Kitabı oku: «Hans im Glück oder Die Reise in den Westen», sayfa 7
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Katharina stand um acht vor seiner Zimmertür und klopfte. Niemand öffnete. Wieder im Foyer, sah sie Georg soeben eiligen Schrittes auf das Hotel zusteuern. In der Tür stießen sie aufeinander.
Ich musste mir nur noch den neuen SPIEGEL besorgen. Da soll ein kleiner Beitrag zum politischen Witz in der DDR zu finden sein.
Zum politischen Witz? Dienstliches Interesse?
Beides. Zuerst dienstliches, ich habe darüber mal einen Vortrag gehalten. Aber auch privates. Obwohl die DDR schon 17 Jahre tot ist, halten sich erstaunlich viele politische Witze noch am Leben. Manche höre oder lese ich jetzt zum ersten Mal.
Ich kenn auch einen, sagte Katharina.
Und während sie sich in Bewegung setzten, begann sie zu erzählen: Honecker und Schmidt treffen sich 1981 am Werbellinsee.
Den kenn ich, sagte Georg. Das ist der mit den Hobbys.
Katharina machte eine unwillige Handbewegung: Immer nimmst du einem den Spaß.
Sie führte ihn in ein spanisches Restaurant, das er nicht kannte.
Heute essen wir Tapas, habe ich entschieden, erklärte sie. Was dagegen?
Wie sollte ich, wenn ich eingeladen bin, antwortete er, indem er ihr die Tür aufhielt.
Nicht der Mann zuerst, fragte sie.
Meines Wissens gilt das nur für Kneipen, bei denen man damit rechnen muss, dass einem gleich mal ein Bierglas oder ein Tablett entgegengeflogen kommt. In so was wirst du mich doch nicht locken?
Na denn, sagte sie, schritt durch die Tür, sang einen Gruß in den noch leeren Gastraum und steuerte einen Tisch in der hintersten Ecke an, streifte ihren Mantel ab, warf ihn über die Lehne eines Stuhles und fläzte sich auf die Polster der Wandbank.
Dann bestellen wir uns erst mal so einen richtig schweren Rotwein. Oder? Du trinkst doch noch Rotwein?
Sofern er biologisch ist, gab er zurück, winkte aber sofort ab: ein Scherz.
Er hatte ihr gegenüber Platz genommen, sodass er dem Raum den Rücken zukehrte. Die Wand, auf die er schaute, war mit Weinranken bemalt. Ein darüber befindlicher Spruch wurde zum Teil von Katharina verdeckt: Ohne Wein ist da … …en wie ein Witz ohne Pointe.
Pasadegna. Mit einer Neigung zur Seite vergewisserte er sich, das fehlende Stück erraten zu haben: das Leben.
Passt doch, sagte er.
Was passt?
Dreh dich mal um, sagte er.
Sie musste lachen. Jetzt erst fiel ihnen auf, wie sich über der durchgehenden Weinranke ein Band aus verschiedenen Sprüchen durch den ganzen Gastraum zog.
Buenas tardes, kam es kraftvoll aus dem Mund eines untersetzten graulockigen Mannes in ausgebeulten Jeans und braun-speckiger Lederweste über dem karierten Hemd, offenbar der Wirt. Die Herrschaften wollen speisen?
Außer dass wir keine Herrschaften sind, entgegnete Katharina vorlaut, haben Sie recht. Aber erst mal wünschen wir einen vino tinto, por favor! Einen katalanischen. Haben Sie?
Naturlich haben wir, sagte er. Flasche oder Glase?
Botella, una botella, por favor! Und die Speisekarte.
All right, sagte er und ging feixend davon.
Angeberin, knurrte Georg. Willst mir wieder mal zeigen, wie doof die Zonis sind? So viel hätt ich auch noch zusammengekriegt. Und – Georg duckte sich und suchte ihre Augen, die auf die Tischdecke gerichtet waren – warum ausgerechnet einen katalanischen Wein?
Katharina hob den Kopf: Ich dachte, ich tu dir damit einen Gefallen. Du warst doch mal in Barcelona? Noch zu DDR-Zeiten? Oder irre ich mich?
Nein, stimmt. 1980 war das.
Wieso eigentlich? Du warst doch nicht etwa auch bei der Stasi?
Umgekehrt, die Stasi war bei mir, auch in Barcelona, wie ich später meinen Akten entnahm.
Dabei war das doch sicher eine Kirchenkonferenz?
Genau, bestätigte Georg.
