Kitabı oku: «Europäisches Prozessrecht», sayfa 2
§ 1 Einführung
Inhaltsverzeichnis
A. Bedeutung des Prozessrechts
B. Thematische Begrenzung
C. Komplementärer und kooperativer Rechtsschutz in Europa
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„Ubi ius, ibi remedium“.[1] Nach diesem alten lateinischen Rechtsgrundsatz soll ein Recht stets mit der Möglichkeit der Abhilfe bei Verletzungen und mit prozessualen Durchsetzungsmechanismen verbunden sein. Im Einklang damit bestimmte schon § 89 der Einleitung des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten von 1794: „Wem die Gesetze ein Recht geben, dem bewilligen sie auch die Mittel, ohne welche dasselbe nicht ausgeübt werden kann.“[2] Im Grundsatz verhält es sich mit dem Recht der Europäischen Union (Unionsrecht, Europarecht i.e.S.[3]) nicht anders. Als „Rechtsgemeinschaft“ (dazu § 2) durchdringt die Europäische Union (EU) die heutige Rechtswirklichkeit in mannigfaltiger Weise und gehört daher zu Recht zum Pflichtstoff der juristischen Staatsexamina. Regelmäßig umfasst der dort beschriebene Kanon auch das „Rechtsschutzsystem des Unionsrechts“.[4] Dem entsprechend finden sich in allen Standardlehrbüchern zum Europarecht Kapitel, die sowohl den Gerichtshof der Europäischen Union (GHEU) als Institution als auch das von diesem anzuwendende Verfahrensrecht mehr oder weniger ausführlich erörtern. Das vorliegende Lehrbuch behandelt das Rechtsschutzsystem in der EU eingehend. Es befasst sich neben den Verfahrensarten vor dem GHEU (§§ 3 bis 12) auch mit den Bezügen zwischen dem europäischen Recht und einzelstaatlichem Rechtsschutz (§ 13). Schließlich behandelt es andere zwischenstaatliche Gerichtsverfahren in Europa, insbesondere das Individualbeschwerdeverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR, § 14).
§ 1 Einführung › A. Bedeutung des Prozessrechts
A. Bedeutung des Prozessrechts
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Obgleich zum Wesen des Rechts – wie der Grundsatz ubi ius, ibi remedium andeutet – seine zwangsweise Durchsetzung zählt,[5] kann und ist der dem Recht innewohnende Anspruch, durchgesetzt zu werden, in zweierlei Hinsicht auf das flankierende Prozessrecht angewiesen.
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Erstens ist denkbar, dass gesetztes Recht zwar verbindlich wirkt und mittels einseitiger Maßnahmen auch durchgesetzt werden könnte, von den Betroffenen aber unterschiedlich ausgelegt wird. Es bedarf dann nach rechtsstaatlichen Grundsätzen der Klärung durch eine zur Streitentscheidung berufene Instanz, z.B. durch ein Gericht. Dieses hat die Möglichkeit und die Aufgabe, den Parteien, insbesondere den strukturell nicht mit Zwangsbefugnissen ausgestatteten Akteuren (natürliche oder juristische Personen), Rechtsschutz zu gewähren. Daraus ergibt sich das Verbot der Selbstjustiz.
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Zweitens sind die Rechtsbeziehungen der Akteure und der Rechtsunterworfenen in Bezug auf überstaatliches Recht häufig ohne einseitige Durchsetzungs- und Zwangsbefugnisse ausgestaltet, insbesondere wenn es sich um verbandsinterne Regelungen handelt.
Beispiel:
Erst durch das Urteil des Gerichtshofs in der Rs. C-303/94[6] wurde klargestellt, dass die Anhörung des Parlaments ein notwendiger Bestandteil des im damaligen Art. 43 II EWG-Vertrag (heute: ordentliches Gesetzgebungsverfahren nach Art. 43 II, Art. 294 AEUV) vorgeschriebenen Konsultationsverfahrens ist und ein Verstoß deswegen zur Nichtigkeit einer ohne Parlamentsbeteiligung erlassenen Richtlinie führt.
