Kitabı oku: «Fundamentalismus – maskierter Nihilismus», sayfa 2
Darwins Frage war allerdings: Wie sind die Arten entstanden? Nicht: Hat die Welt einen Anfang? Auf letztere ließ er sich nicht ein. Er hatte keine Antwort darauf. Ein intellektuell redlicher moderner Mensch hat auch keine Antwort darauf. Daraus schlägt der Fundamentalismus Kapital. Er weiß Bescheid. Die Welt hat einen Anfang, denn Gott hat sie geschaffen. Man muss nur Genesis 1 aufschlagen, da steht es. Das ist natürlich ebenso unseriös, wie wenn man der Evolutionstheorie Recht gibt und dann fortfährt: Also hat Gott die Welt als einen evolutionären Prozess geschaffen.11 Da ist der Empörungsimpuls des amerikanischen Fundamentalismus viel ehrlicher. Er gibt das tief Kränkende der Darwinschen Lehre offen zu. Nicht von ungefähr firmiert sie bei Freud als eine der drei großen narzisstischen Kränkungen, die die neuzeitliche Geistesentwicklung dem modernen Menschen zugefügt hat. Sie ist die Theorie einer grund-, halt- und ziellosen Entwicklung. Und wenn die Naturentwicklung tatsächlich so verläuft, dann hängt nicht nur alle Hoffnung auf ein gutes Ende in der Luft, sondern auch die gesamte geistige Tätigkeit des Begründens. Dann ist es nichts mit dem letzten Grund, der kosmischen Sabbatruhe, auf die alles Begründen hindrängt. Dagegen sträubten sich die amerikanischen Fundamentalisten: trotzig, verhärtet, borniert. Dennoch hat ihr Sträuben etwas Erhellendes. Es legt die Triebstruktur im Begründungsvorgang bloß.
2. Kleine Genealogie des Begründens
Begründung offenbart sich dort am ungeschütztesten, wo sie noch am wenigsten Worte für sich hat, noch am meisten »Nervensache« ist: in ihren Anfängen. So wenig wir vom Menschheitsanfang auch wissen, eines ist sicher: Zur Menschwerdung gehört die Ausbildung von Sitten und Gebräuchen, und die haben ihren Ursprung in sakralen Riten. Die wiederum haben eine gemeinsame Wurzel: das Opferritual. Wo immer wir archäologisch auf Spuren früher Menschheit stoßen, stoßen wir auf Rückstände, Beigaben der Opferdarbringung. Siedlungsplätze sind um ein sakrales Zentrum, einen Opferstein, einen Totempfahl, einen Berg, eine Grabstelle gruppiert, und Begräbnis ist von Opferung nicht trennscharf zu unterscheiden. Und wo wir mythologisch auf die Spuren früher Menschheit stoßen, also auf alte Erzählungsschichten, da ist ebenfalls das Opfer entweder die zentrale Handlung selbst oder aber diejenige, die alle andern rituellen Handlungen begleitet bzw. die literarische Handlung wie ein Leitmotiv durchzieht. »Ich opfere, also bin ich Mensch.« Töten – das tun auch Tiere, gelegentlich auch ihresgleichen, genauso wie sie Laute ausstoßen, Nahrung aufnehmen, kopulieren, fliehen, schlafen. Aber rituell töten, in feierlicher Versammlung an einem bestimmten Ort nach einem festgelegten Schema: das ist eine Besonderheit der Spezies homo sapiens. Das griechische Verb rezein ist das Wortgedächtnis für diesen Sachverhalt. Es bedeutet sowohl »Opfer darbringen« als auch generell »handeln, tätig sein« und drückt damit aus, dass Opfern der Inbegriff menschlichen Handelns, die menschenspezifische Tätigkeit schlechthin ist – ganz ähnlich übrigens wie das lateinische operari, aus dem im Deutschen ebenso »operieren« wie »opfern« geworden ist.12