Und wer hat auf dich aufgepasst? Einer deiner Kollegen?
1979 in Brüssel war es ein DDR-Kollege, in Barcelona einer von den Westkollegen.
Stimmt das also doch, der Arm der Stasi reichte bis zu uns herüber?
Was glaubst du denn, gab Georg zurück.
Und während sie auf den Wein warteten, plauderte Georg aus seiner Stasiakte und erzählte, wie sich aus vielen rätselhaften Momenten und dubiosen Begegnungen ein infames, aber in sich schlüssiges Geflecht zusammensponn. Selbst die ausgiebige Personenkontrolle an der französisch-spanischen Grenze, wo der Spurbreite wegen der Zug gewechselt werden musste, erwies sich als inszeniert.
Er erzählte von den beiden Vorbereitungstreffen für die Tagung in Barcelona.
Das erste fand in der DDR statt, genauer gesagt in unserer Wohnung. Stell dir vor, ein Portugiese, ein Franzose, eine Engländerin, eine Schwedin, ein Holländer, ein Finne, ein Spanier und ein DDR-Deutscher bereiten eine internationale Konferenz am Küchentisch vor.
In eurer Küche?
Unser Wohnzimmer und mein Arbeitszimmer waren verwanzt.
Wusstest du das?
Wenn du vom städtischen Referenten für Kirchenfragen auf Bemerkungen angesprochen wirst, die in einem Vier-Augen-Gespräch in deinem Arbeitszimmer gefallen sind – und das mit einem vertrauenswürdigen Gesprächspartner – musst du davon ausgehen, dass mehr als vier Ohren mitgehört haben.
Solltest du das mitbekommen, wollte Katharina wissen.
Das wäre zwar eine krasse Variante, meinte Georg, aber auszuschließen ist das nicht.
Vielleicht war es auch bloß Dämlichkeit.
Und jetzt wussten die auch, dass sich all diese Ausländer bei dir befinden?
So kann nur eine Westdeutsche fragen, sagte Georg. Erstens musste jede Einreise offiziell beantragt und genehmigt werden, und zweitens musste man sich polizeilich anmelden. Ich kann mich genau erinnern: Da saß so eine Matrone im Volkspolizeikreisamt hinterm Tresen, die von den Knöpfen ihrer Uniform mühsam zusammengehalten wurde, und fragte: Und wo schlafen Sie alle? Und ich antwortete für die anderen: In unserer Wohnung. Da fiel ihr die Kinnlade runter.
Weil das verboten war, vermutete Katharina.
Nee, das eigentlich nicht. Wahrscheinlich eher, weil sie selber mit Mann und Kind in einer Zweizimmerwohnung wohnte wie die meisten, wo man sieben fremde Personen nie hätte unterbringen können. Wir hatten die große Pfarrwohnung meines Vorgängers geerbt, zu der ein sogenanntes Fremdenzimmer gehörte. Die Männer schliefen auf Luftmatratzen in meinem Arbeitszimmer und im Wohnzimmer, die Frauen hatten ein richtiges Gästebett.
Katharina schaute ihn mit großen Augen an: Und wenn sie das einfach verboten hätten?
Ja, dann wäre alles Weitere wahrscheinlich anders verlaufen. Haben sie aber nicht. Die DDR war ja um internationale Reputation bemüht. Sieben frustrierte Kirchenfunktionäre wären auch sieben Multiplikatoren über die schikanösen Zustände in der DDR gewesen. Sie haben es klüger angestellt, sie haben versucht, uns nicht aus den Augen zu lassen.
Haben die auch noch eure Küche angezapft?
Das glaube ich weniger. Weil aber mein Telefon abgehört wurde, wussten sie, zu wann und in welcher Gaststätte ich Plätze reservieren ließ. In den wenigen Lokalen, die es damals gab, konnte man nicht eben mal so mit sieben oder acht Personen aufkreuzen. Mein Zauberwort hieß international. „Ich brauche einen Tisch für eine internationale Gruppe von acht Teilnehmern.“
Wenn wir dann eintrafen, saßen jedes Mal an einem der Nachbartische zwei Männer, die uns scheinbar keines Blickes würdigten, sich aber zwei Stunden lang schweigend an einem Bier festhielten. Und das in der Hauptspeisezeit.
Er erzählte, wie er seine Gäste auf diese DDR-Besonderheit aufmerksam machte und wie sie, wenn die Ohren am Nachbartisch allzu lang zu werden drohten, ihr Gespräch auf Englisch und Französisch fortsetzten.
