Kitabı oku: «Die Kunst der Bestimmung», sayfa 4

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«Rää», sagte Lauderdale.

«Ich möchte», begann Lucius wieder, «ich möchte, zum Teufel, ich will ...»

«Rää», wiederholte Lauderdale. Er kniff die Augen zu.

«Er sagte, ich sei leicht zu bestimmen.»

Lauderdale lachte.

«Dann sagte er, ich sei eine Missgeburt. Er ist ein Scheusal. Ich mag ihn nicht. Ich will wissen, wo er wohnt. Ich will ihn besuchen. Ich werde etwas finden, um es anzuziehen. Er wird verstehen, dass ich nicht stets die femme de plaisir sein kann, er wird mich auch anders empfangen.»

Lauderdale lachte heiser. Lucius trat gegen den Pfosten, der seine Stange hielt. Lauderdale hustete und klammerte sich fest.

«Gibt es eine Behörde», fragte Lucius, «in der man die Ankunft von Fremden notiert? Gibt es ein Amt für Schweden? Er ist Professor. Wer ist unterrichtet über Professoren aus Schweden?»

«Rää! Rää!», rief Lauderdale.

Lucius lächelte. Er kraulte Lauderdales Bauch.

«Danke. Die Royal Society. Das ist eine gute Idee.»

Da Mr. Hooke ausgegangen war, holte Lucius’ Diener kurzerhand Josiah Blane. Er saß in der schwarzen Kutsche, bevor er wusste, wie ihm geschah, ohne Anhaltspunkt, ohne Hut und in den Schuhen fürs Haus. Josiah versuchte sich geehrt zu fühlen. Stattdessen fürchtete er nur um sein Augenlicht.

Josiah kannte den jungen Earl. Er hatte ihn oft schon gezeichnet. Wenn er teilnahm an einer Sitzung der Royal Society – er war Mitglied ehrenhalber, wie alle Herren von Stand –, gab es meist wenig zu protokollieren. Niemand begriff seine Experimente. Sie waren laut und feurig und nicht geeignet für geschlossene Räume. Niemand wagte, den Earl in den Hof zu schicken, da er hoch in der Gunst des Königs stand. So führte er denn im Sitzungssaal vor, was gewisse Substanzen vermochten, wenn man sie mit Schwung zusammengab. Sie vermochten Erstaunliches. Sie schwärzten die Hände des Earls, den Tisch und oft auch die Decke. Zuweilen ließ sich eine Detonation nicht gut an. Dann half Lord Fearnall mit Schwarzpulver nach. Er besaß mehr davon, wurde erzählt, als die Artillerie des Coldstream-Regiments. Der Earl sprach selten. Nichts kümmerte ihn außer der Chemie. Er war zerstreut wie ein alter Gelehrter und wusch sich die Haare nicht öfter als Mr. Hooke.

In unfroher Stimmung betrat Josiah Blane das Haus des Earl of Fearnall, ein Gebäude nicht weit vom Strand und kaum einen Steinwurf entfernt von Arundell House. Der Diener führte ihn durch Treppenhaus und Gemächer. Das Auge des Protokollanten sog ein, was die Kürze der Zeit erlaubte. Teppiche. Tapeten. Mobiliar. Ein Gemälde von Susanna im Bade, wie es heute ein jeder besaß. Das Haus wirkte kalt und neutral, als könne man es mieten. Nichts deutete hin auf die Neigungen eines Besitzers. Nichts deutete hin auf den Earl of Fearnall. Der Diener stellte Josiah vor eine Tür und brachte sich in Sicherheit.

Zögerlich betrat Josiah eine verdunkelte Kammer. Lord Fearnall verkochte Stinkendes in einem offenen Gefäß, wie stets ohne Handschuhe und in einem schlechten mausgrauen Rock. Zwei Knöpfe fehlten. Brandlöcher zierten die Ärmel. Die Brille des Earls beschlug über dem dampfenden Tiegel, ein Bügel war geflickt mit Draht. Barfuß stand er in den Schuhen, zerschlissene gelbe Pantoffeln wie die eines Mädchens aus kläglichen Verhältnissen. Sein Hals war schief, sein Haar fahl und fettig, als habe der Herrgott in einer seltsamen Laune einen Jüngling geschaffen nach dem Vorbild des Mr. Hooke.

Josiah verbeugte sich. Er grüßte, dann grüßte er lauter. Endlich blickte der Chemiker auf.

«Bitte? Wer sind Sie?

«Josiah Blane. Zu Diensten. Ihr habt mich gerufen, Mylord.»

Der Earl blinzelte verwundert durch seine trübe Brille. Die Kalzination trat in eine kritische Phase ein. Eine Flamme beleckte den Daumen des Earls, er schien es nicht zu bemerken.

