Kitabı oku: «Die Brücken zur Freiheit - 1864», sayfa 7

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Eins war jedenfalls gleichgeblieben: Wie früher schaffte er es spielend, sie zu reizen.

»Sagt das Mädchen, das Augenringe wie Kutschräder hat. Lassen sie euch in dieser Schule nicht schlafen?«

Annie funkelte seinen Hinterkopf an, während sie ihm zur Kutsche folgte. »Das nennt man arbeiten! Ich weiß, dass du im Gegensatz zu mir in deinem Leben immer davor weggelaufen bist.«

Annie musste dringend das Thema wechseln, bevor sie mit Zähnen und Klauen auf ihn losging – es wäre nicht das erste Mal! Als der Schuft sich umdrehte, lächelte er immer noch unbeeindruckt zu ihr herunter; er reichte ihr die Hand und half ihr auf den Kutschbock. Als George endlich den Wagen umrundet hatte, neben ihr saß und die Pferde antraben ließ, schaffte Annie es nicht mehr, ihren Durst nach Neuigkeiten von der Zucht im Zaum zu halten.

»Wie ist es euch seit Kriegsbeginn ergangen? Da du aufgehört hast, mir zu schreiben, kenne ich nur die Sichtweise meiner Stiefmutter …« Und deren Briefe enthielten statt Berichten zu den tatsächlichen Problemen auf der Ranch nur gestelzte Floskeln. Aber das würde sie ihm nicht auf die Nase binden.

Für einen Moment schwieg George, dann ließ er sich, deutlich ernster geworden, auf ihre Frage ein: »Wir hatten Glück. Die Ranch liegt abgeschieden. Bei uns sind in all den Jahren keine Soldaten aufgetaucht. Am Anfang sind von unseren Arbeitern nicht so viele zur Armee gelaufen wie von den Nachbarn. Die Männer haben gern für deinen Vater gearbeitet und haben meinem Pa als Vorarbeiter vertraut. Jetzt sind nur noch ich und Pa übrig.«

»Wie geht es deiner Mutter und Maggie?«

»Ma erholt sich von einer Erkältung. Aber kennst sie ja – schwingt im Haus das Zepter als wär’ nichts.« George zog einen Mundwinkel nach oben. »Tja, und meine kleine Schwester entwickelt sich zur Nervensäge – sie versucht, so zu werden wie du.« Lachend hob er den Arm und wehrte Annies Schlag ab.

»Du bist und bleibst ein Schuft, George.« Aber sie musste gegen ihren Willen grinsen. Es war schön, heimzukommen.

Die restliche Fahrt verlief in freundschaftlichem Schweigen. Augenscheinlich hatte sich in der Gegend recht wenig verändert. Dicker Schnee lag auf den Feldern. Ob sie wohl noch bestellt wurden, jetzt da sich die meisten Männer als Soldaten verpflichtet hatten? Weiß glitzerten auch die Bäume am Straßenrand und im Wald. Genauso hatte Annie sich Weihnachten zu Hause vorgestellt, wenn sie zur Weihnachtszeit aus den Fenstern der Schule auf die grauen Gassen der Stadt gestarrt hatte, voller Sehnsucht und dem schmerzenden Gefühl, nicht vermisst zu werden.

Ihr Blick blieb an der Ruine eines Farmhauses unweit des Weges haften. Das Dach war eingesunken und auch jetzt noch hing der Geruch nach verbranntem Holz in der Luft. Hatte dort nicht die Witwe Jordan gewohnt, die am Farmersmarkt in Millersburg Ziegenmilch und Ziegenkäse verkaufte?

George erriet, wohin ihre Gedanken gewandert waren. »Ein paar Rebellen haben sich hier letztes Jahr auf der Flucht vor unseren Leuten verschanzt. Zäh waren sie. Muss man ihnen lassen. Hat ihnen aber nichts genutzt.«

Plötzlich baute sich der Krieg wie eine drohende Wand vor ihr auf. Natürlich tuschelten auch die Städter in Cincinnati über die Gefechte und Gräueltaten, doch sie taten es mit einem fast genussvollen Schauer. Nie war der Feind der Stadt wirklich gefährlich geworden. Hier in Kentucky war die Bedrohung real.

Die Straße folgte einem zugefrorenen Bachlauf. Gespannt spähte Annie nach vorne. Tatsächlich tauchte hinter der Biegung eine Ansammlung Häuser auf. Millersburg. Jetzt war es nicht mehr weit nach Hause. Aus der Schmiede tönten Hammerschläge und Annie schluckte erleichtert. Das Herz des Ortes schlug noch.