Du kannst Französisch?
Nee, sagte Georg, ich tat nur so. In Wahrheit übersetzte mir Syb, der Kollege aus Amsterdam, ein ausgesprochener Polyglotte, alles leise ins Deutsche. Vieles musste er mir auch aus dem Englischen übersetzen.
Georg erhob sich und hängte seine Jacke über die Stuhllehne.
Mir ist heiß.
Und zur zweiten Vorbereitungstagung, lass mich raten, musstest du dann nach Barcelona. Genau, wobei ich weniger musste als durfte. Aber das ist eine lange Geschichte, wenn auch nicht ohne Pikanterie.
Erzähl trotzdem. Ich hör dir gern zu.
Na gut. Das war also im Februar 1980. Meinen Pass und den obligatorischen Geldschein kriegte ich wie üblich erst knapp vor der Ausreise. Alles andere läge in Tegel am Flugschalter in einem Umschlag auf meinen Namen. Das kam mir einigermaßen konspirativ vor, aber so war es. In dem Kuvert fand ich ein Ticket nach Alicante und die Adresse des Treffpunkts in Barcelona, mehr nicht. Und dann wartete ich auf den ersten Flug meines Lebens.
Und? War es schön? Hast du was sehen können?
Nichts. Es war Nacht. Das Flugzeug ging gegen 22 Uhr und muss nach Mitternacht in Alicante angekommen sein. Und es war schrecklich. Erst mal die Frau neben mir. Die hatte meinen blauen Pass gesehen und attackierte mich den ganzen Flug über, ich müsse ja von der Gestapo sein – sie sagte wirklich: Gestapo – oder ein besonders hoher Parteigenosse, wenn ich in meinem Alter schon nach Spanien fliegen dürfe. Ich klärte sie auf, ich reiste dienstlich im Auftrag der Kirche. Das glaubte sie mir nicht. Ja, ja, sagte sie immer wieder, Sie können mir viel erzählen. Das wollte ich aber gar nicht. Ein älterer Herr hinter mir gab mir dann den Rat, einfach nicht mehr hinzuhören.
Als genauso schrecklich empfand ich die Turbulenzen über den Alpen. Ich muss mich so ängstlich immerfort umgeguckt haben, dass mich mein Hintermann zu trösten suchte und erklärte, das sei nicht ungewöhnlich und auch nicht weiter gefährlich. Später stupste er mich an und zeigte nach unten: Was Sie da leuchten sehen, das ist Montpellier.
Du hast mir nie davon erzählt, sagte Katharina.
Das wäre vielleicht noch gekommen, wenn …
Katharina machte eine Handbewegung, als streifte sie sich eine Spinnwebe aus dem Gesicht und fuhr ungerührt fort: Was mich aber wundert, wieso bist du denn nach Alicante geflogen, obwohl ihr in Barcelona getagt habt? Das sind doch vielleicht noch einmal 500 Kilometer. Stimmt. Aber das war eben ein günstiger Charterflug, und die Organisatoren meinten, mit dem Talgo nach Barcelona weiterzureisen, sei billiger.
Und war es das?
Im Gegenteil. Wenn mir meine Tante in Westberlin nicht weitere 100 D-Mark zugesteckt hätte, wäre ich da nie angekommen.
Vino tinto, bitte sehr, die Herrschaften, aus Tarragona, deklamierte der Kellner, und die Karte.
Muchas gracias, zwitscherte Katharina ausgelassen. Und dann?
Willst du wirklich noch mehr davon hören? Lass uns erst mal einen Schluck trinken. O sole mio!
He, das ist kein Trinkspruch, außerdem ist es italienisch.
Woher soll ein Ossi das wissen, provozierte er sie.
Komm, lass uns den Abend friedlich verbringen. Also: Salud!
Na starówje, sagte er.
Und weiter, mahnte sie.
Georg zögerte, er wolle sie nicht einen Abend lang mit seinen alten Geschichten langweilen. Im Stillen aber erwartete er Widerspruch und hoffte so die Klippe, dass sie noch einmal auf ihre Kränkung zu sprechen käme, umschiffen zu können.
Auf deine Verantwortung, sagte Georg.
Er berichtete, wie er mitternachts mutterseelenallein und angstvoll vor dem Flughäfchen von Alicante gestanden habe und nicht gewusst habe wohin, wie er sich mit dem letzten Taxi in ein Hotel habe fahren lassen und für eine schlaflose Nacht ohne Frühstück einen halben Hunderter habe hinlegen müssen.
