Kitabı oku: «Der Staubwedel muss mit», sayfa 2

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Herr Hartmann

Ins Gedächtnistraining geht er nicht. Er sagt: Ich bin so nachtragend. Besser wäre eine Methode, die gezieltes Vergessen möglich macht.

Frau Heri

Um die Kanarienvögel in der Cafeteria kümmert sich kaum einer. Natürlich: Der Käfig wird geputzt, die Vögel werden gefüttert, machen keineswegs einen verwahrlos­ten Eindruck. Doch selten bleibt jemand vor ihrem Käfig stehen, wendet sich ihnen zu, spricht mit ihnen. Nur Frau Heri sitzt den ganzen Tag im Rollstuhl neben dem Käfig, träumt davon, ein Vogel zu sein. Kein Kanarienvogel, um Himmels willen, nein! Vielleicht ein Spatz. Oder noch viel lieber einer dieser Distelfinken, die nie allein, sondern immer paarweise im Innenhof auftauchen, leicht wie Schmetterlinge durch die Luft fliegen, sich an Gräser und Blütenstengel krallen und genau zu ahnen scheinen, wie hoch sie hinaufsteigen dürfen, damit die Gräser und Stengel beim Samenpicken nicht einknicken.

Herr Wechsler

Der Wille allein hilft nicht. Die Krankheit hält ihn fest im Griff, drückt ihn nieder, zwingt ihn, sich wieder ­hinzulegen. Aus Erschöpfung zieht er sich in sich selbst zurück, in seine Erinnerungen. Während er auf dem Bett liegt, geht er durch Wände. Er spaziert durch sein Leben wie durch eine Landschaft, besucht Wohnorte und Ar­beitsplätze, begegnet Menschen. Manchmal ist die Sicht schlecht, nebulös; was einst vertraut war, zeigt sich nur schemenhaft. Und dann gibt es diejenigen Momente, wo auf einen Schlag alles hell erleuchtet erscheint, weil eine Einzelheit zur Leuchtkugel wird. Beispielsweise der kleine weisse Sarg, von seinem Vater am Martinstag auf der Schulter durch die Hintergasse des Dorfes getragen, darin das ungetaufte Kind, seine Schwester.

Herr von Wartburg

Ja, dort auf dem Foto, die Frau mit Hut, das ist sie. Nie wäre meine Mutter in ein Altersheim gegangen, nie! Sie war so stolz und schön und immer stilvoll gekleidet; sie hatte sich selbst und alle anderen im Griff. Ach, meine Mutter, wenn die mich in meiner Aufmachung sähe! Sie wollte immer, dass aus mir mal was wird. Ob Bankdirektor, Bäcker oder Bauarbeiter, das spielte eine Rolle, aber nicht eine derart entscheidende. Die Hauptsache war, wo und in welchem Beruf auch immer, anständig, tüchtig und vor allem: flott zu sein. Anständig, tüchtig und flott, das war man nicht dauerhaft; man musste es immer wieder von neuem werden. Es war Arbeit: die schmutzige Hose gegen eine saubere austauschen. Die abgestossenen Schuhe eincremen und polieren. Die widerspenstigen Haare kämmen. Nicht mit vollem und auch nicht mit halbvollem Mund reden. Langsam essen; das Messer gehört in die rechte, die Gabel in die linke Hand, langsam trinken. Jedermann laut und deutlich grüssen. Das Geld ins Sparschwein stecken und nicht am Kiosk verputzen. Nicht rauchen, nicht trinken. Jeden Tag dafür beten, dass man mal eine hübsche Frau, eine hübsche Wohnung finden würde. Man konnte nie genug früh damit anfangen, sich ins Anständig-, ins Tüchtig- und Flottsein einzuüben.

Was für ein flottes Hemd du hast! Was für ein flotter Bub du bist, ach mein Mäuschen Maximilian! Aus dir wird mal ein flotter Oberministrant!, sagte sie am Sonntag zu mir, bevor ich in die Kirche zum Ministrantendienst ging. Flott, wie ich dieses Wort hasste. Das Wort «flott» flutschte angepasst und widerstandslos durchs Leben. Es hatte keine Ecken, keine Kanten. Es kam darin kein knirschendes K, kein bremsendes R, kein verlangsamendes H vor. Flott. Ogottogott! Ich wollte nicht an­ständig, ich wollte nicht tüchtig, ich wollte, verdammt noch mal, nicht flott sein.