Zusammen mit ihrem Vater hatte sie manchmal dem Schmied zugesehen, wie er Midnight Maiden beschlagen hatte. Eingekauft hatten sie im Dorf nur, was kurzfristig ausging. Für größere Besorgungen und auch für Stoff für Kleidung bevorzugte Mrs. Foster die Läden in Cynthiana oder Mount Sterling, da die Auswahl dort bedeutend vielfältiger war. Ob sich das während des Kriegs geändert hatte?

Eine zierliche junge Frau in Annies Alter erschien im Stalltor. Als sie George erkannte, fing sie an zu strahlen und winkte zu ihnen herüber. George wurde auf der Stelle rot, hob die Hand scheu zum Gruß und starrte dann angestrengt auf seine Finger, die die Zügel hielten.

Interessiert warf Annie einen zweiten Blick auf das Mädchen, bevor dieses wieder im Tor verschwand.

»Wer war das?«

»Die Tochter vom Schmied«, antworte er kurz angebunden.

Annie zog überrascht die Augenbrauen hoch. Vage erinnerte sie sich an ein mageres Kind, das den Rockzipfel seiner Mutter kaum je verließ. Andererseits war sie selbst damals nicht weniger klein und mager gewesen.

Gespannt hielt Annie nach dem Hofverkauf von Mr. und Mrs. Jakes Ausschau. Dorthin hatte ihr Vater sie jedes Mal zum Essen ausgeführt, wenn die Besorgungen erledigt waren. Noch immer konnte sie den köstlichen Duft von frisch gebackenen Waffeln riechen. Sie schmeckte wieder die Sahne, die Mrs. Jakes mit Pfirsichstücken versüßt hatte. Annies Magen knurrte zur Antwort. Wenn das kleine Restaurant geöffnet hatte, würde sie George bitten, kurz anzuhalten.

Schon kamen die Gebäude in Sicht. Türe und Fenster waren mit Brettern vernagelt und auch der kleine Hof dahinter lag verlassen. Annies Mundwinkel zogen sich nach unten. Welches Schicksal die Familie wohl ereilt hatte? Annie schluckte ihre Enttäuschung hinunter. Dann musste sie eben auf das Abendessen zu Hause warten.

Auch viele andere Häuser schienen verlassen oder zeigten Zeichen von Vernachlässigung, und Annie war erleichtert, als sie den Ort hinter sich ließen. Die Landschaft wurde wieder von monotonem Weiß dominiert. Kein Laut erklang außer dem Knirschen der Räder im Schnee.

Nach Millersburg passierten sie die Ranch der Lennisters. Das offene Land war so hügelig, dass die Gebäude von der Straße aus nicht zu sehen waren. Dann erreichten sie den kleinen Wald, der die Grenze ihres eigenen Grundstücks markierte. Ab hier kannte Annie jeden Stein und jeden Baum von ihren Streifzügen. Dort hinten lag noch immer der umgestürzte Ahorn. Unbewusst strich sie über ihren lang verheilten Ellbogen. Der Unfall damals hätte böse enden können. Nicht nur für sie selbst, sondern auch für Midnight Maiden. Noch heute schämte sie sich so für ihren Übermut, dass sie nie jemandem davon erzählt hatte. Sie hätte wissen müssen, dass der Abstand für die Stute zu weit war!

Der Wald lichtete sich und links erschien die Herbstkoppel, rechts schlängelte sich ein Bach entlang der Straße. Jenseits des Bachlaufs war die Wiese zu feucht für eine landwirtschaftliche Nutzung. Dafür lebte hier allerhand anderes nützliches Getier. Verstohlen sah Annie zu George und stellte fest, dass er sie schuldbewusst angriente. Sie konnte nicht verhindern, dass sie undamenhaft zurückgrinste. Von hier stammten die Kröten, die er ihr früher zwischen die Decken gesteckt hatte. Nach Theresas Ankunft hatte Annie ihn überredet, sie mit auf die Jagd zu nehmen. Wenn sie die Augen schloss, sah sie sich selbst mit hochgeschlagenen Röcken, die Stiefel auf der Straße abgestellt, an Georges Seite durch den Sumpf waten. Feuchter Geruch, glitschige Würmer, vergnügtes Quietschen – wundervolle Erinnerungen. Gekrönt von der süßen Genugtuung, wenn ihre Stiefmutter die Beute entdeckte. Zum Beispiel eine Handvoll Regenwürmer in ihrer Schmuckschatulle.

»Wir haben es ihr nicht leicht gemacht«, stellte Annie mit einem Anflug von schlechtem Gewissen fest.