Dann aber die Zufahrt mit dem Talgo nach Norden.
Ich starrte die ganze Zeit nur aus dem Fenster, wahrscheinlich mit offenem Mund, so wie ein Kind in die Weihnachtskerzen schaut – oder eben wie ein Ossi in die andere, geheimnisvolle, fremde, westliche Welt, schwärmte er. Valencia, Castellón de la Plana, Tortosa, Tarragona – schon der Klang der Ortsnamen versetzte mich in Verzückung.
Manchmal, wenn der Zug an endlosen Apfelsinenhainen vorübergefahren sei, habe es ihn gejuckt, die Notbremse zu ziehen. Hier lagen die Früchte unbeachtet auf dem Boden, für die bei uns vor Weihnachten Menschen stundenlang Schlange standen, um dann doch nur eine für jedes Familienmitglied zu erhalten.
Das Vorbereitungstreffen war nach knapp zwei Tagen zu Ende, der Rückflug aber sollte erst vier Tage später und wieder von Alicante aus erfolgen.
Ich fühlte mich hilflos in dieser fremden, großen Stadt, ein ängstlicher, unerfahrener und keiner Fremdsprache mächtiger Provinztorero. Was halfen mir hier meine acht Jahre Schulrussisch? Mein Latein reichte aus, um Inschriften alter Denkmale zu entziffern, mein Altgriechisch, um Fremdwörter auf ihre Herkunft abzuklopfen, mein Hebräisch, um mich interessant zu machen. Aber einen Spanier oder Katalanen nach dem Weg zu fragen, sah ich mich außerstande, erst recht, dessen Antwort zu verstehen.
Zum Glück habe er noch die Adresse einer Familie in der Tasche gehabt, die ihm ein Freund für den Ernstfall mitgegeben habe und die sich als Joker erwies.
Die Frau stammte aus Wustrow und lebte seit Jahrzehnten mit ihrer spanischen Familie in Barcelona. Die Gastfreundschaft der Fischlandfrau, einer mecklenburgischen Kapitänstochter, konnte er, der kaum mehr Westgeld besaß, mit der willkommenen Gelegenheit für sie vergüten, vier Tage lang ausgiebig mit ihr deutsch zu sprechen. Sie begleitete ihn nach Barceloneta, mit der Seilbahn zum Montjuic und ins Miró-Museum, durch das Gotische Viertel und zur Sagrada Família, zur Casa Milá, durch den Park Güell und zum Tibidabo. Lediglich zum Picasso-Museum musste er sich allein aufmachen und zum Poble Espanyol. Mit nahezu jedem Besuch verband sich eine Episode.
Da hast du ja alles gesehen, was Barcelona zu bieten hat?
Dachte ich damals auch. Als ich die Stadt 1998 wiedersah, habe ich angefangen, sie zu entdecken.
Wie gesagt: angefangen.
Georg bemerkte nicht, wie sich sein Weinglas wie von selber leerte und füllte. Katharina rief den Ober herbei, der schon mehrfach um ihren Tisch geschlichen war und auf eine Bestellung wartete.
Jetzt wollen wir endlich etwas essen, sagte sie mit bestimmtem Ton, und trinken auch.
Vor allem Wasser, ergänzte Georg.
Sie bestellte für beide eine bunte Tapaspalette sowie Wein und Wasser.
Georg mochte nicht mehr erzählen und ging das Risiko eines ungewissen Gesprächsausgangs ein: Ich glaube, ich habe ausreichend katalanischen Background geliefert. Jetzt bist du dran. Katharina griff zu ihrem Weinglas, nippte und schaute ihm in die Augen.
Womit?
Mit erzählen, natürlich.
Was habe ich deinen Ossiabenteuern schon entgegenzusetzen?
Erzähl mir doch mal, wie du als Mädchen und später als Studentin warst.
Ich, fragte sie unsicher. Willst du das wirklich wissen? Wie stellst du dir mich in meiner Jugend denn vor?
Geschickt, wie du mir den Ball wieder zuspielst, bemerkte Georg, eigentlich warst du doch dran. Also gut: Ich sehe ein lang aufgeschossenes Mädchen mit zwei dicken dunkelbraunen Zöpfen, dünnen, staksigen Beinen und ironischen Mundwinkeln, das gerade phhh! sagt.
Alter?
Ich behaupte einmal: zwölf, dreizehn, maximal vierzehn.