§ 1 Einführung › B. Thematische Begrenzung
B. Thematische Begrenzung
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Der Begriff des Prozessrechts ist zunächst in Abgrenzung zum materiellen Recht zu verstehen. Materiell-rechtliche Regelungen treffen inhaltliche Vorgaben unterschiedlichen Abstraktionsniveaus, die auf die Vielzahl der Akteure und Lebenssachverhalte im Mehrebenensystem des europäischen Rechtsschutzes (d.h. der nationalen Ebene, der Unionsebene und der internationalen, d.h. zwischenstaatlichen Ebene) angewandt werden. Sie legen fest, wem welche Rechte oder Pflichten unter welchen Voraussetzungen zustehen oder nicht zustehen.
Beispiel:
Das unionsrechtliche Loyalitätsgebot begründet eine Pflicht sowohl der Union als auch der Mitgliedstaaten, sich loyal zueinander zu verhalten, woraus verschiedene Informations- und Rücksichtnahmepflichten sowie das Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung resultieren. Dies wirkt sich auf verschiedenen Ebenen aus. Art. 4 III EUV modifiziert zum Beispiel nationales Verwaltungsrecht, indem der Ermessenspielraum der Verwaltungsbehörden bei der Rücknahme unionsrechtswidriger Beihilfen auf null reduziert wird.[7] Im Grundrechtsschutz folgt aus Art. 4 III EUV eine möglichst unionsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts, weshalb Art. 19 III GG dahingehend ausgelegt wird, dass sich auch EU-ausländische juristische Personen auf die Grundrechte des Grundgesetzes berufen können.[8]
I. Gerichtliche Rechtsdurchsetzung
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Derartige Streitigkeiten zwischen Rechtsträgern werden durch Gerichte entschieden, die dem Recht zu seiner Durchsetzung verhelfen. Das Prozessrecht regelt dabei die Mechanismen, wie Gerichte zu ihren Entscheidungen gelangen. Das materielle Recht hingegen regelt, welchen Inhalt die Entscheidung hat – wenngleich auch hier prozessuale Regelungen von Bedeutung sein können. Unter den in diesem Lehrbuch eng verstandenen Begriff des Prozessrechts fallen nur die Verfahren zur Rechtsdurchsetzung vor Gerichten. Andere Verfahrensregelungen bleiben weitgehend außer Betracht. Zu diesen nicht-gerichtlichen Verfahren gehören auf Unionsebene das Petitionsverfahren vor dem Europäischen Parlament (Art. 24 II, Art. 227 AEUV) und die Untersuchungen des Europäischen Bürgerbeauftragten (Art. 228 AEUV). Auf nationaler Ebene steht in Deutschland mit dem behördlichen Ausgangsverfahren (VwVfG und den Verwaltungsverfahrensgesetzen der Länder), dem Widerspruchsverfahren (§§ 68 ff. VwGO) und dem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (§ 80 IV VwGO) verwaltungsinterner Rechtsschutz zur Verfügung. Hierauf wird nur insoweit eingegangen, als Unionsrecht auf das verwaltungsgerichtliche Verfahren einwirkt (s. Rn. 606 ff.).
II. Europäisches Prozessrecht
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Aus dem so verstandenen „Prozessrecht“ behandelt das vorliegende Lehrbuch die Teilmenge des „europäischen“ Prozessrechts. Als institutionelles, d.h. rechtlich verfasstes, „Europa“ (ein ansonsten primär geografisch und historisch belegter Begriff) liegt zunächst die Konzentration auf die Mitgliedstaaten des Europarates, einer bereits 1949 gegründeten internationalen Organisation mit heute 47 Mitgliedstaaten, nahe. Prozessrechtlich ergiebig ist hier die Individual- und Staatenbeschwerdemöglichkeit vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zur Wahrung der in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gewährleisteten Menschenrechte (§ 14). Infolge der deutlich breiteren und zugleich tieferen rechtlichen Verfasstheit meint „Europa“ aber auch und im rechtlichen Sinne vor allem die EU und ihre (noch)[9] 28 Mitgliedstaaten. Nach herrschender Lesart handelt es sich bei der EU um eine supranationale internationale Organisation, für die das Bundesverfassungsgericht den Begriff des „Staatenverbundes“ geprägt hat.[10] Durch das hohe Maß der mitgliedstaatlichen Integration in ein rechtlich und institutionell ausdifferenziertes System ist die EU für die Rechtswirklichkeit in Europa bedeutsam und für die Rechtswissenschaft herausfordernd.