George musste nicht fragen, von wem sie sprach. »Wir waren Kinder.« Schwang da eine Mahnung in seiner Stimme mit?

Wieder verschluckten Bäume die Kutsche. Jetzt war es nicht mehr weit.

»Hat sie sich verändert in den letzten Jahren?«, fragte Annie beklommen.

»Ich halt mich da besser raus.«

»Jetzt sag schon!« Frustriert gab sie ihm einen kleinen Stoß in die Rippen.

Schützend hielt er den Arm vor sich. »Musst du selbst herausfinden.«

»George!«

Das verwünschte schiefe Grinsen hatte sich auf seinem Gesicht wohnlich eingerichtet. »Wir sind da, Prinzessin.«

Überrascht sah Annie auf und vergaß, George wegen des albernen Spitznamens zu rügen, den er ihr nach ihrem Erlebnis mit den Kröten in ihrem Bett verpasst hatte. Sie hatte den Wald verlassen und das heimatliche Anwesen lag vor ihnen. Der freie Platz ging hinter dem Haus in offene Weiden über, auf denen grazile Rappen grasten. Sie war daheim!

George zügelte die Pferde vor der Säulenveranda des weißgetünchten Herrenhauses. Behände sprang er ab und half Annie mit den Stufen. Zumindest mit der obersten, dann verlor er die Geduld, packte sie um die Hüfte und schwang sie zu sich hinunter. Als ob sie nicht mehr wiegen würde als ein Koffer voller Bücher. Bevor sie protestieren konnte, saß er schon wieder auf dem Kutschbock.

»Geh ruhig schon mal rein, Prinzessin. Ich kümmere mich um dein Gepäck.«

Mit einem Mal unsicher, erklomm Annie die Stufen zur Eingangstür und schob sie auf. Die Empfangshalle war bis auf den Kronleuchter leer. Unentschlossen schlich sie in Richtung Treppe und blickte sich noch einmal suchend um. Enttäuschung wallte in ihr auf. Ihre Heimkehr hatte sie sich irgendwie – lebhafter vorgestellt. Nach einigen Minuten des Wartens kam sie sich fehl am Platz vor und entschied, zu ihren Räumlichkeiten hinaufzusteigen.

Bedrückt schob sie die schwere Mahagonitür auf. In der Mitte des Zimmers drehte sie sich einmal im Kreis und ließ sich schließlich auf die Matratze plumpsen. Der Raum wirkte seltsam seelenlos. Bis auf das Bett, den Schrank und den kleinen Frisiertisch, den sie früher eher als Schreibtisch verwendet hatte, waren die Wände kahl.

Offensichtlich hatte Theresa nicht gezögert und alle Kleinigkeiten entfernt, die von den zwölf Jahren ihrer Kindheit zeugten. Keine Bücher standen mehr im Regal. Die zum Kerzenständer umfunktionierte Wurzel war verschwunden. Von ihren Kinderzeichnungen waren nur blasse Stellen an der Wand geblieben. Einzig die sonnig-gelben Vorhänge, auf denen rote Mohnblumen und weiße Gänseblümchen tanzten, bildeten tröstliche Farbtupfer.

Es gab nichts, was sie hier tun konnte. Gerade hatte Annie sich entschieden, dem Stall einen Besuch abzustatten, als jemand anklopfte. George trat ein, stellte ihre Tasche in der Mitte ab und drehte sich schon wieder zum Gehen.

»Falls du mich brauchst – ich bin Mistschaufeln.«

»Warte!«, rief ihm Annie hinterher.

Doch schon fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Warum fühlte sie sich plötzlich wie ein ausgesetztes Kätzchen? Besser, sie lenkte sich ab und packte ihre Habseligkeiten aus. Mit Sorgfalt ordnete Annie ihre Bücher auf dem Regal an und, da der Platz nicht ausreichte, den Rest am Tischchen daneben. Die Kleider, die sie in ihrem Kindheitszimmer zurückgelassen hatte, waren aus dem Schrank verschwunden. Obwohl sie aus den Sachen längst herausgewachsen war, stimmte sie diese Tatsache traurig. Unschlüssig setzte sich Annie wieder auf die Bettkante. Was jetzt?

Da horchte sie auf. Forsche Schritte erklangen vom Gang, dann klopfte es wieder.

»Herein?« Annies Herz pochte unruhig.

Die Tür flog auf und Theresa persönlich stand im Raum. Sie war immer noch so blond und schön und streng wie Annie sie in Erinnerung hatte. Nur wirkte sie jetzt kleiner.