Wie das angefangen hat? Sicherlich sehr allmählich, sporadisch, diffus. Es mag tausende von Jahren gedauert haben, bis sich feste Opferrituale formierten. Jedenfalls dürften die menschlichen Kollektive, die vor etwa 30.000 Jahren in der Lage waren, die Wände der Höhlen von Chauvet so zu bemalen, dass wir heute noch sprachlos davor stehen, schon einen hoch entwickelten Opferkult praktiziert haben. Nicht unwahrscheinlich, dass dessen Anfänge, je nach Weltgegend, weitere zehn, vielleicht aber auch zwanzig oder vierzig Jahrtausende zurückreichen. Man kann sich hier leicht um ein paar Jahrzehntausende verrechnen. Eines freilich ist gewiss: Opfer sind kein Restmüll. Sie bestehen im Teuersten, was man hat. Man schlachtet Menschen und kostbarste Tiere. So etwas tut man nicht aus Spaß, sondern nur unter äußerstem Druck: weil man sich anders nicht zu helfen weiß, weil man sich damit Entlastung zu verschaffen glaubt. Nur: Was ist am Opfer entlastend? Es wiederholt doch Grauen und Leiden, tut doch das, wovon es entlasten will. Das ist absurd. Nur hat diese Absurdität eine geheime Logik. Man kommt ihr auf die Spur, wenn man ein Verhalten genauer untersucht, das wir nur noch als pathologisches kennen: den traumatischen Wiederholungszwang. Freud war aufgefallen, dass Leute, die im Krieg oder bei Eisenbahnunfällen einen traumatischen Schock erlitten hatten, im nächtlichen Traum immer wieder in die schockierende Situation zurückkehrten, sie immer wieder durchlebten, immer wieder schweißgebadet und zitternd aufwachten. Warum verdrängten sie das Schreckliche nicht einfach, warum veranstalteten sie es im Traum eigens neu? Offenbar weil es viel zu mächtig war, um sich verdrängen zu lassen. Und das brachte Freud auf einen Verdacht. Wie, wenn die absurd erscheinende Wiederholung so absurd gar nicht wäre, sondern der Versuch, gegen das Übermächtige, gegen dessen Eindringen man sich nicht wehren konnte und das man nicht aushält, nachträglich Abwehrkräfte zu mobilisieren? So dass der nervenzerrüttende Wiederholungszwang eigentlich ein Selbstheilungsversuch des Nervensystems wäre: ein Versuch, geeignete Nervenbahnen anzulegen, in denen ein ungeheurer, unerträglicher Erregungsschwall kanalisiert und erträglich gemacht werden könnte?13
Der traumatische Wiederholungszwang ist nervliche Notwehr. In der modernen Kultur erscheint er nur als pathologisches Ausnahmephänomen, als Nervenleiden einer Minderheit, die durch sogenannte Schicksalsschläge aus dem kulturell eingefahrenen Gleis geworfen wurden. Wo es die Gleise der Kultur, ihre abgefederten Lebenszusammenhänge aber noch nicht gab, da dürfte die Ausnahme die Regel gewesen sein, nervliche Notwehr der Dauerzustand, der den homo allmählich zum sapiens werden ließ. Not macht erfinderisch. Der traumatische Wiederholungszwang war der verzweifelte Kunstgriff eines hochempfindlichen Nervensystems. Wir wissen nicht, wie es so empfindlich hatte werden können, warum gerade ihm dieser Kunstgriff gelang und wie lange es gedauert hat, bis er eingeübt war. Wo seine ältesten Spuren greifbar werden, tritt er uns schon als entwickelte Kulturtechnik entgegen: im Opferritual.14 Die Logik des Opfers ist die physiologische des Wiederholungszwangs. Man vollzieht Grauenhaftes, um von Grauenhaftem loszukommen. Die ständige Wiederholung soll das Unerträgliche allmählich erträglich, das Unfassliche fasslich, das Ungewöhnliche gewöhnlich machen. Wiederholungszwang hat sich anfangs reflexartig vollzogen. Er überkam die Hominiden wie eine höhere Gewalt. Allein, selbst dort, wo er tatsächlich Entlastung brachte, hörte er deswegen nicht auf, quälend zu sein. Seine Entlastung war selbst hochgradig entlastungsbedürftig. Er hielt es nicht bei sich aus. Sein eigener Leidensdruck trieb ihn über sich hinaus. Wie, wenn dieser Druck zu etwas gut wäre, wenn es etwas gäbe, um dessentwillen sich die Wiederholungszwangshandlung vollzog, etwas, dem man sie schuldete, eine höhere Gewalt, die sie verlangte?