Nicht schlecht, stellte Katharina fest. Mit zwölf etwa war ich eine Vogelscheuche, für meine Begriffe völlig unproportioniert in die Höhe gewachsen, wusste nie wohin mit meinen Armen, fand Zöpfe blöd, was anderes aber konnte man mit meinen strähnigen Haaren nicht machen, abschneiden durfte ich sie nicht, und ich hasste mich. Dazu kam, dass ich mich wahrscheinlich ziemlich altklug verhielt. Ich wusste allerhand, weil ich viel las, verstand aber oft die Zusammenhänge nicht. Und da ich mein Teilwissen gern anbringen wollte, um mir Anerkennung zu verdienen, wurde ich mal verständnisvoll, mal brüsk abgebügelt, sodass ich mir mit der Zeit eine ironische Grimasse zulegte, die den anderen das Gefühl von Unterlegenheit geben sollte.
Dieser Charakterzug ist dir erhalten geblieben.
Sie überhörte die Bemerkung und fuhr fort: Ich hatte ja keine Geschwister, war zu Hause also immer nur mit Erwachsenen zusammen, meinen Eltern, meinem Großvater und einer anstrengenden, aber hochgebildeten Tante.
Ich vermute mal, bei euch wurde dauernd über Literatur gesprochen, warf Georg ein.
Literatur, Politik, Geschichte, aber auch Kunst. Mein Vater war ja ein Expressionismus-Narr.
Schade, dass du den mir vorenthalten hast.
Hab ich nicht. Meine Eltern waren bloß nicht mehr vorzeigbar, als ich dich kennenlernte.
Worüber hättest du denn mit ihm reden wollen? Über mich doch nicht etwa.
Um Gottes willen! Aber über Expressionismus vielleicht?
Katharina lächelte ihn an und zitierte: Der alte Weise sagte leise: Und wieder schließen sich die Kreise.
Von dir, wollte Georg wissen.
Von meiner Tante. Mit solchen Sprüchen bin ich aufgewachsen.
Nett. Da waren die Sprüche meiner Tante Lissy von ganz anderer Art. Aber ich will nicht ablenken. Du wolltest mir gerade erzählen, wer und wie du damals warst.
Tapas, die Herrschaften, verkündete eine jugendliche Stimme. Ein schmalschultriger blonder Knabe mit badischem Tonfall stellte eine Platte mit vielleicht zehn kleinen Näpfen auf den Tisch und erklärte deren Bestandteile.
Auch wenn wir keine Herrschaften sind, wiederholte Katharina, trotzdem vielen Dank. Und der Wein?
Wasser und Wein kommen gleich, sagte er im Abgehen.
Georg füllte sich auf. Das war mit zwölf, sagte er.
Was war mit zwölf?
Deine Vogelscheuchenzeit, antwortete Georg. Ich kenne so etwas Ähnliches, nur bei mir kam es mit vierzehn, schlaksig, picklig und unbeholfen. Ich habe mich gehasst. Und wie ging das mit dir weiter?
Mit vierzehn, fünfzehn kam ich gerade wieder zu mir, erinnerte sich Katharina, während sie mit den Fingern in eines der Näpfchen griff, sich eine Olive herauspickte, dann eine mit Käse gefüllte Paprikaspitze und beide genüsslich verspeiste, irgendwie war ich runder geworden, proportionierter, mein Gesicht voller, und die Jungen pfiffen mir hinterher. Und kaum hatte ich eine erste gute Freundin gewonnen, hatte ich auch schon einen Freund, drei Klassen über mir, was das Alter angeht, aber mehrere Klassen unter mir, was das Niveau betraf. So meinte ich jedenfalls. Der wollte, glaube ich, nur Sex. Ich wollte einen Diskussionspartner. Gott, was hat der sich für Mühe gegeben, mit mir gleichzuziehen, bloß um mich ins Bett zu kriegen! Der arme Kerl musste erst Hesse lesen, dann Böll und Andres. Eine ziemlich frivole Rothaarige aus meiner Parallelklasse hat mich dann von ihm erlöst. Oder umgekehrt, ihn von dir? Georg griente.
Katharinas Augen färbten sich grün: Ha, ha, ha!
Georg lachte auf: Und dann?
Dann hatte ich von Männern erst mal genug, falls das überhaupt ein Mann war. Ich glaube, so richtig habe ich mich erst mit sechzehn wieder für Männer interessiert.