Noch heute höre ich Mutter, wenn mein Blick an meinem Spiegelbild hängen bleibt, zu mir sagen: Nein, Maximilian, das geht nicht, das macht mir Sorgen. Wie läufst du herum! Schämst du dich nicht? Dein Hemd, es hat Flecken. Deine Hose, abgewetzt und ausgewaschen. Und deine Schuhe, das sind keine Schuhe, das sind Latschen! Geh in die Stadt zum Schild und kauf dir was Flottes!

Frau Deiss

Ein Bett, ein Bad und drei Mahlzeiten – das ist schon alles, alles, was man braucht zum Leben, wer mehr braucht, leistet sich Luxus, sagt sie. Und sie braucht mehr: einen Bleistift, Papier, die Bibel. Auch einen Stuhl und einen kleinen Tisch. Morgens liest sie, schaut aus dem Fenster; nachmittags schreibt sie, schaut aus dem Fenster. Ihre Hände sind gekrümmt, ihre Füsse auch. Sie sitzt im Rollstuhl, gehen kann sie nur mit Mühe. Gicht, sagt sie. Den Bleistift schiebt sie in eine Lücke zwischen den hakenförmigen, geröteten Fingern. Sie hält ihn mit sanftem Druck. Die Schmerzen wären sonst unerträglich. Beim Schreiben wackelt der Bleistift. Im Geheimen, durch die Hand verdeckt, entstehen die Buchstaben. Zum Vorschein kommen grosse, zitterige Wesen, jedes ein Kunstwerk. Vor dem Nachtessen faltet sie das Blatt. Es ist auf beiden Seiten beschriftet, und es vibriert vor Lebendigkeit. Umständlich schiebt sie das Blatt in ein Couvert. Ein Brief pro Tag, sagt sie. Meine Freundinnen sollen wissen: Ich lebe.

Herr Schwery

Nachts schlafe ich schlecht, tagsüber kratzt es mich un­unterbrochen im Hals. Und wenn ich durch den Gang zum Fernsehzimmer gehe, spüre ich ein Stechen in der Brust. Wehleidig war ich nie. Aber genug ist genug, sage ich, du bist krank, du gehörst zum Arzt. Zum besten in der Stadt, nicht da zu diesem Etagenheini. Ich bekom­­me einen Termin, fahre zuversichtlich mit dem Taxi hin. So, sagt der Arzt, was führt Sie zu mir? Und ich sage genau, wie es um mich steht, verheimliche nicht mal mein Pfeifenrauchen, lasse alle Doktorspiele über mich ergehen. Dann verschwindet der Arzt, ich hoffe schon; und nach ein paar Minuten kommt er zurück: mit leeren Händen! Herr Schwery, freuen Sie sich, ruft er, Ihnen fehlt nichts; es sieht alles so weit gut aus. Machen Sie weiter so! Trinken Sie viel Wasser, auch wenn Sie keinen Durst verspüren; essen Sie abends nicht zu viel und nicht zu fettig, legen Sie sich nicht allzu früh ins Bett und lutschen Sie bei Bedarf ein Kräuterbonbon. Mit offenem Mund, eine fürchterliche Enge im Hals, starre ich ihn an: Ohne ein Medikament, ohne ein einziges, schickt dieser arrogante Kittelköter mich nach Hause. Ein Depp, ein Vollidiot. Wenn ich zum Arzt gehe, gehe ich zum Arzt, weil ich krank bin, ein Medikament brauche. Jetzt schlafe ich noch schlechter. Was immerhin beweist: Ich bin wirklich krank!