«Royal Society, Euer Ehren», fügte Josiah Blane hinzu, «ich bin der Stenograph.»

«Vitriol», murmelte der Earl, «Vitriol ... es klumpt ... der Saturn steht schlecht ...» Abwesend kratzte er seine linke Wade mit der Spitze des rechten Pantoffels. Dann wandte er sich langsam um und betrachtete Josiah Blane, als sei er ein Stückchen Brennstein, von geringer Bedeutung, allenfalls brauchbar für die eine oder andere Reaktion.

«Kennen Sie einen Professor, junger Mann ...», begann er zäh, dann verstummte er. Der Tiegel glühte. Josiah wich zurück bis zur Tür.

«Wie nennt man gleich dieses Land», fragte der Earl, «dieses Land, dieses Land ... das Land dort im Norden ...» Er seufzte tief und kratzte seinen fettigen Kopf. «Ah, Schweden! Einen Professor aus Schweden. Er versteht sich, so heißt es, aufs Vitriol.»

«Stets zu Diensten», sagte Josiah, «ich kenne keinen Schweden, der sich aufs Vitriol versteht.»

«Er versteht sich auch wohl auf anderes ...» Endlich nahm Lord Fearnall seinen Tiegel vom Feuer. Er entzündete einen Holzspan.

«Die Society sollte unterrichtet sein über Gelehrte aus dem Ausland ...» Er bewegte die Flamme unentschlossen von hier nach dort. «Der Stenograph sollte unterrichtet sein über die Belange der Society ...»

Der brennende Span verirrte sich in die Nähe einiger eng verschnürter Pakete. Lord Fearnall schien ihn vergessen zu haben. Er starrte angestrengt in den Tiegel. Josiah musterte die Pakete. Er dachte an den Spruch vom Coldstream-Regiment. Er fragte sich, in welchen Behältnissen man Pulver verwahrt.

«Ich wüsste doch gerne», sagte der Earl, «um was es sich handelt bei dieser schwedischen Angelegenheit.» Die Flamme berührte die Schnur des größten Pakets.

«Simon Chrysander, Professor Upsaliensis», rief Josiah, die Hand an der Klinke, «er ist bestellt, das Kabinett zu ordnen, morgen wird er im Gresham College empfangen, er wohnt in der Throgmorton Street, das Eckhaus an der Broad Street, Mr. Hooke gab ihm seine Köchin, er reist mit einem kleinen Wilden aus Lappland, er rechnet Rationes über die Welt und gewiss auch übers Vitriol, Euer Ehren, achtet auf Eure Lunte!»

«Danke», sagte der Earl of Fearnall. Er ließ den Fidibus fallen und trat ihn aus. Dann wies er auf die Tür. Josiah Blane lief davon. Lucius nahm die Perücke ab.

Lange durchforschte er seine Garderobe. Sämtliche Gewänder, und es gab deren viele, blätterte er aufmerksam durch, ob er die passende Geschichte fände in diesem vielfältigen und kostbaren Buch, doch nichts gefiel ihm und nichts empfahl sich als Anfang eines neuen Spiels für den Mann namens Simon Chrysander. Endlich stieß er auf das Kleid des Winters. Er hatte es auf der Bühne getragen, als man in Whitehall das Stück von Pomona und Pan aufführte zum Geburtstag der Königin. Der Winter hatte Pomona geraubt und fortgeschleppt und dazu allerlei Verse über kargen Boden und Bäume ohne Frucht rezitiert, um den König zu amüsieren, der seine kinderlose Frau nicht allzu sehr schätzte.

Das Kostüm des Winters war weiß wie das Kleidchen der Hure: alles, vom Hut bis zu den Schuhen. Nur eine schmale silberne Stickerei, Schneeflocken vielleicht oder Eisblumen, zierten Ärmel und Hosenbänder. Man konnte diesen Anzug in Gesellschaft nicht tragen. Weiß in Weiß sah die Mode nicht vor. Lucius drehte die Perücke des Winters in den Händen. Die weißen Locken sagten ihm nicht zu. Er überlegte. Dann schickte er nach dem Barbier.

Drei Stunden später warf der Barbier die Papilloten fort und stellte die Brennscheren ins Wasser. Lucius massierte seinen Nacken. Es war schwere Arbeit, sein glattes Haar in ein Gebilde zu verwandeln, das aussah wie die schönste Perücke. Lucius ließ sich ankleiden und trat vor den Spiegel. Da stand der Winter, mit blassen Wangen, dicht in rote Locken gehüllt, als trüge er Feuer auf den Schultern. Lucius war sich fremd in diesem Kostüm. Er schminkte seine Lippen, dann wischte er die Farbe wieder fort. Auch Puder wollte er nicht und erst recht kein Bleiweiß. Der Schwede sollte ihn erkennen. Das wiederholte er lautlos, als er in die Kutsche stieg, er soll sich wundern, aber er soll mich kennen, er soll wissen, dass ich das bin, ich, Lord Fearnall, ich, Lucius Lawes, ich, Lucy, im weißen Kleid und mit dem eigenen Haar.