»Wie reizend, dass du schon da bist, Kindchen!«

Annie zog die Augenbrauen zusammen über diese Anrede. Ihre Stiefmutter war selbst erst fünfundzwanzig. Warum benahm sie sich immer wie eine überspannte Matrone?

»Heute Abend kommen General Hobson und General Burbridge, der Befehlshaber deines Vaters, mitsamt ihren Ehefrauen zu Besuch. Wir müssen dir etwas Süßes zum Anziehen heraussuchen. Hast du ein nettes Häubchen dabei?« Während sie vor sich hin zwitscherte, fing sie an, Annies Reisetasche zu durchforsten. Die Sorgenfalten auf ihrem sonst so makellosen Gesicht wurden immer tiefer, bis sie endlich verwirrt die Hände in den Schoß legte. »Wo hast du denn deine Kleider für gesellschaftliche Anlässe?«

Annie zuckte ratlos mit den Schultern. In der Schule hatte es solche Anlässe nicht gegeben.

»Meine Abendroben dürften dir alle ein gutes Stückchen zu kurz sein«, dachte Theresa laut nach. »Und meine Schneiderin ist zwar flink, aber sie kann nicht zaubern.«

Ein unangenehmes Schweigen breitete sich im Raum aus.

»Kann ich nicht meine Schuluniform anbehalten?«, fragte Annie schließlich erschöpft. Über Kleider zu diskutieren, war gerade das Letzte, nach dem ihr der Sinn stand. Die Reise war anstrengend gewesen. Sie wollte eigentlich nur mit ihrem Vater dinieren, ein Bad nehmen und endlich in ihre Kissen fallen.

Theresa zog ihre feinen Augenbrauen hoch. »Wir sagen einfach, du kämst erst morgen zurück, Liebes. Das wird wahrscheinlich das Beste sein. Du bist so oder so bestimmt schrecklich müde. Ich lasse dir dein Abendbrot aufs Zimmer bringen. Bitte entschuldige mich. Ich sollte Mrs. Foster wirklich noch Instruktionen für das Dinner geben.«

Sprachlos starrte Annie auf die Tür, die hinter ihrer Stiefmutter ins Schloss fiel. Mit Tränen in den Augen sprang sie vom Bett. Sie musste jetzt einfach einer treuen Seele nahe sein.

Midnight Maiden schnaubte sanft, als Annie die Stirn gegen ihren Hals schmiegte. Die nachtschwarze Stute hüllte sie mit ihrer freundlichen Ruhe und ihrem warmen Duft ein.

»Hier steckt mein kleines Mädchen!«

Annie drehte sich langsam zu dem einzigen Menschen auf der Welt um, der sie klein nennen durfte.

»Vater!« Ein Strahlen erhellte ihre Miene.

Das Lächeln im grauen, faltigen Gesicht ihres Vaters war müde. Wann war sein Haar vollständig weiß geworden? Colonel Bailey war immer eine breitschultrige Gestalt gewesen. Jetzt schlackerte die Galauniform um seinen Körper.

»Ich hätte mir denken können, dass ihr beide euch treu bleibt.« Er trat einen Schritt nach vorne und kraulte seine Stute zärtlich zwischen den Ohren. »Wenn Gott will, bekommt unsere Alte hier im Juni wieder ein Fohlen.« Bevor Annie reagieren konnte, fuhr er fort: »Theresa hat mir gerade erst verraten, dass sie dich ebenfalls über die Feiertage hat kommen lassen. Es ist das erste Mal seit 1860, dass die ganze Familie an Weihnachten am selben Tisch sitzt. Ist das zu glauben?«

Auf den Rest der Familie hätte Annie auch dieses Jahr gut und gerne verzichten können. Doch sie beschloss, die kostbare Zeit mit ihrem Vater zu genießen.

»Hast du Christopher schon getroffen?«, fragte er.

Annie schüttelte den Kopf. Wenn möglich, verdrängte sie die Existenz ihres fünfjährigen Halbbruders.

»Stell dir vor – er kann immer noch nicht reiten! In seinem Alter warst du kaum von Midnight Maidens Rücken zu bekommen. Vielleicht könntest du es ihm ja beibringen, solange du hier bist?«

»Könnte ich vielleicht.«

Eigentlich war Annie froh darüber, ihren Bruder wenigstens in dieser Disziplin zu schlagen. Als niedliches Baby, männlicher Erbe der Zucht und Sohn der aktuellen Mrs. Bailey hatte er sie direkt bei seiner Geburt auf Rang zwei verwiesen. Warum war sie selbst nicht als Mann geboren? Dann wäre sie der Erbe, und sie würde ihre Sache gut machen. Das Leben war ungerecht!