Frau Moser

Es brennt in ihr. Zum Ausgehen parat, mit roten Lippen und mit Handtasche, sitzt sie im Fauteuil. Die Finger, gepflegt bis in die Nagelspitzen, nesteln an den Knöpfen des Mantels, an der Gürtelschnalle, befühlen den Rocksaum, gleiten über die Beine, legen sich auf ihre Wangen; Frau Moser tätschelt sich selbst. Und erst dann, wenn die Finger an den geschminkten Lippen zu drücken und zu zupfen beginnen, steht Frau Moser auf, zieht sich vor dem Spiegel die Lippen nach, verlässt das Heim und macht sich über Süssigkeiten her. In der nahen Confiserie ist sie Stammgast. Sie setzt sich ans Fenster mit Blick auf die Passanten und versucht durch die Einnahme von Pralinés, Cremeschnitten, Mousse au Chocolat, Zwetschgenkuchen, Hefeschnecken, Marzipanzungen, Zitronenkuchen, Carameltörtchen oder Caracs die immer wieder aufstossende Sehnsucht hinunterzuschlucken. Doch alles, was ihr am Ende eines Tages, auf dem Rückweg zum Heim, davon bleibt, ist: Magenbrennen.

Frau Frigerio

Soll ich Ihnen den Brief vorlesen? Vor zwei Wochen ist er eingetroffen, aus den USA, aus Boston, von meinem Sohn. Ich nehme ihn jeden Tag unzählige Male zur Hand, trage ihn mit mir herum. Also, hören Sie:

Liebe Mutter

Ich habe Deine Adresse von meiner Halbschwester bekommen. Und von ihr habe ich auch gehört, dass Du sehr oft weinst. Du meinst, ich hätte Dich völlig vergessen. Nein, das stimmt nicht. Ich möchte Dich nach all den Jahren endlich wieder einmal besuchen. Dich nicht länger missachten, verachten, nur weil Du Papa damals verlassen hast. Ich möchte lange und entspannt mit Dir an einem Tisch sitzen. Dir keine Vorwürfe mehr machen, Dich nicht anschreien, nicht anschweigen. Ich möchte mit Dir ins Plaudern kommen. Ja, plaudern! Weil es nicht darum geht, gescheites Zeug zu reden, zu diskutieren, über Vergangenes zu streiten, sondern nur darum, im Gespräch miteinander verbunden zu sein: aufgehoben im Klang der Muttersprache. Ich habe sie verlernt, Deine Sprache. Wie klingt sie? Ich möchte Deine Stimme hö­­ren, mit Dir sein. An Vorsätzen mangelt es mir nicht, hat es mir noch nie gemangelt. Doch nun ist es höchste Zeit, das «Vor» zu streichen und aus den Vorsätzen einfach Sätze zu machen. Kleine, bescheidene Sätze. Ein Satz schliesst sich an den anderen an – und es gibt ein Weiterkommen, einen Weg. Schritt für Schritt, Satz für Satz. Keine Vorsätze mehr, nur noch Sätze. Das wär’s! Das würde schon reichen. Mutter, ich werde Dich be­suchen, ich werde kommen, nur Deinetwegen, ganz bestimmt.

Sei lieb umarmt.

Dein Luigi

Frau Schwarz

Er klopft, wartet – das war doch Mutters Stimme? Er öffnet die Tür, tritt ins Zimmer, will schon Hallo rufen; aber seine Stimme erstickt: Mutter kniet vor der mit Marienstatuen und Heiligenfiguren, mit Rosenkränzen, Weihwasserfläschchen und Totenbildchen überstellten Nussbaumkommode. Den Kopf in den Nacken gelegt, hält sie den hölzernen Längsbalken eines Kruzifixes umklammert, lässt das Kruzifix wie ein Spielflugzeug über ihren Augen schweben. Sie schaut den Gekreuzigten, dessen Metallkörper an mehreren Stellen schwärzlich verfärbt ist, beschwörend an, drückt dreimal seine Brust auf ihre Lippen und ruft ihm zu: Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, lass meinen Sohn zu mir kommen, ich bitte dich! Die Lederpantoffeln hat sie ausgezogen, sie stehen exakt nebeneinander. Die unter dem Rock hervorlugenden Beine stecken in Nylonstrümpfen, laufmaschenfrei. Er schaut ihr ungläubig zu, weder in der Lage, einen Schritt nach vorne, noch, einen Schritt zu­rück zu machen.