Er lächelte furchtsam vor sich hin. Er wollte den Degen ablegen. Eine seltsame Idee. Lucius lächelte weiter, ein wenig starr, und er legte den Degen ab und schob ihn unter den Sitz.

Er fuhr bis zur Royal Exchange, dort stieg er aus und nahm eine Sänfte. Es waren nur noch wenige Schritte bis zum Haus des Schweden, aber er konnte nicht zu Fuß gehen in seinen weißen Seidenschuhen und all seiner weißen Pracht. Throgmorton Ecke Broad Street schickte er die Sänfte fort. Es war längst dunkel. Viele Leute eilten noch durch die Straßen, die Männer von der Börse und vom Steueramt, die auch sonntags nicht von ihren Dienststellen lassen konnten, Verkäufer, Gesindel, Burschen mit Licht, Familien, die andere Familien besuchten zum Abendbrot. Lucius stakste über eine Pfütze und suchte sich eine trockene Stelle. Dort stand er wie festgewurzelt. Passanten gafften ihn an. Lucius blickte hinauf zu den Fenstern.

Nun beträte er das Haus. Dann stiege er die Treppen hinauf. Es gäbe einen Türklopfer, vielleicht eine Glocke, vielleicht stünde der junge Wilde auf der Schwelle, vielleicht auch die eine oder andere gelehrte Erfindung, ein Messgerät womöglich, das Besucher begutachtete, ob sie auch wohlgesinnt seien. Bei Lucius mäße das Gerät vertrackte Werte. Er träte trotzdem ein. Der Schwede trüge einen Hausmantel und ein Tuch um den Kopf und zöge eine seltsame Miene. Er schwiege. Lucius schwiege ebenfalls. Er wäre verlegen und wüsste nicht, was zu tun sei in diesem Fall. Der Schwede sähe ihn lange an, und Lucius ertrüge den Blick tapfer, und der Schwede würde dann seines weißen Anzugs gewahr und seiner roten Locken und auch seiner Verlegenheit, und er ließe Lucius noch ein wenig leiden und dann bäte er ihn leise und nicht allzu freundlich, ihn zu unterrichten über die Bedeutung dieses Kostüms, und wenn sich Lucius überwände, in die Augen des Schweden zu blicken, sähe er darinnen, dass dieser den Winter überaus kleidsam fand und auch das Werk der Brennschere. Lucius lüde den Schweden dann ein, selbst zu bestimmen – das Kleid, das Haar, den späten Besuch, und Lucius an sich: was dies alles bedeute.

«Mylord», begänne der Schwede, «um Euch zu bestimmen, muss ich Euch, mit Verlaub, untersuchen, wie die Objekte im Gresham College. Voreilig hielt ich diese Aufgabe für einfach. Doch ist sie wohl der Mühe wert. Zwar nannte ich Euch eine Missgeburt und kann dies eben nicht widerrufen, doch auch solche, wie man weiß, lohnen eine Bestimmung und zeigen die Vielfalt der Natur. Zwar habt Ihr mich gefoppt und beleidigt und ich grolle Euch sehr, doch weil ich Euch, in meinem Aberwitz, gut leiden mochte, als wir einander gestern trafen ...» Hier unterbräche er sich. Lucius schlüge die Augen nieder. «Nun denn», führe der Schwede fort, «ich will annehmen, Mylord, dass Ihr Wert genug habt, um studiert zu werden wie ein indianischer Kürbis oder ein Einsiedlerkrebs, der sich fremde Muschelschalen anzieht, weil er selbst kein Haus hat und sein Leib zu weich ist für ein ungepanzertes Leben. So will ich Euch denn bestimmen, zumal Ihr ausseht in Eurem weißen Kleid wie ein Baumwollstrauch aus Virginia.»

So spräche der Mann aus Schweden zu Lucy im weißen Kleid. Bald vergäße er den Mylord und das Euer Ehren, und Lucy vergäße, dass er kein Spiel wusste für den Schweden, und der Schwede brächte nach und nach eine gute Ordnung in Lucy, und Lucy brächte nach und nach eine gute Unordnung in den Schweden, und dies ginge weiter und weiter, die ganze Nacht.

