenommen gar keine Heimat, doch Els hat sie dazu gemacht. Weil sie nicht zeitlebens eine Nomadin hat bleiben wollen, hat sie sich irgendwann die Heimat des Dazwischen erschaffen. Das Dazwischen ist ein grosser, veränderlicher Kreis, eigentlich eher ein unregelmässiger Fleck, wie eine Wasserlache auf einem Hüttenboden, der sich ausdehnen, sich vervielfachen, wieder trocknen und verschwinden kann. Diesen Fleck hat Els in Unterheimaten aufgeteilt. Es gibt für sie zwei Heimaten der Sprache, deutsch und schwedisch, es gibt die Heimat der Kindheit, die Heimat des Erwerbslebens, die Heimat des Alters. Es gibt die Heimat mit Menschen, die Hunde- und Vogelheimat und die Heimat mit Bergen. Die Wasserheimat und die Winterheimat. Els ist sich nicht sicher, ob es auch eine Heimat der Liebe gibt. Die Heimat der Sommermonate ist Hukejaure.

Der Bunker ist kein Ort zum Bleiben. Els fröstelt. Sie lutscht noch einmal am Zeigefinger, dann verstaut sie die Eispackung wieder in der Kiste. Rasch tauscht sie die Kühle des Bunkers gegen die Kühle im Freien. Ächzend bewegen sich die Scharniere, mit einem Dröhnen schlägt die Türe zu. Sie bleibt auch winters unverschlossen, damit zur Not vier erschöpfte Skiläufer hier Unterschlupf finden können. Er ist mit einem kleinen Gasofen und einer Petrollampe ausgerüstet, der Boden ist mit Holzbohlen isoliert. Ausserdem ist auf der Südseite der Felskuppe, unter welcher der Bunker liegt, ein Solarpanel montiert. Der Akku speichert so viel Strom, dass es im besten Fall für ein paar Stunden Schummerlicht reicht oder dafür, das Nottelefon zu betätigen. Die kleine Solaranlage ist Gustavs und Jan-Eriks ganzer Stolz. Mit grosser Sorgfalt überprüfen sie zweimal jährlich ihre Funktionstüchtigkeit. Photovoltaik-Inselanlage i. O., schreiben sie in ihren Rapport, obwohl auf Hukejaure von Inseln weit und breit nichts zu sehen ist. Die Hütte selber ist nur in den zehn Sommerwochen offen. Els wird sie spätestens Mitte September dichtmachen und erst wieder zu neuem Leben erwecken, wenn sie sich zur Zeit der nächsten Schneeschmelze von Sitasjaure heraufgekämpft haben wird. Mit Glück und Entschlossenheit wird es vielleicht noch einmal zu schaffen sein. Nur einmal noch. Kein Klement wird sie davon abbringen. Für jeden Menschen gibt es ein anderes höchstes Glück, denkt Els. Die Sommer hier sind kurz, doch sie hat für sich eine andere Zeitrechnung erfunden. Jeder Tag, der keine Nacht kennt, zählt doppelt.

Els schlüpft in ihre Pantoffeln, deckt den Tisch und setzt sich. Schon aberhundertmal ist sie in Pantoffeln an diesem Tisch gesessen, und nie fand sie daran etwas auszusetzen. Im Gegenteil. Erst an ihrem Tisch sitzend fühlte sie sich auf Hukejaure richtig zu Hause. Doch heute will nichts richtig sein. Els bewegt die Zehen. Die Pantoffeln, gross und bequem wie zwei Lemmingnester, wollen sich nicht wohlig anfühlen. Auch der Tisch scheint für grössere Menschen gemacht, als Els einer ist, für baumlange Skandinavier mit schlaksigen Gliedern. Neben ihnen ist Els bloss ein Häufchen Mensch, mit jedem Jahr wird ihr Rücken krummer, ihre Masse weniger, was Els bislang noch nie gestört hat. Allein und ohne Vergleichsmöglichkeit ist man so gross, wie man sich fühlt. Manchmal ist man eine Kiefer und manchmal eine Krüppelbirke. Heute aber, da sie am Tisch sitzt, rückt Els von sich weg, geht auf Distanz. Als wäre sie bei sich selbst zu Gast. Sie streckt den krummen Rücken und weiss, es ist vergeblich. Sie holt ein Kissen, damit sie höher sitzt, doch nach fünf Minuten zieht sie es wieder weg. Sie mag es nicht, wenn ihre Beine in der Luft baumeln. Sie schaltet das Radio aus. Der versnobte Stockholmer Akzent der Moderatorin macht sie nervös.