»Kommst du wieder mit ins Haus?«

»Ich bleibe noch ein bisschen, wenn du erlaubst.«

Ein stolzes Lächeln erhellte das Gesicht ihres Vaters. Er verstand sie. Bestimmt würde er sich freuen, wenn sie ihm anvertraute, dass sie ihr Zuhause nie verlassen würde und stattdessen mit ihm Pferde züchten wollte.

Später am Abend lag Annie hellwach im Bett. Ernste Männerstimmen drangen zusammen mit einem würzigen Rauchgeruch durch den Kamin zu ihr herauf. Das Abendessen hatte sie ganz allein eingenommen, während die Gäste unten bewirtet wurden. Danach hatte sich ihr Vater mit General Burbridge und General Hobson zum Rauchen zurückgezogen, um über Politik zu diskutieren. Wie schon früher verstand Annie jedes Wort, das im Zimmer unter ihr gesprochen wurde, selbst als sie sich ihr Kissen aufs Ohr drückte. Sie wollte endlich einfach nur schlafen.

»Haben Sie schon gehört? Er ist wieder auf freiem Fuß!«

»Seit wann?«

»Bereits seit dem 26. November. Bis jetzt bestand noch die Hoffnung, ihn wieder einzufangen.«

»Aus dem Ohio-Staatsgefängnis? Wie hat er das angestellt, der Teufelskerl?«

Von wem war die Rede? Annie legte das Kissen doch lieber zur Seite.

»Zusammen mit sechs seiner Offiziere hat er einen Tunnel von seiner Zelle in den Gefängnishof gegraben. Von dort sind sie mit zusammengeknoteten Bettlaken über die Mauer. Wie man jetzt erfahren hat, sind sie dann einfach dreist in den Personenzug nach Cincinnati gestiegen. Danach verliert sich jede Spur.«

Ausgerechnet in Cincinnati! War Annie dem Verbrecher auf der Straße begegnet?

»Was denken Sie, was er jetzt plant?«

»Er wird im Süden eine neue Rebellen-Division aufstellen. Das ist so sicher wie der Schnee im Winter. Dann wird er sich wieder nach Kentucky schleichen und morden, Pferde stehlen und brandschatzen!«

»Schütze uns Gott vor diesem Donnerkeil!«

Annie bekam eine Gänsehaut. Es war General Morgan, der wieder frei war! Solange er existierte, bedrohte er ihre Pläne für die Zukunft! Würde er einen Angriff auf Kentucky wagen? Er stammte aus diesem Staat und würde nie akzeptieren, dass sich seine Heimat der Union des Nordens angeschlossen hatte. An Einschlafen war so schnell nicht mehr zu denken.

14 Nick – 25. Dezember 1863

W eihnachten, war mein erster Gedanke nach dem Aufwachen. Ich weigerte mich, die Augen zu öffnen. Stattdessen stellte ich mir die Gesichter meiner Familie an einem anderen, vergangenen Weihnachtsmorgen vor. Wir hatten uns erst kurz zuvor in Texas niedergelassen, und das Haus duftete nach frischem Holz und Schnee. Alle waren erfüllt mit der Hoffnung auf ein besseres Leben. Die Weiten der Prärie standen im Kontrast zu der dunklen Enge der Wälder, denen wir entkommen waren, und führten uns jeden Tag unsere neue Freiheit vor Augen. Unsere eigene Ranch! Ein Traum war in Erfüllung gegangen. Ben war noch ein Kleinkind gewesen, trotzdem war er der Erste, der seinen Strumpf vom Küchenherd pflückte und uns mit seinem begeisterten Gejohle weckte. Lachen und Fußgetrappel hallten durch das Haus. Damals hingen sechs prall gefüllte Strümpfe am Kamin; vollgestopft mit Nüssen, Zuckerwerk, selbstgestrickten Mützen, Murmeln für die Jungen und Puppenkleider für die Mädchen. Meine Geschwister strahlten um die Wette, als sie die Kostbarkeiten herausschälten, und brachen dann in lautstarke Zankereien aus. Wer hatte die besten Geschenke bekommen? Unsere Eltern standen zufrieden lächelnd im Türrahmen und hielten sich an den Händen. Diese Geste hatte mir Tränen in die Augenwinkel getrieben. So eine Zärtlichkeit zeigten sie vor uns Kindern sonst eigentlich nie. Beim Gedanken an das damalige Festessen aus Braten, Wildbret, Weizenbrot, Apfelkuchen und Brotpudding, das auf uns gewartet hatte, lief mir das Wasser im Mund zusammen. Mein Magen knurrte hungrig. Ich schlug die Lider auf und sprang aus dem Bett. Eine unsinnige Hoffnung brannte in mir.