Wie versteinert stand der Earl of Fearnall in der Throgmorton Street. Er fror. Sein Nacken schmerzte. Keinen einzigen Schritt wagte er in Richtung dieses Hauses. Er stand lange, eine Alabasterfigur mit menschlichem Haar, stumm und entsetzt und immer entsetzter, «die Pest ...», begann er, und noch einmal «die Pest ...», und irgendwann gab er es auf.

Lucius rannte die Broad Street entlang bis zur Börse und bis nach Cornhill und bis zum Church Market. Er stolperte. Er hatte kein Licht. Bald waren seine Schuhe nass und dann auch die Strümpfe und der Kot der Straße bespritzte das Kleid des Winters. Lucius folgte der Cheapside, dann bog er nach links ab in die finsteren Gassen. Er lief weiter, den Hut unterm Arm. Seine Locken ringelten sich eng, dann lösten sie sich langsam auf. Das Öl, das sie festigte, mischte sich mit dem Nebel, es machte Flecken auf Lucius’ Schultern und auf seiner Stirn. Er erreichte Lambeth Hill und lief hinunter zu den Werften. «Die Pest soll dich holen!», schrie Lucius die Themse an. Es gab Piraten auf dem Fluss. Lucius wünschte sich sehr, einer möge kommen, ihn angreifen vielleicht oder besser, ihn mitnehmen, auf die Themse und bis zum Meer, und ihn dort in seine Obhut nehmen als Piratenschüler, mit neuem Namen und geschorenem Haar und einem künstlichen Gesicht aus Wachs, damit niemand auf den gekaperten Schiffen den Earl of Fearnall erkenne, der seinen Stand und seine Erziehung so schimpflich verleugnete.

Kein Pirat kam zu Lucius Lawes. Auch sonst kam niemand. Allerlei Gestalten schlichen bei den Werften umher, aber sie behelligten das weiße Wesen nicht, denn es sah aus wie ein Schauspieler, den man von der Bühne gepfiffen hatte, oder wie das Gespenst eines Ertrunkenen.

Lucius kehrte um. Er lief die Thames Street stadtauswärts und dann nach links in die Black Boy Alley. Er fand das Haus, das er suchte. Lucius begann zu schreien. Er schrie nach Mr. Digges, immer wieder, immer lauter. Irgendwann öffnete Mrs. Digges ein Fenster. Sie war fett und pockennarbig und nicht angetan von der späten Störung.

«Schaffen Sie mir Ihren Mann her», brüllte Lucius. «Jetzt!»

Mrs. Digges verschwand. Mr. Digges schlurfte zum Fenster.

«Ja!», schrie Lucius.

Mr. Digges erkannte ihn nicht.

«Ich bin’s, Edward Pett», schrie Lucius, «kommen Sie herunter, ich brauche Sie, bringen Sie zwei Waffen mit, beim Himmel, ich bitte Sie, ich brauche Sie jetzt!»

Mr. Digges stöhnte und verschwand. Dann kam er auf die Straße, in Hemd und Hose, in der Hand zwei Degen. Edward Pett sah eigenartig aus in seinem unzeitigen Karnevalskostüm, aber wenn er nach Mr. Digges verlangte, wollte ihm Mr. Digges den Gefallen tun. Denn Edward Pett zahlte gut für Mr. Digges’ Dienste.

Unter den vielen Fechtmeistern der Stadt London war Mr. Digges derjenige, auf dessen Können man am meisten und auf dessen Leumund man am wenigsten gab. Er kämpfte auch mit Bären, wenn man ihm Geld dafür bot. Seine Haut war wie Baumrinde, seine Kunst mit dem Rapier unerreicht. Die Fechtlehrer des Adels drohten den Knaben mit Mr. Digges, wie man Kindern droht mit Waldgespenstern. Der junge Mann namens Pett, ein desertierter Matrose aus dem holländischen Krieg, war eines Tages bei Mr. Digges erschienen, um mit ihm die Klingen zu kreuzen. Dies sei ein Gelübde, sagte Pett. Edward Pett musste fechten mit dem schrecklichen Mr. Digges, weil er sein Land verraten und seine Familie verlassen und sonst noch allerlei Übles getan hatte, das ihm Geld einbrachte, welches er nun Mr. Digges gab wegen ebendieses Schwures. Mr. Digges kümmerten Mr. Petts Schwüre wenig, und woher er das Geld nahm, das er Mr. Digges gab, war Mr. Digges’ Sache nicht. Er warf einen kurzen Blick auf den Jüngling in Weiß, der nicht aussah wie jener Pett, den er kannte. Doch auch dies hatte Mr. Digges nicht zu kümmern. Er gab dem Kostümierten einen Degen, nahm eine Fackel und ging voran.