Auch Anne war eine von der grossen, kräftig gewachsenen Sorte. Nahezu alle jungen Menschen schienen heute aus diesem Stoff gemacht. Nitrat und Emulgatoren, wie Els weiss. Das Gift lässt die Körper in die Höhe schiessen, entfernt die Köpfe immer weiter vom Boden. Die Saurier der Endzeit, selbst in Hukejaure fallen sie ein, denkt Els und reisst ihr letztes Fladenbrot entzwei. Im nächsten Jahrzehnt müsste man hier die Kajütenbetten verlängern, und da die Betten bereits jetzt genau von Wand zu Wand reichen, hätte man die gesamten Hütten der Organisation auszubauen, auf Sauriermasse. Das würde Els aber nicht mehr erleben. Bis dahin wäre sie von hypermenschlichen Tatzen zertrampelt, oder niedergerafft von einer letzten allumfassenden Schwäche.

Wer lebte vor uns hier?

Deine Urgrosseltern.

Und vor den Urgrosseltern?

Andere Menschen. Ich kenne sie nicht.

Man nennt sie Vorfahren.

Waren sie glücklich?

Vielleicht, vielleicht auch nicht. Sie hatten

weniger Geld und mehr Zeit.

Dann möchte ich auch ein Vorfahr sein.

Du bist einer, Kind. Jeder ist ein Vorfahre.

Nach einer Stunde hatte sich der rote Punkt oben am Grat in Richtung Hukejaure in Bewegung gesetzt. Da wusste Els bereits, dass es sich nur um eine Frau handeln konnte. Männer legen so kurz vor dem Ziel niemals lange Pausen ein. Es musste jemand sein, der sich nichts zu beweisen hatte. Eine Frau mittleren Alters, die ihre Scheidung verdauen muss, hatte Els gedacht. Oder vielleicht eine Fotoreporterin. Es gab zahllose Gründe, in dieser Einöde unterwegs zu sein, und es gab eigentlich nur gute Gründe. Ob es auch möglich war, sich ohne Grund im Hochfjell aufzuhalten, darüber war sich Els nicht im klaren. Gründe kamen, und Gründe gingen, doch ohne jegliches Motiv hier oben zu leben, einfach um des Lebens willen, das ging wohl nicht. Einmal waren eine Flechtenforscherin und im vergangenen Sommer eine abgewählte Parlamentsabgeordnete auf Hukejaure zu Gast gewesen. Von der Lichenologin hat Els gelernt, dass Flechten nicht zu den Pflanzen zählen, weil sie sich nicht durch Bestäubung, sondern samenlos vermehren, und dass sie in symbiotischer Gemeinschaft mit Pilzen leben, weshalb man sie auch Kryptogame nennt, sich im Verborgenen Verbindende. Els liebt das Wort.

Die ersten Sommer auf Hukejaure hatte Els gezeichnet. Erst nur mit Bleistift, in dünnen, vorsichtigen Strichen mit viel ausgespartem Weiss. Els fand, die Zwischenräume seien wichtiger als die Striche. Sie verspüre eine Scheu vor dem Zeigen, sagte sie zu Klement. Vielleicht sei sie nötig, diese Scheu, vielleicht helfe sie, die Welt von Hukejaure zu schützen. Das konnte Klement nicht verstehen. Für ihn zählt bis heute das Sichtbare mehr als das Geahnte. Später war Els mutiger geworden. Sie hatte dickere Stifte benutzt und immer deutlicher gespürt, wo diese hinsteuerten, wie sie auf dem Blatt umherwanderten, ihre Bahnen zogen. Dann schien ihr, der Stift führe ihre Hand, ihre Augen beobachteten eine Entstehung, die von den Dingen selbst hervorgerufen würde: vom Blatt Papier und der Beschaffenheit seiner Oberfläche, von der Graphitmine, vom Objekt der Darstellung selbst, von einer Flechte, einem Grashalm, der Ansammlung einiger Kiesel, der Holzmaserung der Verandatreppe, dem Grat des nächstgelegenen Fjells. In den vergangenen Jahren war Els dazu übergegangen, mit Pulvern aus zerriebenem Schiefer und Gneis zu malen und ihre Bilder mit Pflanzensäften einzufärben. Sie machte Abriebe verschiedener Gesteinsoberflächen, vor allem von flechtenbewachsenen Felsen. Früher hatte sie an verborgenen Stellen Zeichen und Muster in glatte Flächen geritzt und beobachtet, wie sich diese im Laufe der Jahre unter dem Einfluss der Witterung veränderten. Im Kopf trug Els eine Landkarte im Massstab 1:10 000 mit sich herum, auf der die Orte eingetragen waren, wo ihre künstlerischen Spuren zu finden waren. Mit dem Auslöschen ihres Geistes würden auch diese geheimen Kartogramme verschwinden.