Natürlich hingen heute nur die drei Strümpfe am Kamin, die wir gestern Abend aufgehängt hatten. Charlotte hatte erklärt, dass sie als verlobte Frau zu alt für Kinderbräuche sei. Jeweils eine einzelne Zuckerstange ragte aus dem Bund und nur Bens Socke wies eine kleine Beule auf. Zögerlich trat ich näher. Ben flitzte an mir vorbei und zog den Gegenstand heraus. Es dauerte einige Augenblicke, bis meine Fantasie eine geschnitzte Kanone hineininterpretiert hatte. Mein kleiner Bruder starrte auf das Ding und drehte es unschlüssig in den Händen. Das Kanonenrohr war kunstvoll geformt. Auch ein großes Rad mitsamt filigranen Speichen war fast vollendet. Doch das zweite war verschnitten und der Teil dazwischen steckte noch im unbearbeiteten Rohholz.

»Ich hab versucht, es fertigzustellen, aber meine Hände sind dafür nicht geschaffen.« Mas erstickte Stimme klang von der Tür. Sie strich über einen verkrusteten Schnitt an ihrem Zeigefinger, wahrscheinlich ohne es zu merken.

»Das macht nichts.« Ben lächelte tapfer. »So eine hab ich mir schon lang gewünscht!«

Still ließ er sich vor dem Kamin nieder und positionierte die Kanone so, dass sie auf die ungeschützten Fußsoldaten zeigte. Er stieß ein Knattern aus und ließ eine Holzfigur nach der anderen umkippen. Seelenruhig stoppte er dann den Beschuss, stellte jeden Soldaten wieder auf seinen Posten und begann von vorne. Wir Älteren suchten den Blick unserer Ma, die zu Boden blickte.

»Heuer hatten Vater und ich keine Zeit, auch für euch etwas zu besorgen.« Dann wurde sie wieder resolut wie früher. »Mary, du hilfst mir beim Brotbacken. Nicky, fache das Feuer an und bring danach mehr Holz von draußen – das musst du vorher aber noch zerkleinern. Mach die Scheite diesmal wenigstens ungefähr gleich lang! Charlotte, ich glaube, wir haben kein Wasser mehr im Haus – hol’ Eis vom Brunnen und lass es am Herd schmelzen.«

Kurze Zeit später stach mir der rauchige Geruch nach frisch entzündetem Feuer in die Nase und die Augen. Stolz blickte ich in die knisternden Flammen, deren Wärme meine kühlen Backen traf. Ich hatte einen dicken Ast als Stütze für die Späne verwendet. Obwohl die Scheite leicht klamm gewesen waren, war es mir mit nur einem Schwefelholz gelungen, sie zum Leben zu erwecken. Einen Moment wartete ich noch, bis das Feuer so kräftig war, dass es nicht mehr ausgehen würde. Dann schob ich noch zwei Prügel nach und legte das verbleibende Holz neben den Ofen, damit die anderen Nachschub hatten, wenn die erste Ladung heruntergebrannt war. Danach zog ich mir meinen Mantel über.

Draußen trieb ein Windhauch Herden aus losem Schnee über die Ebene. Obwohl es schon spät am Morgen war, war es noch düster. Ein Blick zum Himmel bestätigte meine Befürchtung. Grauschwarze Wolken türmten sich dort oben und kündeten einen Sturm an. Verbissen machte ich mich an die Arbeit.

Während ich Scheit um Scheit spaltete und meine Oberarme anfingen zu schmerzen, drehten sich meine Gedanken wie der Schneewirbel. Was sollten wir essen, bis der Krieg vorbei war? Für ein paar Tage hatten wir noch Vorräte, doch dann mussten wir in die Stadt zum Einkaufen. Nur war die Dose mit unserem Ersparten leer bis auf einen Blechknopf. Über die Monate hatten wir alles verkauft, was wir nicht zum Überleben benötigten. Zum hundertsten Mal ging ich die Dinge durch, die infrage kamen. Das Gewehr brauchten wir! Freddy und Konsorten lauerten immer noch irgendwo in unserer Nähe und konnten jederzeit wieder auftauchen. Beim nächsten Angriff würde ich mich ihnen stellen!

Axt, Messer und Nähnadeln konnten wir genauso wenig entbehren. Vielleicht den Schecken oder Daisy? Allein bei diesem Gedanken wurde mir schlecht.