Lucius bezahlte im Voraus. Er folgte Mr. Digges zur Ruine von St. Mary Magdalen. Dort hatte Mr. Digges seine Fechthalle eingerichtet und empfing seine Schüler, wenn er denn welche hatte. Außer dem verrückten Edward Pett kamen wenige, und Schüler mochte Mr. Digges diesen Gast nicht nennen, denn der Matrose, warum auch immer, führte das Rapier wie sonst keiner in London, außer, vielleicht, Mr. Digges. Es gab Licht in St. Mary Magdalen, Fackeln, offenes Feuer. Die Brandwachen ließen den Meister gewähren, denn einem Mr. Digges fuhr man nicht in die Parade.

«Schnell», sagte Lucius.

Mr. Digges zündete die Fackeln an. Eine Kirche ohne Dach, geborstene Fenster. Lucius legte Rock und Weste ab. Er machte einen Schritt vor und einen zurück, er stand nicht gut, er bückte sich und zog die Schuhe aus, dann öffnete er die Spangen und die Bänder an den Knien und zog auch die Strümpfe aus, und dann nahm er den Dolch des Schweden, schnitt eine der Litzen ab und band damit sein Haar zurück.

«Schnell», wiederholte Lucius.

Mr. Digges zog. Lucius zog. Sie verzichteten, wie stets, auf den Gruß. Und dann schlugen sie sich, Mr. Digges und Lucius Lawes, hart und wortlos, Viertelstunde um Viertelstunde, bis die Stunde voll war, und dann hinein in die zweite Stunde, das Geräusch der Klingen, das Geräusch der Schritte, Attacco pede fermo, Attacco per camminata, Mr. Digges’ Stiefel und Lucius’ bloße Füße auf dem kalten Steinboden der rußgeschwärzten einstmaligen Kirche St. Mary Magdalen.

IV

SIMON CHRYSANDER saß an seinem Arbeitstisch und zergliederte eine Ratte. Sie war ein Weibchen. Er hatte es in der Gosse hinter der Pinners’ Hall aufgescheucht und erschlagen. Brustkorb und Bauchdecke waren bereits geöffnet, zurückgeklappt und festgesteckt, die Dünndarmschlingen zur Seite herausgelegt. Mit einer Uhrmacherpinzette zupfte Chrysander das Eingeweidenetz zurecht, bis es sich von den Gedärmen löste. Er studierte die Milz und den prallen graugrünen Blinddarm. Mit dem Griff des Skalpells berührte er die Harnblase, die Ratte hatte sie vor ihrem Tod nicht entleert. Chrysander durchtrennte Speiseröhre und Gekröse und entfernte dann den gesamten Darm. Die linke Niere war gerissen, wohl ein Ergebnis der Stockschläge, die rechte lag heil unter einem Leberlappen, blaurot, fest umschlossen von der Nierenkapsel, die Chrysander behutsam abzog. Er folgte dem Lauf der Arteria renalis mit der Spitze einer Präpariernadel. Alles war an seinem Platz. Auch die Eierstöcke, zwei kleine Trauben rechts und links auf der Rumpfwand, glichen jenen der schwedischen Ratten aufs Haar. Chrysander lehnte sich zurück. Zwei Gebärmütter hatte die Ratte aus der Gosse hinter der Pinners’ Hall, verwachsen am Stamm und gespreizt nach kranial wie ein Ypsilon. Auch dies hatte sie mit den Ratten aus Uppsala gemein. Chrysander blickte auf die Uhr. Die Nacht war noch längst nicht zu Ende.

Er zog die Nadeln aus dem Kadaver und warf ihn fort. Eine Weile half das Zergliedern, tröstete und besänftigte das Gemüt, doch irgendwann verbrauchte sich diese Arznei. Gestern hatte Chrysander ein Huhn aus der Küche seziert, einen Hering vom Markt und dann eine Stubenfliege und eine müde Assel. Er hatte das lappländische Moos untersucht, mit Lupe und Mikroskop, und einen Haken in das Büchlein gezeichnet, worin er alles niederschrieb, was die Chrysandria anbetraf. Auch Kauppi hatte er untersucht, seinen Puls, seine Atmung, Haut und Zähne und Haar. Alles fand Chrysander in bester Ordnung, Ratte, Huhn, Hering, Fliege, Assel, Moos und Kauppi, und dennoch mochte er nicht zu Bett gehen. Kaum schlief er ein, kamen Träume. Möchte der Herr mein Haar bitte halten, bis die Pumpe Wasser gibt? Chrysander schreckte auf, erhitzt und atemlos, und er rief sich ins Gedächtnis, worum es sich handelte bei dem Alb namens Lucy. Er zündete das Licht an. Er stand auf und fluchte. Dann löschte er das Licht und legte sich wieder hin. Ihr entflammt mein Herz, so sagt man doch in den Romanen? Lucys Brustbein, die Maßliebchen, die Linie ihres Halses. Zehn lange getupfte Finger, die kühl aussehen und dann doch warm sind, wenn man sie spürt. Und Lucy im Gehrock aus Goldbrokat, eine groteske Verkleidung, und Lucy mit Degen, ein sinnloser Schmuck für das sanfte Mädchen aus Cheshire. Bloß Badinage, guter Herr. Ruft mich. Dann komm ich. Die wohlgeordneten Eingeweide aller Kadaver von London hätten Simon Chrysander nicht zu erlösen vermocht von diesem Knoten in seinem Gehirn.