Herr Hauser

Er hofft auf ihren Besuch. Und damit die schwarze Heimkatze jederzeit in sein Zimmer schleichen kann, lässt er nach dem Frühstück die Tür einen Spalt offen. Seitwärts legt er sich auf dem Sofa auf die Lauer, summt eine Lockmelodie. Mehr kann er im Moment nicht tun. – Und wenn dann die Katze majestätisch, mit glänzendem Fell und schwungvoll nach oben gerichteter Schwanzspitze, auf einmal erscheint, verneigt er sich vor seiner Königin, geht zum Schrank mit dem Gourmetkatzenfutter, auf dass sie auch morgen wieder den Weg ins richtige Zimmer finden wird.

Frau Gross

Ich liess meine beiden Söhne machen, was sie wollten. Der eine war ein Draufgänger, ging in die Pfadi, trieb sich nach der Schule im Quartier herum, ass nur Teigwaren und kein Gemüse; der andere schwieg den ganzen Tag, schloss sich in seinem Zimmer ein, nahm alte Radio­apparate auseinander und baute mit seinen Stokys riesige Lastwagen zusammen; oft wollte er nicht mal zum Essen kommen, weil er so sehr in seine Basteleien ver­sun­ken war. Nun, das ist halt so. Und heute fährt der eine ein teures Auto, der andere fährt mit dem Rad um die Welt. Weshalb sollte man, was verschieden ist, gleichmachen? Meine eigene Mutter aber sorgte mit Sprichwörtern dafür, dass ich nicht ausscherte, schön in der Mitte blieb: In jeder erdenklichen Situation kam ihr augenblicklich ein passendes in den Sinn, sie zog es aus der Schürzentasche und warf es mir an den Kopf.

Zitierte Mutter ein Sprichwort, so nahm sie eine aufgeplusterte, drohende Haltung ein. Nicht nur wechselte sie den Tonfall ihrer Stimme, sie wechselte auch die Sprache. Anstatt des nagelfluhartigen, etwas grobkörnigen, an manchen Stellen auch sandsteinweichen Luzerner-Hinterländer-Dialekts sprach sie nun ein spitzes, messerscharfes Hochdeutsch. Sagte ich am Frühstückstisch: Ich mag dieses Brot nicht, es ist trocken und hart, so sagte sie sofort: Hartes Brot ist nicht hart, aber kein Brot, das ist hart! Sagte ich, wenn sie mit mir schimpfte: Du gehst mir so was von auf die Nerven!, so sagte sie: Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst! Sagte ich: Nein, ich habe keine Lust, bei Regen an der Wallfahrt teilzunehmen!, so sagte sie: Was dich nicht umbringt, macht dich stärker! Sagte ich: Den Hasenstall putze ich morgen, so sagte sie: Morgen, morgen, nur nicht heute, sagen alle faulen Leute! Sagte ich: Vater hat mich geschlagen!, so sagte sie: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein! Sagte ich: Du musst gar nicht meinen, ich habe es schon gehört, wie du Vater erzählt hast, dass ich heute Nachmittag nach der Schule zu spät nach Hause gekommen bin, so sagte sie: Der Horcher an der Wand hört seine eigene Schand! Sagte ich: Nein, ich habe jetzt keine Zeit, den Tisch zu decken!, so sagte sie: Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen! So ging das, den ganzen Tag. Schlag auf Schlag. Warf ich ein Kie­sel­­­steinchen, um auf meine Situation aufmerksam zu machen, warf sie augenblicklich einen Pflasterstein mit eingemeisseltem Spruch zurück.