Sie erzählte von ihren kleinen Liebschaften und dem Eklat, den nahezu jede Errungenschaft bei ihren Eltern auslöste. Der eine hatte zu kurze Beine und wurde vom ersten Tag an Fußballer genannt, was so viel wie ungebildet hieß. Ein anderer war zwar redegewandt und gut erzogen, aber er knabberte an den Fingernägeln.
Seinen, wollte Georg wissen.
Wessen denn sonst, du Kamel, gab sie zurück. Meine waren zum Knabbern nicht geeignet, weil ich mit sechzehn knallroten Lack auftrug. Auch sonst schien er mir nicht der zu sein, der an mir knabbern mochte, weshalb unsere Beziehung nur von kurzer Dauer war.
Jetzt langte sie ordentlich in die Tapasschälchen und erzählte kauend weiter.
Einen gab es, der ihr den Hof machte, ein richtiger Kavalier, der bei ihren Eltern vorsprach und sich für eine vorzügliche Behandlung der Tochter verbürgte, der ein gutes Abi abgelegt hatte und gerade seinen Zivildienst leistete und zwei Onkels vorzuweisen hatte, die Professoren waren. Mit ihm ging sie wirklich ins Bett. Dabei entpuppte er sich als brutaler Macho, dem keine Form der Erniedrigung fremd schien. Ein Sprung aus dem Fenster rettete sie. Nicht auszudenken, was ihr geblüht hätte, hätte sich sein Zimmer nicht im Erdgeschoss befunden.
Du warst ein schönes Weib geworden, vermutete Georg.
Soweit ich dem Spiegel und den Worten meiner Verehrer trauen durfte, ja.
Dann hast du dein Abi gemacht, sicher mit Bestnote, und dann war es auch schon 68.
Bestnote nicht, 68 ja. Ich fing in Freiburg an und wechselte nach Paris. Hier geriet ich mitten hinein ins Studentenprotestmilieu. Ich glaube, wir waren mehr auf der Straße als in der Uni. Und wenn wir uns in der Uni aufhielten, dann weniger um zu studieren als um zu diskutieren, Professoren zu verprügeln und Aktionen zu planen.
Wenn ich dich heute so anschaue, frage ich mich, was davon geblieben sein mag, sagte Georg. Mein ausgezeichnetes Französisch, würde ich sagen, von dem du Ignorant behauptest, es klinge chinesisch.
Und Erinnerungen?
Und Erinnerungen jeglicher Art, die ich jetzt aber nicht alle ausbreiten will. Erzähl mir lieber mal von deiner komischen Tante.
Georg runzelte die Stirn. Das klingt mir jetzt aber sehr nach einem Ablenkungsmanöver. Aber gut, wenn du willst. Meine Tante Lissy, deklamierte Georg und ließ eine bedeutungsvolle Pause folgen, die er nutzte, sich aus den Schälchen wieder aufzufüllen – diese meine Tante also, die bewusste, die nicht so kluge Sprüche wie die deine von sich gab, war eigentlich gar nicht meine Tante. Wir sagten zwar Tante Lissy zu ihr, aber wir waren nicht verwandt.
Dann schilderte Georg, wie sie in den Nachkriegswirren als kinderlose Witwe eines gefallenen Feuerwehrmannes und Ziehharmonikaspielers (sie nannte das Instrument Ackordjong) bei ihnen aufgekreuzt und auf Jahre hängen geblieben sei. Und später, sie wohnte inzwischen in Wurzen, sei sie immer dann zu Besuch gekommen, wenn es nicht so richtig gepasst habe. Heiligabend sei sie natürlich eingeplant gewesen. Aber zum 65. Geburtstag seines Vaters zum Beispiel, als fünfundzwanzig geladene Gäste um den dreifach ausziehbaren Tisch in der kalten Pracht, dem zweimal im Jahr genutzten Esszimmer mit Blick auf den Garten, saßen, habe sie plötzlich in der Tür gestanden mit einem Monstrum von Gummibaum im Arm und behauptet, ihn selbst gezüchtigt zu haben.
Die Gäste hätten sich nur mit Mühe das Lachen verkneifen können ob dieses komischen Auftritts, zumal Tante Lissys Kleiderordnung einen ungewöhnlichen Geschmack offenbart habe. Sein Vater jedenfalls, als er sie so vor sich habe stehen sehen, Glaubenszwiebel, Brokatbluse, kniefreier Plisseerock und Pumps, habe geahnt, was in den nächsten Stunden auf ihn zukommen werde.