Josiah Blane hatte sich Dr. Chrysander anders vorgestellt. Älter. Nicht so schwarz. Und nicht so erbärmlich zerbläut.

Auf dem Weg in die Paternoster Row, wo er in einem Laden flämische Horlogien in Augenschein nehmen wollte, hatte Dr. Chrysander, so sagte er, innegehalten, um die Baustelle der neuen St. Paul’s Cathedral zu besichtigen; just in diesem Augenblick sei ein Brett vom Gerüst und auf seinen Kopf gefallen. An mindestens fünf Stellen hatte es ihn getroffen: Seine Lippe war gesprungen, das linke Auge verquollen und blutunterlaufen, die Stirn zerschrammt, die rechte Hand verbunden, und zudem hinkte er wie der Leibhaftige. Sir Christopher Wren, der Architekt von St. Pauls, entschuldigte sich wortreich, als habe er selbst auf dem Gerüst gestanden und das Brett auf den Schweden geworfen. Dr. Chrysander entgegnete nur wenig. Geniert sah Josiah mit an, wie Sir Christopher, noch halb in der Reverenz, auf ein Gegenkompliment wartete, das nicht kam. Sir Christopher richtete sich ruhig auf. Welch böses Brett dies gewesen sei, meinte er ernst, zumal auf einem Gotteshaus; Verwundungen verursache es wie ein Grobian in einer Wirtshausprügelei. Auch hierauf erwiderte Dr. Chrysander nichts.

Die Sitzung der Royal Society war gut besucht. Man hatte Stühle aus dem Physiktrakt holen müssen, um alle unterzubringen: Dr. Crew und Mr. Colwall, Sir John Hoskyns, Sir Jonas Moore, Mr. Hill und Mr. Hall und Mr. Perlons, Dr. Croune, Dr. Mapletoft, den alten Dr. King, Dr. Cox, Dr. Holder, Dr. Gale, den stets erblindenden Mr. Pepys, der die Augenklappe heute links trug, Mr. Ent, Mr. Houghton, Mr. Henshaw und natürlich Mr. Hooke, mit sauberer Halsbinde, gewaschenem Haar und einer bedrohlich gekräuselten Oberlippe. Den Vorsitz führte turnusgemäß Mr. Aubrey. Er trug Purpur wie ein Kardinal und Silberspitzen bis fast übers Kinn. Er grinste. Sir Christopher antwortete mit dem Hauch eines Lächelns. Josiah Blane warf einen schnellen Blick auf Dr. Chrysanders blaues Auge.

Die Mitglieder der Royal Society standen auf der einen Seite des langen Tisches, Dr. Chrysander, allein, auf der anderen. Mr. Aubrey machte sein Kompliment und eröffnete die Sitzung. Die Engländer tippten auf ihre Degenknäufe, um die Rockfalten zurückzustoßen, Lind nahmen dann Platz. Der Schwede setzte sich ebenfalls, das steife Bein ausgestreckt, und zerrte mit der Linken den Rockschoß unter seinem Gesäß hervor. Auf dem Tisch stand das Katzenkaninchen aus Kensington. Mr. Colwall hatte es nach Mr. Aubreys Beschreibung ausfindig gemacht und entführt, dann getötet, ausgenommen, ausgestopft, in eine gefällige Haltung gebracht – aufrecht, mit offenem Maul, fast wie der steigende Löwe in einem Wappen –, schließlich hatte er es auf einen Mahagonisockel genagelt und auf den Sitzungstisch gestellt. Alle Augen ruhten auf dem Wunder. Dann wanderten die Blicke zu Simon Chrysander. Josiah Blane, er wusste selbst nicht warum, öffnete die Kladde Beschlüsse und Ergebnisse.