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Europäisches Prozessrecht ist danach das Verfahrensrecht zur Durchsetzung des materiellen Europarechts, d.h. des Rechts der EU sowie der EMRK. Das hier zugrunde liegende Verständnis von Europäischem Prozessrecht umfasst somit schwerpunktmäßig das Unionsprozessrecht. Dazu zählen die Unionsgerichtsbarkeit (§ 3) und die dort angesiedelten Verfahren (§ 4 bis 12). Darüber hinaus werden die Wechselbeziehungen zwischen Unionsrecht und nationalem Recht im Sinne eines „europäischen Rechtsraums“ (A. v. Bogdandy)[11] und das EMRK-System umfasst (§§ 13 und 14).
III. Europäisierung des nationalen Prozessrechts
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Zu Europa und damit zum europäischen Prozessrecht könnten auch die europäischen Staaten und ihre nationalen Rechtsschutzsysteme gezählt werden. Ihnen kommt eine wichtige Rolle in Bezug auf das Unionsrecht zu (vgl. Art. 19 I UA 2 EUV), mit denen sich dieses Lehrbuch ebenfalls befasst. Der Bezug kann darin bestehen, dass die nationalen Gerichte europäisches Recht unmittelbar anwenden oder europäische Gerichte anrufen können, oder dass nationales Prozessrecht durch Europarecht beeinflusst bzw. determiniert wird (Europäisierung des Prozessrechts). Mitgliedstaatliche Gerichte werden insoweit regelmäßig auch als „Unionsgerichte im funktionellen Sinne“ bezeichnet[12] – im Gegensatz zum GHEU-System als Unionsgerichtsbarkeit im institutionellen Sinne.
§ 1 Einführung › C. Komplementärer und kooperativer Rechtsschutz in Europa
C. Komplementärer und kooperativer Rechtsschutz in Europa
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Der aus dem deutschen Verwaltungsrecht bekannte Grundsatz, dass der verwaltungsgerichtliche Rechtsschutz den Handlungsformen der Verwaltung folgt,[13] gilt ebenso für das europäische Prozessrecht. Dabei sind die europäische und die nationalen Gerichtsbarkeiten einander nicht vor- oder nachgeordnet, sondern stehen nebeneinander. Einen Instanzenzug, wie er in nationalen Rechtsordnungen anzutreffen ist, gibt es zwar innerhalb des GHEU, nicht aber zwischen den nationalen und europäischen Gerichten. Auch der EGMR ist kein Teil eines Instanzenzugs, obwohl seine Anrufung die nationale Rechtswegerschöpfung voraussetzt. Das entspricht im deutschen Prozessrecht der Situation der Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Der EGMR nimmt die Rolle eines spezialisierten Menschenrechtsgerichts mit Auslegungsautorität über die EMRK ein.
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Im Ergebnis herrscht also eine durch den jeweiligen Rechtsstreit indizierte und im Hinblick auf die jeweiligen Letztentscheidungszuständigkeiten ausdifferenzierte kooperative Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Gerichtsbarkeiten. Das Verhältnis zwischen dem GHEU und dem BVerfG wird von letzterem selbst explizit als „Kooperationsverhältnis“ charakterisiert.[14]
I. Rein nationale Verfahren
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Rein national gelagerte Sachverhalte betreffende Rechtsstreitigkeiten, auf die nur innerstaatliches Recht Anwendung findet, werden von den zuständigen einzelstaatlichen Gerichten nach Maßgabe der nationalen Gerichtsverfassungen und Prozessordnungen behandelt und entschieden. Daran können sich Verfahren vor dem EGMR anschließen, wenn die Sachverhalte menschenrechtlich relevante Fragen aufwerfen.