Sie setzte sich mit an die Tafel, ließ sich Teller, Besteck und Weinglas bringen, langte ordentlich zu und kommentierte das laufende Tischgespräch auf ihre Art, und das war eine besondere. Georg und seine Schwester, die bei diesem mehr offiziellen Akt ausgeblendet waren, lauschten an der Tür und amüsierten sich, wie Tante Lissy Geduld und Höflichkeit der Geburtstagsrunde auf die Probe stellte. Wenn sie etwas bemerken zu müssen glaubte, schaute sie keinen an, sondern sprach, ohne sich beim Essen stören zu lassen, vor sich hin, aber so laut, dass es jeder hören musste. Ja, ja, sagte sie, als die Rede auf die Kinder kam, der Georg sei doch auch so ein Hanswurst in allen Gassen, seine Eltern sollten aufpassen, dass sie nicht eines Tages vor vollendeter Tür stünden. Es hieße ja schon immer: Frühen Vogel fängt der Wurm. Und als man auf den Krieg zu sprechen kam, behauptete sie, selber noch Stalinorgien gesehen zu haben. Dann wieder fasste sie das allgemeine Klagen über die Zustände in der DDR zusammen, indem sie laut aufstöhnte und sagte: Der Hitler war’s, dieser Krautjunker, dem verdanken wir dieses ganze Dilemmata, dass heute wieder die Kommunisten die erste Geige schwingen.
Manchmal stand Tante Lissy, die wir unter uns Tante Peinlich nannten, gerade dann vor der Tür, wenn die Familie verreisen wollte. Einmal sah sie sein Vater um die Ecke kommen, als das Auto bereits anfuhr. Er tat, als sähe er sie nicht und die Kinder erhielten Weisung, auf die andere Straßenseite zu gucken. Sie hat unsere Telefonnummer, meinte er, sie soll sich gefälligst anmelden. Sie dagegen behauptete, in Wurzen gäbe es nur eine Telefonzelle, und da sei meist der Hörer abgeschnitten. Telefonzellulose, nannte sein Vater diese Ausrede.
Geliebt zu haben, scheinst du diese Tante nicht, resümierte Katharina.
Wie sollte ich auch, gab Georg zurück, bis ich in die Schule kam, nannte sie mich Hansbübchen, dann hieß ich Hanswurst oder Hanselmann bis, ja, bis ich einmal geplatzt bin und sie angeschrien habe, sie solle mich gefälligst Georg nennen, sonst würde ich sie künftig Tante Pissy oder Tante Schissy nennen.
Sie wurde bleich und sprach ein halbes Jahr nicht mehr mit mir. Aber – was ich ihr hoch anrechnen muss – sie hat diese bösartige Attacke meinen Eltern verschwiegen. Mein Vater hätte mich grün und blau geprügelt.
Und?
Seitdem nennt sie mich Schorsch.
Die würde ich gern mal kennenlernen, sagte Katharina. Mich würde interessieren, ob deine Tante wirklich so naiv ist. Vielleicht hat sie mit euch nur ein Spiel getrieben, indem sie euerm bildungsbürgerlichen Zirkel, von dem sie sich ausgeschlossen fühlte, spiegelbildartig seine intellektuelle Überlegenheit vor Augen führen wollte.
Georg schaute sie halb spöttisch und halb bewundernd an: Jedes Mal wenn dich dein journalistisches Recherchefieber packt, bedaure ich, dass du deine scharfsinnigen Verdächte nicht der taz, FAZ oder NOZ zur Verfügung stellst. Im Falle meiner Tante allerdings dürfte sich das öffentliche Interesse in Grenzen halten. Wir haben die Frage intern zu klären versucht und sind zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen. Mein Vater traute ihr so viel Pfiffigkeit nicht zu. Meine Mutter dagegen behauptete, sie habe beobachtet, wie Tante Lissy die Wirkung ihrer sprachlichen Entgleisungen genieße.
Und du?
Ich folge da eher meiner Mutter. Wahrscheinlich hat Lissy aus der Not häufigen Missverstehens die Tugend der Freude am Absurden entwickelt, der sie am Ende selber zum Opfer fällt.
Georg suchte die Toilette auf. Als er zurückkehrte, stand auf seinem Platz ein gewaltiger Eisbecher mit Erdbeeren und Schlagsahne.
Wie kommt so etwas hierher, fragte er misstrauisch.
Hab ich bestellt, flüsterte mit einem Augenzwinkern Katharina.