Sollte ich losreiten und nach James und Andrew suchen? Meine Brüder würden wissen, was zu tun war. Ich stellte mir vor, wie ich sie nach endloser Suche fand und mitten in ihr Lager ritt. Der Gedanke an hunderte Soldaten, die sich um mich drängten, jagte mir einen Schauer über den Rücken. Danach müsste ich meinen Brüdern gegenübertreten und vom Überfall berichten – und von meinem Versagen.

Nein! Solange Freddy Johnson in der Gegend herumstrich, konnte ich meine Familie nicht allein lassen. Selbst wenn ich gewusst hätte, wo sich James und Andrew im Moment aufhielten, hätte ich nicht weggekonnt. Aber es war Monate her, seit wir das letzte Mal von ihnen gehört hatten. Irgendwie musste ich es aus eigener Kraft schaffen.

Meinem Magen zufolge war es Zeit fürs Mittagessen. Ich verstaute das Beil und belud mich mit ein paar Holzscheiten. Der Wind war jetzt so stark, dass ich mich auf dem Rückweg zum Haus gegen die schneidende Kälte stemmen musste. Es war beinahe nachtschwarz und immer wieder trafen mich aus dem Nichts Eiskristalle im Gesicht. Ein scharfer Schmerz durchzuckte meine Wange. Reflexartig drehte ich mich weg und schloss die Augen. Die Wunde, die das Gestrüpp vor wenigen Tagen in meinem Gesicht hinterlassen hatte, brach auf und warme Flüssigkeit lief meine Backe hinunter bis zum Kinn. Ich blinzelte – und sah in vollständige Dunkelheit. Panik kroch in mir hoch. Fast hätte ich das Holz zu Boden fallen lassen und wäre losgelaufen. Aber in welche Richtung? Ich zwang mich, ruhig zu atmen, balancierte das zentnerschwere Holz auf einem Arm und streckte vorsichtig den anderen nach vorne. Leere. Dann raue Bretter. Tastend folgte ich der festen Hauswand. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte ich den Eingang und stolperte hinein. Mary kreischte los und Charlotte sprang geistesgegenwärtig auf und schlug die Tür hinter mir ins Schloss.

Wärme und der Duft nach frisch gebackenem Brot hüllten mich ein. Eine Laterne am Tisch warf ihr flackerndes Licht in den Raum. Ausnahmsweise war ich heilfroh, innerhalb der schützenden vier Wände zu sein. Ich klopfte den Matsch von meinen Stiefeln und lud die Holzscheite polternd in einem Stapel neben dem Herd ab.

Aufatmend schüttelte ich meine schmerzenden Arme und Schultern aus und setzte mich zu den anderen an den Esstisch. Charlotte drückte mir einen Becher mit kaffeeartigem Inhalt in die kalten Finger. Statt Kaffeebohnen verwendeten wir dafür gerösteten Roggen.

»Danke!« Ich lächelte ihr zu und blies in die heiße Brühe.

Schweigend saßen wir alle da, mit einem Stück warmen Maisbrots in der einen Hand, lutschten hin und wieder an unserer Zuckerstange in der anderen und lauschten dem Sturm, der unerbittlich an den Fensterläden rüttelte. Probeweise weichte ich das Brot im sogenannten Kaffee auf. Dadurch, dass es nur aus Mehl, Salz und Wasser bestand – den einzigen Lebensmitteln, die noch in unserem Vorratskeller lagerten – war es schwer zu kauen. Mit Bedauern dachte ich an den Leichenschmaus vor wenigen Tagen. Diese Leckerbissen waren ursprünglich für das heutige Festessen reserviert gewesen.

Ein Klopfen ließ uns zusammenzucken. Wir tauschten Blicke und hofften, uns verhört zu haben. Erneutes Pochen. Lauter diesmal und mit mehr Nachdruck. Zögernd stand Charlotte auf. Ich folgte ihr und griff nach der geladenen Flinte über der Tür, während sie den Riegel zurückschob. Das Heulen des Windes verschluckte das Klicken, als ich das Gewehr entsicherte.

»Was wollen Sie, Mister?«, fragte Charlotte.

Die Antwort ging im Sturm unter.

»Kommen Sie herein. Mit erhobenen Händen und ganz langsam.«

Ich hielt den Lauf auf den Spalt gerichtet. Charlotte öffnete die Tür und wich zurück. Aus dem Dunkel schälte sich die Gestalt eines Mannes. Seine zusammengewürfelte Uniform war mit Schnee verkrustet, der rechte Ärmel knapp unterhalb der Schulter verknotet. Obwohl sein Gesicht unter der Hutkrempe im Schatten lag, kam er mir bekannt vor.