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Allerdings können nationalrechtliche Verweise in das Unionsrecht oder Gleichbehandlungsgebote des nationalen Rechts bewirken, dass auch rein innerstaatliche Sachverhalte, auf die auch kein harmonisiertes Unionssekundärrecht Anwendung findet, unionsrechtliche Fragestellungen begründen.
Beispiele:
Dies gilt für die sog. überschießende Richtlinienumsetzung[15] oder die Anwendung der Grundfreiheiten auf innerstaatliche Sachverhalte (wie z.B. in Österreich oder Italien wegen der dort verfassungsrechtlich verbotenen Inländerdiskriminierung[16]). In solchen Fällen sind Vorabentscheidungsersuchen der nationalen Gerichte zur Auslegung des in Bezug genommenen Unionsrechts nach Art. 267 I AEUV regelmäßig zulässig, auch wenn dies von den Mitgliedstaaten ebenso häufig bestritten wird.
II. Rein unionale Verfahren
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Rechtsstreitigkeiten, die aus der Ausübung von Hoheitsgewalt resultieren, die die Mitgliedstaaten ausdrücklich der EU übertragen haben, werden durch den GHEU selbst oder mittelbar durch Beantwortung von Vorlagefragen (Art. 267 AEUV) entschieden. In diesen Bereichen wurde der Vollzug des Unionsrechts zuvor unmittelbar den Unionsorganen oder anderen EU-Institutionen übertragen (sog. unmittelbarer oder direkter Vollzug des Unionsrechts, z.B. im Wettbewerbsrecht (Art. 101 ff. AEUV) oder im Außenwirtschaftsrecht (Art. 206 ff. AEUV). Gleiches gilt für inter-institutionelle Streitigkeiten der EU oder für aus der EU-Mitgliedschaft erwachsende Rechte und Pflichten der Mitgliedstaaten. Diese können auch als „EU-verfassungsrechtliche“ Streitigkeiten bezeichnet werden. Die so beschriebenen Zuständigkeitsbereiche des GHEU setzen eine mitgliedstaatliche Zuständigkeitsübertragung für ein bestimmtes Verfahren im Einzelnen voraus. Denn auch die Organkompetenz des GHEU wird von der auf dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung basierenden Verbandskompetenz der EU (Art. 4 I, Art. 5 I f. EUV) determiniert.
III. Mischformen in Vollzug und Rechtsschutz
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Vollziehen mitgliedstaatliche Behörden Unionsrecht, das in die nationalen Rechtsordnungen punktuell einwirkt, ohne einen Sachverhalt gänzlich zu regeln, wird europarechtlich determinierte, aber im Kern nationale Hoheitsgewalt ausgeübt. Den Rechtsschutz gegen solche Maßnahmen gewähren in erster Linie die mitgliedstaatlichen Gerichte als Unionsgerichte im funktionellen Sinne.[17] Da sie dabei als staatliche Stellen die Anwendung und Durchsetzung (auch) des Unionsrechts sicherstellen, kommt ihnen eine wichtige Rolle im europäischen Rechtsschutzsystem zu. Das Unionsrecht nimmt die mitgliedstaatlichen Gerichte in die Pflicht, in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen wirksamen Rechtsschutz zu gewährleisten (Art. 19 I UA 2 EUV). Dafür müssen die Mitgliedstaaten nötigenfalls die erforderlichen Vorkehrungen treffen. Der Prüfungsmaßstab der nationalen Gerichte hängt hingegen davon ab, inwieweit die einzelstaatlichen Hoheitsakte durch Unionsrecht determiniert werden.