«Ich danke Ihnen, meine Herren, für die Einladung nach London», sagte Dr. Chrysander in seinem weichen und singenden Englisch, das seine spitze Handschrift, fand Josiah, in befremdlicher Weise Lügen strafte. «Ich danke Ihnen auch, dass Sie so zahlreich erschienen sind, um mich im Gresham College zu begrüßen. Ich möchte Ihnen nun in der gebotenen Kürze die Grundzüge meiner Methode erläutern, damit Sie unterrichtet sind, welche Dienste ich Ihnen und Ihren Sammlungen anbieten kann.»

Mr. Colwall räusperte sich. Dr. Chrysander folgte Mr. Colwalls Blick, der starr auf das Tier aus Kensington gerichtet war. Dr. Chrysander sah es an, als handle es sich um einen beliebigen Tafelaufsatz, Silberwaren vielleicht oder ein Blumengesteck. Dann fuhr er fort mit seiner Ansprache.

«Die Klassen der Natur, meine Herren, schreiten fort vom Ungestalteten zum Gestalteten, vom Einfachen zum Mehrfachen, vom leicht Verständlichen zur schwierig verflochtenen Struktur. Jede Ordnung beginnt mit Beschreibung. Jede Beschreibung beginnt ...»

«Ich glaubte, Sir», unterbrach ihn Mr. Colwall, «einigen Grund zu der Annahme zu haben, dass das Objekt auf dem Tisch Ihre Aufmerksamkeit verdienen könnte.»

Dr. Chrysander gab keine Antwort. Er stand jedoch auf und besichtigte folgsam das Tier. Er strich über Rücken und Bauch, berührte die Blume, dann steckte er zwei Finger ins Maul und betastete die Zähne. Er nickte und setzte sich wieder.

«Schön, Herr Kollege. Ein Kater mit deformiertem Gebiss, der früh den Schwanz verlor, weshalb das Haarkleid dicht den Stumpf umwuchs.»

«Haha», machte Dr. Grew.

«Das Monstrum», sagte Mr. Colwall, «wurde von einem Kaninchen geboren.»

«Behauptet Mr. Colwall», setzte Dr. Grew hinzu.

«Wurde berichtet aus Kensington», ergänzte Mr. Aubrey.

«Haha», machte Dr. Grew.

Josiah musterte das Tier. Alles Kaninchenhafte war aus dem Monstrum verschwunden in den Augen von Josiah Blane.

«Carnivora und Hasenartige kreuzen sich nicht», sagte Dr. Chrysander, «darum wird die Mutter des Katers kein Kaninchen gewesen sein.»

«Kennen Sie Kensington?», fragte Mr. Aubrey. «Die Sitten sind locker dort.»

«Die Sitten schlagen nicht die Regeln der Natur.»

«Man gab eine Hure mit einem Affen zusammen in Kensington. Sie empfing, doch die Frucht ging ab.»

«Eine Frau und ein Affe», erklärte Dr. Chrysander, «ähneln einander mehr als eine Katze und ein Kaninchen.»

«Worin? In den Sitten?»

«Im Gebiss. In der Stellung der Daumen, der Faltung des Gehirns, dem Schädelbau, der Rückenmuskulatur und den brustständigen doppelten Zitzen.»

Mr. Pepys und Dr. King begannen herzlich zu lachen. Dr. Grew seufzte ein wenig über Mr. Colwall und schenkte Dr. Chrysander ein nicht erwidertes Lächeln.

«Welches ist Ihre Geburtsstunde?», erkundigte sich Mr. Aubrey.

«Ich weiß es nicht, Sir. Es wurde nicht notiert.»

«Ob Ihr Saturn Ihre Venus beengt? Gott sei’s geklagt, Herr Kollege, wir werden es wohl nie erfahren.»

Sir Jonas Moore und Mr. Henshaw stimmten in Mr. Pepys’ Gelächter ein. Dr. King war verstummt und begann ein Buch zu lesen. Dr. Mapletoft verlangte nach Kaffee. Mr. Hall tuschelte mit Mr. Houghton. Josiah Blane klappte Beschlüsse und Ergebnisse zu und öffnete die Vermischten Bemerkungen. Dr. Grew warf kühle Blicke auf Mr. Colwall und dessen Jagdtrophäe aus Kensington. Mr. Hooke stand auf, griff sich das Tier, rief Harry, übergab es ihm und befahl, es ins Kabinett zu tragen.

«Ich gestehe, Sir», sagte Mr. Hooke, «dass ich erfreut wäre, nun in Bälde die Fortführung Ihrer Geleitworte zur Ordnung der Sammlungen zu vernehmen.»

Sir Jonas, Mr. Henshaw und Mr. Pepys hörten auf zu lachen. Dafür kicherte nun Mr. Aubrey. Er schlug über seinem Weinglas lautlos die Hände zusammen. Die Silberspitzen flirrten unter seinem Kinn.