Dachte ich mir, gab er zurück. Ich meine die Erdbeeren. Wir haben Oktober.
Ich weiß, ich weiß, gab sie kleinlaut zu. Manchmal muss auch so eine Bio-Frieda wie ich eine Ausnahme machen. Lass dir’s schmecken, ohne schlechtes Gewissen.
Nur wenn du dich beteiligst, erwiderte Georg, mir ist das einfach zu viel.
Du alter Pfaffe weißt doch, seit Eva und Adam heißt es: Geteilte Freude ist am Ende doppeltes Leid.
Georg zuckte zusammen. War das jetzt der Auftakt zu dem, was er unter allen Umständen vermeiden wollte? Aber er hatte sich schnell wieder im Griff und bemerkte nur: Wenn das nicht so tiefsinnig wäre, könnte es auch von meiner Tante stammen. Du und meine Tante, was für ein Synergieeffekt! Oder, wie sie wahrscheinlich sagen würde, was für ein Synergieinfekt. Oder Synergieinfarkt, steuerte Katharina bei.
Oder Energiekonfekt? Georg winkte ab.
Es mochte schon nach elf sein, als Katharina auf das Ausgangsthema zurückkam: Du hast erzählt, dass du über den politischen Witz in der DDR gearbeitet hast?
Georg nickte.
Stimmt es, dass bei euch Leute für politische Witze in den Knast gekommen sind?
Ich kenne Beispiele, bestätigte Georg.
Wahnsinn! Was haben wir doch hier mit den Oberen unseren Spott getrieben, erst mit Lübke, dann mit Kohl.
Du denkst an den Witz, dass Lübke in Afrika seine Rede begonnen haben soll mit: Meine Damen und Herren, liebe Neger?
Das ist leider kein Witz, das hat er wirklich gesagt, beteuerte Katharina.
Glaub ich nicht, sagte Georg, war der nicht Bauingenieur oder Architekt oder so was? So doof kann doch kein Mensch sein.
Leider ja, entgegnete Katharina. Aber bei uns wäre keiner in den Knast gekommen, weil er das weitererzählt.
Bei uns wäre auch keiner in den Knast gekommen, wenn er das weitererzählt, lachte Georg. Nur wenn er statt Lübke Stalin, Ulbricht oder Honecker gesagt hätte. Ich weiß von einem, der zur Silberhochzeit seines Freundes eine Rede mit kleinen politischen Spitzen gehalten hat, über Pieck und Grotewohl. Einer aus dem Freundeskreis hat ihn verpfiffen. Zwei Jahre Zuchthaus.
Unglaublich, empörte sich Katharina und griff kopfschüttelnd zu ihrem Glas.
Das Schlimme, sagte Georg, das eigentlich Schlimme war, kein Mensch wusste, was gerade noch erlaubt war und was nicht. Es gab ja kein Gesetz, das politische Witze verbot. Und was wäre im Ernstfall ein politischer Witz? Ein Witz, der die Autorität Ulbrichts oder Honeckers in Zweifel zieht? Das bestimmt. Aber Polizistenwitze, Witze zur allgemeinen Wirtschaftslage oder Parallylismen?
Parallylismen? Sagt mir nichts.
So nenne ich witzige Vergleiche, mit denen ein Vergleichsteil paralysiert werden soll. Beispiel?
Was ist der Unterschied zwischen Spanien und der DDR? Über Spanien lacht die Sonne, über die DDR die ganze Welt.
Raffiniert, lachte Katharina. Man mag nicht glauben, was eine kleine Kasusverschiebung so bewirkt!
Und, was meinst du, ein politischer Witz?
Ich würde sagen: ja. Ich denke, in einer Diktatur ist es ziemlich egal, was du kritisierst, die Machthaber fühlen sich immer angegriffen.
So etwa, bestätigte Georg. Und da Diktatoren meist angstbesetzte und humorlose Menschen sind, ist Lachen als solches schon subversiv.
Aber es gab doch Kabarett bei euch, widersprach Katharina.
Das schon, aber Kabarett von Gnaden der SED. Die Programme der Profi-Kabaretts mussten eingereicht und die Aufführungen vom zuständigen Kulturfunktionär abgenommen werden. Es kam zwar vor, dass manches später wieder in das Programm hineingemogelt wurde, was man bei der Premiere hatte streichen müssen. Aber in der Regel lachten die Genossen, wenn sie ins Kabarett gingen, über das, was sie zuvor zum Lachen freigegeben hatten. Pervers, was?