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Den „Brückenschlag“ zwischen den nationalen Gerichten und dem GHEU bildet das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV. Es ist das prozessuale Pendant zu den Rechtsinstituten der unmittelbaren Anwendung und des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts.[18] Durch Vorlagen erhält der GHEU die Möglichkeit, letztverbindlich über die Wirksamkeit und Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden, während die mitgliedstaatlichen Gerichte für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits und die Auslegung und Anwendung nationalen Rechts zuständig bleiben. Dieser „Dialog der Gerichte“ führt dazu, dass die komplementären Zuständigkeitsbereiche der Gerichtsbarkeiten nicht unverbunden nebeneinander stehen. So wird den differenzierten Handlungsformen nationaler und unionaler Hoheitsgewalt innerhalb eines Rechtsstreits auch insoweit kooperativ Rechnung getragen, als die nationalen Gerichte innerhalb eines „europäischen Justizverbundes“[19], wie ihn Art. 19 I EUV vorsieht, agieren und entscheiden.
IV. Zentrale Rolle des GHEU
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Eine wichtige Rolle innerhalb der EU nimmt der GHEU ein, der aus dem Gerichtshof (EuGH) und dem Gericht (EuG) besteht (Art. 19 I UA 1 S. 1 EUV). Der GHEU ist Hüter der Verträge und Garant für die einheitliche Auslegung und Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Überdies sichert er das institutionelle Gleichgewicht zwischen den europäischen Institutionen und Organen.
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Für die Erfüllung dieser Funktionen sehen die Verträge verschiedene Rechtsschutzverfahren vor. In ihrer Gesamtheit führen diese Verfahren dazu, dass der GHEU einerseits als Fachgericht über die Auslegung und richtige Anwendung des materiellen Unionsrechts entscheidet. Andererseits kommen ihm durch die Auslegung des primären Unionsrechts und der Entscheidung über die darin vorgesehenen Rechte und Pflichten der Unionsorgane (diese zählt Art. 13 EUV auf) sowie die unionsrechtlich übernommenen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten auch verfassungsgerichtliche Funktionen zu, soweit man das Primärrecht als die Verfassung der Europäischen Union ansieht.
Beispiel:
Die Zuständigkeiten für die Nichtigkeitsklage werden zwischen EuGH und EuG in einem differenzierten System zugewiesen. Im Ergebnis werden dabei die eher verwaltungsrechtlichen Fälle dem EuG, die hingegen als verfassungsrechtlich zu charakterisierenden Fälle dem EuGH zugewiesen (s. Rn. 221 ff.).[20]
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Auch der GHEU ist ein Geschöpf der Verträge, errichtet durch den Willen der Mitgliedstaaten nach den Art. 19 EUV, Art. 251 ff. AEUV und begrenzt durch das geltende Unionsrecht. Doch da der GHEU die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft (so der Gerichtshof selbst in der Rs. 294/83 [Les Verts/Parlament][21]) maßgeblich konkretisiert, nimmt er eine zentrale Funktion im Gesamtkonstrukt der EU ein. Ausschließlich ihm unterliegt die Kontrolle unionaler Rechtsakte sowie die letztverbindliche Auslegung und Anwendung des Unionsrechts (vgl. Art. 19 I UA 2 EUV), ohne dass er dabei selbst über dem Primärrecht steht. Die Schwerfälligkeit des Vertragsänderungsverfahrens (Art. 48 EUV) führt allerdings dazu, dass eine dem Willen der primärrechtssetzenden Mitgliedstaaten nicht entsprechende GHEU-Interpretation jedenfalls der EU-Verträge nur schwerlich korrigiert werden kann.
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Vertiefende Literatur:
von Bogdandy, Was ist Europarecht?, JZ 2017, 589 ff.; Everling, Rechtsschutz in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon, EuR 2009 Beiheft 1, 71; Haratsch, Die kooperative Sicherung der Rechtsstaatlichkeit durch die mitgliedstaatlichen Gerichte und die Gemeinschaftsgerichte aus mitgliedstaatlicher Sicht, EuR 2008, Beiheft 3, 81 ff.; Kraus, Die kooperative Sicherung der Rechtsstaatlichkeit der Europäischen Union durch die mitgliedstaatlichen Gerichte und die Gemeinschaftsgerichte, EuR 2008, Beiheft 3, 109 ff.; Lenaerts, Kooperation und Spannung im Verhältnis von EuGH und nationalen Verfassungsgerichten, EuR 2015, 3 ff.; Pernice, Die Zukunft der Unionsgerichtsbarkeit, EuR 2011, 151 ff.; Schwarze, Die Wahrung des Rechts durch den Gerichtshof der Europäischen Union, DVBl 2014, 537 ff.; Sydow, Europäisierte Verwaltungsverfahren, JuS 2005, 97 ff.; Voßkuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 2010, 1 ff.