Frau Greutmann

Seit drei Jahren lebt Frau Greutmann im Himmel, ihr Himmel trägt die Nummer 705, ist zwanzig Quadratmeter gross und ganz in Weiss gehalten. Die weissen Vorhänge sind beiseite geschoben, damit das Licht un­­gehin­dert ins Zimmer fliessen kann. Licht, sagt Frau Greutmann, endlich Licht, bloss keine Dunkelheit mehr. Über die endlosen Jahre in der Hölle spricht Frau Greutmann mit kalter, undeutlicher Stimme und in knappen Sätzen. Die Hölle, das war eine trübe Souterrainwohnung an einer vielbefahrenen Strasse in der Stadt Zürich und ein Ehemann, Kettenraucher, der auch nach der Pensionierung nichts von ihr wissen wollte. Nach seinem Tod zog Frau Greutmann aus der Hölle aus und fand im Altersheim den Himmel. Selbst an wolken­reichen Tagen leuchtet und glänzt ihr Zimmer. Jeder Lichtstrahl lässt das viele Weiss aufleuchten: weiss der Rahmen des Wandspiegels, weiss der Kleiderschrank und weiss der Tisch mit den Chromstahlbeinen; weiss der Bettrahmen und weiss die Bettwäsche, weiss das Ledersofa auf goldgelben Füssen und weiss wie Schnee der flauschige Teppich vor der Zimmertür. Einzig an den weissen Wänden hängt ein wenig Grün: ein grosses Öl­bild mit einem weissen Rosenbouquet ohne Dornen.

Enzo

Das, was die Welt in Gang hält, sagt Enzo, lässt sich ganz einfach zusammenfassen. Nämlich so: Frauen geben Milch. Männer geben Gas. Ohne Treibstoff stün­­de das Leben still. Und ich hol mir jetzt noch einen Zweier ­Merlot.

Emilie

Wenn Emilie warten muss, betet sie. Und also betet sie von morgens bis abends. Gekrümmt sitzt sie in ihrem Sessel, die Rückenlehne ragt weit über ihren Kopf hinaus, und die Polsterung ist so wuchtig und aufgebläht, dass die kleine Emilie zu einer Spielzeugpuppe wird: von der Hand einer Pflegerin frühmorgens aus dem Bett genommen und behutsam auf den Sessel platziert. Drei Kissen stützen den schmalen Rücken, wie ein weiter Rock verhüllt die Wolldecke ihre dünnen Beine; unter der Decke verbergen sich die zum Gebet gefalteten Hände. Emilie macht sich klein, neigt den Kopf nach vorn, beinahe berührt die Stirn die Wolldecke. So verharrt sie ganze Vormittage, als ob sie in sich selbst hinein­schlüpfen wollte. Ihre violetten Lippen lispeln Gebete, und ihre Gedanken gehen weit weg: zu den Lebenden und zu den Toten.

Frau Brösel

Bevor Frau Brösel ins Weltall fliegen wird, macht sie Ferien im Altersheim und besucht nochmals in aller Ruhe diejenigen Destinationen, von denen sie Sou­venirs mit nach Hause gebracht hat. Auf dem letzten freien Fleck, in der Mitte ihres Zimmers, steht ein Hocker, dessen Beine mit geschnitzten Schlangen verziert sind; und auf diesem Hocker, ein Andenken aus Thailand, sitzt Frau Brösel: Sie betrachtet die vielen Figuren, die so dicht um sie herumstehen, dass sie bloss einen Arm ausstrecken müsste, um ihren Liebsten über den Kopf zu streicheln. Hinter ihrem Rücken, etwa gleich gross wie die kleine Frau Brösel, steht Maria, die Himmelskönigin, in einem hellblauen Umhang, Herkunft: Spanien, Material: Lindenholz. Als wäre er soeben vom Balkon hereingekommen, reitet ein vierarmiger Mann mit Elefantenkopf und dickem Bauch auf einer Ratte in Richtung Toilette: der aus Bronze gegossene indische Ganesha. In einer Ecke, neben dem Fussende des Betts, wacht ein Sandsteinengel, er lebte einst in Südfrankreich. Seine treuen, furchtlosen Augen schauen zum Salontischchen, auf dem ein Weisskopfseeadler aus Gussmarmor, in Alaska entdeckt, zum Flug anhebt; über ihm, an der Decke, schwebt der Hirschgeweih-Kronleuchter, das Hochzeitsreiseandenken aus Österreich. Elegant und gelassen, die Vorderpfoten von sich gestreckt, sitzt die schwarze Porzellankatze aus Italien neben dem Nachttischchen. Und etwas versteckt, unter dem Schreibtisch, wartet geduldig und bescheiden ein Plastikgartenzwerg mit Schaufel und Laterne auf seinen Einsatz. Er kommt angeblich aus der Schweiz.