«Ein naturkundliches Kabinett», sagte Dr. Chrysander, «sofern es gut angelegt ist, bildet die Welt ab und nicht den Ehrgeiz des Sammlers. Das hypothetische Museum ist der Schöpfung gleich; es umfasst alles, vom Niedrigsten bis zum Höchsten, in einer Ordnung, die der verborgenen Ordnung der Welt entspricht. Vollständigkeit bleibt allemal unerreichbar. Der Ordnung indes, und dies ist das Ziel, vermögen wir uns, so wir bescheiden bleiben, durchaus anzunähern. Bescheiden sein heißt: die Lücken der Sammlung dulden. Bescheiden sein heißt auch: die Lücken nicht dem Scheine nach schließen, indem wir zusammenzwingen, was nicht zusammengeht. Ordnung heißt: vom Kleinsten zum Kleinen fortschreiten, nach dem Mittleren tasten, das Große als fern begreifen. Ordnung heißt nicht: kunstvolle Hüte auf die unpassenden Köpfe setzen. Sammeln heißt: gerecht sein mit der Vielfalt. Sammeln heißt nicht: das Schöne, das Abseitige, das Monströse, das Fremde horten. Missgeburten, wie man sie liebt in den Kabinetten, sind entbehrlich und beweisen nichts. Selten sind sie das Terpentin wert, in dem man sie verwahrt. Sammeln heißt nicht, einen Jahrmarkt bestücken. Sammeln heißt nicht Mischmascherei. Und Sammeln heißt auch nicht ...»

Mr. Colwall hatte sich verschluckt. Er hustete schlimm. Dr. Croune klopfte ihm auf den Rücken, Harry brachte Wasser, Mr. Colwall trank und hustete weiter.

Josiah Blane massierte seine Schreibhand. Er vernahm etwas in Mr. Colwalls Husten, das wie «schulfüchsische Überweisheit» klang. Josiah blickte Dr. Chrysander an. Er sprach nicht gern, sah Josiah; bisweilen sah Josiah Blane solche Dinge.

«Sammeln heißt ergänzen», fuhr Dr. Chrysander fort, «und ergänzen heißt verstehen. Wenn wir verstehen, was wir haben, verstehen wir, was uns fehlt. Wir haben die Haut eines Mohren – wir ergänzen die Haut eines Weißen. Wir haben eine Gallenblase mit Krebs – wir ergänzen eine gesunde. Wir haben ein Krokodil, wir ergänzen einen Frosch, wir haben eine mexikanische Fleckwanze und ergänzen eine Bettwanze aus der Paternoster Row.»

«Und wir haben zwei Räume», meinte Sir Christopher sanft, «und wir ergänzen ein großes Haus, denn andernfalls, Herr Kollege, bleiben Ihre geschätzten Bettwanzen unbehaust, falls Sie, wenn ich Sie recht verstehe, zukaufen möchten.»

«Es ist nicht nötig», erwiderte Dr. Chrysander, «denn nichts schmückt uns so wie der Mangel: Gestehen wir ihn ein, tun wir kund, dass wir wissen um die fehlenden Glieder.»

«Und das hieße in praxi?», fragte Mr. Hooke.

«Lücken», sagte Dr. Chrysander, «sichtbare schlichte Lücken.»

«Mit Zetteln versehen», empfahl Mr. Aubrey, «‹geneigter Betrachter, hier fehlt uns die Bettwanze, bitte verzeihen Sie›; ‹Hier müsste eine Spitzmaus sitzen, wenn wir sie denn hätten, seien Sie so gütig, gehen Sie weiter zur Rose von Jericho›.»

Die Royal Society lachte. Dr. Croune bat den Schweden um eine Erläuterung seiner rätselhaften Rationes.

«In der gebotenen Bescheidenheit will ich es versuchen.» Dr. Chrysanders verquollenes Auge tränte. Er wischte sich die Wange.

«Ich nenne Ratio, was ich als Teil des Ganzen zu verstehen begann. Die Ratio ist die mathematische Darstellung der Ordnung eines umschriebenen Gebiets. Ich schreite fort von Ratio zu Ratio, wie der Kartograph, der das Land durchwandert, um es Schritt für Schritt zu beschreiben. Der Rationes sind viele. Sie berühren einander und haben die Grenzen gemein, wie Waben in einem Bienenstock, wie die Blasen im Seifenschaum. Sind sie recht gefasst, so ordnen sie sich zwanglos zueinander, ergänzen und umschließen sich, wie auch die Dinge der Welt sich zueinander ordnen, sich ergänzen und umschließen und wieder umschließen, bis das Ganze aus seinen Meilen recht gefügt ist. Die Ratio der Welt ...»

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