Dieses Jahr hatte Els ihre Malutensilien in Klements Hütte zurückgelassen. Klement hatte nach den Gründen gefragt. Weil alles bereits da ist, hatte sie geantwortet, weil es keine Els braucht, um irgendwo irgendwas hinzuzufügen. Oder wegzutragen. Weil es genügt zu schauen. Klement hatte durch die Zähne gepfiffen und den Kopf geschüttelt.

Vom Grat gelangt man in ungefähr einer Marschstunde zur Hütte. Im Winter, wenn der See zugefroren ist, in der Hälfte der Zeit. Doch jetzt hielten die Reste von Eis höchstens noch einem Vogelgewicht stand. Der rote Punkt wuchs von Minute zu Minute. Als er endgültig menschliche Gestalt angenommen hatte und schliesslich an der Südspitze des Sees aus Els’ Blickfeld verschwand, weil ein naher Felsbuckel die Sicht verdeckte, zog sich Els in die Hütte zurück. In einer Viertelstunde würde der Gast den Rucksack auf der Vortreppe absetzen und polternd die Stufen zur Hüttentür hochsteigen. Els wollte nicht den Anschein erwecken, als warte sie auf irgendjemanden. Die Begegnung sollte so beiläufig wirken, wie sie es auch war. Eine geschäftliche Angelegenheit, keine Sensation. Els war nicht Doktor Livingstone. Hukejaure war nicht das Ende der Welt, sondern bloss eine Hütte unter vielen. Sörensen hatte von insgesamt achtundsechzig Hütten in den schwedischen Fjells gesprochen.

Els hatte in ihrem privaten Hüttenabteil gestanden und gehorcht. Sie hatte auf ihre knochigen Hände mit dem immer stärker hervortretenden Adernetz und den dunklen Altersflecken gestarrt. Der erste Gast, die ersten Gäste, notwendige Übel. Statisten des Sommers. Ihnen verdankte Els die Berechtigung, hier zu sein. Sie eröffneten den spärlichen Reigen an Besuchern, die den Weg zur entlegenen Hukejaurehütte fanden. Hierher führte kein Trampelpfad. Hukejaure war ein Umweg, eine Zugabe, ein Abstecher. Wer hierherkam, war kartenkundig und hatte einen Entscheid getroffen. Kein Grund zur Aufregung. Els krempelte die Ärmel ihres Wanderhemdes runter und knöpfte die Manschetten zu. Sie lauschte, wartete. Sie wartete vergeblich. Kein Poltern von schweren Schuhen war zu hören, kein Klopfen an der Tür. Nichts zu erspähen durchs Fenster. Kein Umrunden der Hütte. Kein hastiger Gang zum Klohäuschen. Keine Stimme in keiner Sprache rief Hallo.

Als Els aus der Hütte trat, stand Anne ein Stück entfernt am oberen Rand des Pfades, der zur Wasserstelle hinunterführte, und schaute über den See Richtung Norwegen. In der bereits tiefer stehenden Abendsonne leuchteten die Wasser- und Eisflächen in einem satten Gold. Es war vollkommen windstill. Im See träumte sich eine rätselhafte zweite Hukejaurewelt in eine Tiefe, die zugleich Höhe war. Es gab nichts mehr, das dem Menschen gehört hätte. Der Ruf des Regenpfeifers tönte klagend aus den nahen Moortümpeln, die glänzten wie poliertes Kupfer. Die Schatten der Moosglöckchen waren mit Tusche auf matten Grund gezeichnet. Man hätte weinen mögen, ohne zu wissen weshalb. Hej, ich bin Els, deine Hüttenwartin, willkommen auf Hukejaure, rief Els auf Schwedisch, halblaut nur. Die Gestalt in der roten Regenjacke und der giftgrünen Wollmütze zuckte zusammen und drehte sich blitzschnell um. Hello, I’m Ann, rief die junge Frau verdattert, hob eine Hand und liess sie gleich wieder sinken.

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