Anmerkungen
[1]
Abgedruckt in Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 7. Aufl. 2007, S. 236.
[2]
Hattenhauer/Bernert (Hrsg.), Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, 3. Aufl. 1996, S. 60.
[3]
Zum Begriff des Europarechts s. Streinz, Europarecht, 10. Aufl. 2016, § 1 Rn. 1.
[4]
Vgl. z.B. § 18 II Nr. 6 der bayerischen Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen (JAPO) vom 13.10.2003 in der seit 1.7.2017 geltenden Fassung.
[5]
Lesenswert insofern das kurze, sich kritisch gegen das positivistische Rechtsverständnis des Nationalsozialismus wendende Manifest Gustav Radbruchs, Fünf Minuten Rechtsphilosophie, in: Rhein-Neckar-Zeitung vom 12.9.1945, zitiert in ders., Rechtsphilosophie, 8. Aufl. 1973, S. 327 ff.
[6]
EuGH, Rs. C-303/94, Europäisches Parlament/Rat, Slg. 1996, I-2943, Rn. 33.
[7]
Herrmann, Examensrepetitorium Europarecht, Staatsrecht III, 6. Aufl. 2017, Rn. 125 ff.
[8]
Herrmann, Examensrepetitorium Europarecht, Staatsrecht III, 6. Aufl. 2017, Rn. 73.
[9]
Nach derzeitigem Stand wird das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland am 29.3.2019 die EU gemäß Art. 50 Abs. 3 S. 1 EUV verlassen (dazu s. Rn. 146 ff.).
[10]
BVerfGE 89, 155 (181 ff.).
[11]
von Bogdandy, Was ist Europarecht, JZ 2017, S. 589 ff. (597).
[12]
Calliess/Ruffert/Wegener, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 267 AEUV Rn. 1.
[13]
Maunz/Dürig/Schmidt-Aßmann, Grundgesetz-Kommentar, 81. EL September 2017, Art. 19 Abs. 4 GG Rn. 67.
[14]
BVerfGE 89, 155 (175); Voßkuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 2010, S. 1 ff. (1 ff.).
[15]
EuGH, Rs. C-297/88, Dzodzi, Slg. 1990, I-3763, Rn. 29-43; Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 62. EL 2017, Art. 288 AEUV Rn. 131.
[16]
EuGH, Rs. C-451/03, Servizi ADC, Slg. 2006, I-2941, Rn. 28 f.; EuGH, Rs. C-250/03, Mauri, Slg. 2005, I-1267, Rn. 21.
[17]
Calliess/Ruffert/Wegener, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 267 AEUV Rn. 1.
[18]
Streinz, Europarecht, 10. Aufl. 2016, § 8 Rn. 717.
[19]
Pernice, Die Zukunft der Unionsgerichtsbarkeit, EuR 2011, S. 151 ff. (153 f.).
[20]
Im deutschen Recht hingegen schafft § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO mit der Anforderung einer öffentlich-rechtlichen Streitigkeit „nichtverfassungsrechtlicher Art“ im Zusammenspiel mit Art. 93 GG eine vergleichbare Trennung, allerdings zwischen Verwaltungsgerichtsbarkeit und Bundesverfassungsgerichtsbarkeit (vgl. insb. Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 und Nr. 4 GG sowie § 50 Abs. 1 Nr. 1 VwGO für den „nichtverfassungsrechtlichen Bund-Länder-Streit“).
[21]
EuGH, Rs. 294/83, Parti écologiste „Les verts“/Europäisches Parlament, Slg. 1986, 1339, Rn. 23.