»Danke Ma’am, dass Sie mich hereinbitten.«

Der Spott war beinahe vollständig aus seiner Stimme verschwunden. Trotzdem erkannte ich sie sofort. Bill.

»Was wollen Sie von uns?«, wiederholte Charlotte drohend.

Ich ließ ihn keinen Wimpernschlag aus den Augen.

»Der Sturm hat mich überrascht«, sagte er kleinlaut. »Ich bin froh, zufällig auf Ihr Haus gestoßen zu sein …«

Von wegen Zufall! Wahrscheinlich war er wieder auf einer Beobachtungs- und Sabotagemission.

Charlotte war ebenfalls misstrauisch, aber die Höflichkeit siegte. »Legen Sie doch Ihren Hut und Mantel ab und setzen sich zu uns.«

Fünf Augenpaare verfolgten, wie der Neuankömmling neben seinen Kleidungsstücken auch langsam seinen Revolvergurt abschnallte und daneben hängte. Ein stummes Angebot zum Waffenstillstand. Zur Antwort stellte Charlotte eine große Blechtasse mit dampfender Flüssigkeit und ein Stück Brot vor ihn auf den Tisch.

Erkannte sie denn nicht, dass er beim Überfall dabei gewesen war? Wie konnte ich es ihr und Ma unauffällig mitteilen? Aber dann müsste ich gleichzeitig gestehen, dass ich den Angriff beobachtet und nichts unternommen hatte. Hatten der Rest meiner Familie überhaupt mitbekommen, dass die Mordbrenner Delilah bei uns auf der Ranch gefunden hatten?

In angespanntem Schweigen verfolgten wir jede Handbewegung unseres Gastes und lauschten dem genüsslichen Schlürfen, Schmatzen und Rülpsen. Für meinen Geschmack machte er eine zu große Schau um das karge Mahl. Nach und nach zupften auch wir wieder an unseren Broten. Schüchtern hielt Ben dem Fremden seine noch ganz ansehnliche, wenn auch nass glänzende Zuckerstange hin. Dieser lehnte mit einem Grunzen ab.

Bald war auch der letzte Krümel verzehrt, der Sturm aber wütete mit unverminderter Leidenschaft. Keiner wagte, sich zu erheben. Ben schlug rhythmisch mit seinem Fuß gegen ein Tischbein. Die Anspannung war eine fast sichtbare Besucherin im Raum. In aller Ruhe wischte sich Bill mit dem Ärmel über den Mund; seufzte zufrieden; griff in seine Tasche. Wir hielten die Luft an.

»Jemand Lust auf ’ne Runde Poker?« Er klopfte mit den Karten auf den Tisch, während er uns abschätzend der Reihe nach musterte.

Unsere Blicke glitten automatisch zu Ma. Als ob sie die Frage nicht gehört hätte, erhob sie sich, ließ sich in ihrem Schaukelstuhl am Feuer nieder und nahm ihr Strickzeug zur Hand. Das war wohl eine Zustimmung. Wie sollte ich ihr nur mitteilen, dass wir hier einen gewaltigen Fehler begingen? Dass wir uns in Gefahr befanden?

Meine Geschwister scharten sich eifrig um Bill und seine Karten – selbst Charlotte, die großen Wert auf Moral und Anstand legte, was Glücksspiel eindeutig ausschloss. Normalerweise. Ich konnte es ihnen nicht verübeln. Das Leben fern der Stadt bot kaum Abwechslung. Besonders jetzt im Winter waren wir oft tagelang ans Haus gefesselt und die Stunden zogen sich in die Länge. Unauffällig stellte ich mich zwischen den Mann und seine Waffe am Haken. Wenigstens würde ich es ihm nicht leicht machen. Egal was er insgeheim plante.

»Sind Sie Profispieler?«

Bill lachte rau über Bens unschuldige Frage. »Einarmige Profispieler gibt es nicht. Habt ihr irgendwas, das wir als Einsatz verwenden können?«

Unschlüssig sahen wir in die Runde.

Plötzlich leuchtete Marys Gesicht auf. »Wir haben Knöpfe!« Sie sprang auf und kam mit einer Handvoll davon zurück. Bill schaute zuerst etwas ungläubig, akzeptierte die Währung dann aber kommentarlos und reichte das Deck zunächst an Charlotte zum Mischen. Geschickt teilte er die Karten einzeln direkt vom Stapel aus.