Alois

Ich bin halt ein Tierlifreund, sagt Alois, mein Leben lang habe ich Ziegen gehütet, Kühe gemolken, Schweine gefüttert. Aber die Katzen, die liebe ich über alles. Einmal musste ich in die Stadt, zum Zahnarzt. Ich war viel zu früh dort. Auf einer Parkbank am See wartete ich. Und plötzlich hörte ich ein Geräusch: Miauuu. Und noch einmal: Miauuu. Ich schaute nach links, ich schaute nach rechts, unter die Bank. Aber da war nichts. Miauuu. Schon wieder. Ich stand auf und drehte mich um. Aha, dachte ich. Am Strassenrand stand ein Güselcontainer. Ich stiess den Deckel auf, und zwischen den Abfallsäcken steckte eine weisse Schuhschachtel. Als ich sie nehmen wollte, kamen die Güsler. Was machst du da?, fragten sie mich. Nichts, ich wollte nur diese Schachtel mitnehmen. Und da staunten sie nicht schlecht, als ich den Deckel einen Spaltbreit öffnete und aus der Schuhschachtel ein kleines, schwarzes Büsi hervorschaute. Gut hast du das gemacht!, sagten sie zu mir, klopften mir auf die Schultern. Das Büsi wäre jetzt gleich hier im Lastwagen gelandet, ganz gut hast du das gemacht, sehr gut. Wenn du nicht gewesen wärst, wäre es gestorben. Und ich habe dann zu ihnen gesagt: Ich bin halt ein Tierli­freund.

Rita

Jeden Abend nimmt sich Rita Zeit für die Tagesschau. Sie schaut zurück, schreibt Tagebuch. Im untersten Fach des Kleiderschranks, versteckt unter Strümpfen und Schlüpfern, bewahrt sie die Tagebücher auf: bestimmt dreissig Stück, neue und auch sehr alte. Sie sinnt dar­über nach, was den heutigen Tag, der von aussen betrachtet genau gleich wie der gestrige verlaufen ist, zu einem besonderen Tag gemacht hat. Sie schreibt mit einem Kugelschreiber, in einer kleinen, zusammenhängenden Schrift. Die Schrift ähnelt der eines ängstlichen Schulkindes, das sich alle erdenkliche Mühe gibt, nur keinen Platz zu verschwenden. Dicht aneinandergereihte, beinahe aneinanderklebende Buchstaben; als ob sich ein Buchstabe hinter dem anderen verstecken, unkenntlich machen wollte.

Ab und zu schlägt sie eines der alten Tagebücher aus der Zeit, als ihre Kinder noch klein waren, irgendwo auf und liest darin: 16. Juni 1978. Ich bin erschöpft, Kopfschmerzen, Übelkeit. Schon wieder Migräne! Zum Nachtessen gab es Dampfnudeln und Apfelmus. Sie haben alles aufgegessen, rübisstübis. Jetzt gönne ich mir eine Pause. Ich bin hundemüde. Aber ich will mich erst hinlegen, wenn ich geschrieben habe. Ich bin allein im Haus. Vater ist an einer Kirchenratssitzung, und meine lieben Kinder schlafen. Es ist so still. Das Bachstelzchen ist wieder da, auf dem Rasen. Was für ein unscheinbarer, aber schöner Vogel. Ein steingrauer Rücken, auf dem Kopf und unter dem Schnabel schwarz wie Tinte, dazwischen, um die Augen herum, schneeweiss. Das Bachstelzchen rennt nervös auf dem Rasen auf und ab, hin und her, als hätte es etwas verloren. Es ist so treu. Es zeigt sich mir jeden Abend. Es geht zackig und mit eingezogenem Kopf. Plötzlich hält es an und wippt mit dem Schwanz; will es mir zuwinken? Doch schon schnellt es wieder davon. Es schnappt nach Fliegen und Mücken. Es ist frei. Es braucht nicht viel zum Leben. Und ich? Ich darf nicht klagen. Nein! Ich darf zufrieden sein. Ich habe ein Zuhause, zwei allerliebste Kinder, einen engagierten Mann. Was will man mehr? Wünsche sind gefährlich. Und Träume sind Schäume.

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