Das Dämmern solcher Vorstellungen ist der Beginn der Götterdämmerung – ihrer Frühdämmerung. Sie ist im Prozess der Menschwerdung ein epochaler Schritt. Der Wiederholungszwang beginnt sich selbst auszulegen. Er gibt sich ein Wozu, einen Adressaten, damit aber zugleich ein Warum, einen Grund. Und was Grund hat, hat Sinn. Warum muss die schreckliche Wiederholung sein? »Weil eine höhere Macht sie will.« Dieses Weil bedeutet ein erstes tiefes menschenspezifisches Aufatmen, auch wenn es sich anfänglich nicht wohlgesetzt verbal ausgedrückt haben dürfte, sondern vielleicht bloß als Seufzer. Die Selbstauslegung des Wiederholungszwangs ist zunächst ein eher physiologischer als logischer Prozess, den man sich kaum langwierig und mühselig genug vorstellen kann. Gleichwohl ist sie die Elementarform des Begründens und hat aus dem reflexartigen Wiederholungszwang allmählich etwas Reflexives gemacht: einen sakralen Akt.15 Rein physiologisch gesehen besteht der Wiederholungszwang nur aus zwei Momenten: Wiederholung und Wiederholtem. Erst wenn in diesen physiologischen Ablauf eine Auslegung, eine Deutung, ein höheres Wozu und Warum des ganzen Wiederholens eintritt, dann wird aus dem sich selbst unfasslichen und unerträglichen Wiederholungszwang die sinnvolle Handlung des Opfers. Sie hat stets drei Elemente: Darbringer, Dargebrachtes und Adressaten. Letztere nehmen allmählich die Konturen von menschenähnlichen, aber übermenschlichen Gewalten an: von Gottheiten.
Der Wiederholungszwang ist der begründungsbedürftige Zustand par excellence. Hier liegen die Nerven blank. Hier kommt der physiologische Untergrund allen Begründens zum Vorschein. Gründe sind zu etwas gut. Sie sollen Unerträgliches erträglich machen. Daher sind die ersten Gründe zugleich letzte Gründe. Begründung hat als Letztbegründung angefangen – um schnellstmöglich Ruhe von allem Begründen zu bekommen: bei den Göttern. Sie bedeuten unbedingt gültigen und damit endgültigen Grund, Halt, Schutz, Frieden. Nur dass die Ruhe, die sie tatsächlich verschaffen, nie endgültig ist, nie verhindern kann, dass sich eines Tages ein kleiner Störenfried regt: die Frage »Warum«. Jeder Grund verdankt sich dieser Frage, ob sie sich nun in einem schmerzverzerrten Gesicht, einem Seufzen oder artikulierter Sprache äußert. Jeder Grund ist ein in einem »Weil« stillgestelltes, beruhigtes »Warum«. »Das und das ist so, weil … « Das »Warum« ist der agent provocateur aller Gründe. Zunächst das Zauberwort, das die Tür zum Reich der Gründe überhaupt erst geöffnet hat. Es ermöglicht jeglichen Grund, aber es lässt keinen von ihnen in Ruhe. »Opfer müssen sein, weil die Gottheit sie verlangt«: danach mag sich die frühe Menschheit jahrtausendelang ohne Wenn und Aber gerichtet haben. Die imaginierte Gewalt dieser Gottheit mag so groß gewesen sein, dass jegliches »Warum« hier als tödliche Entweihung empfunden wurde. Aber eines Tages ist dieser Grund durch seine ständige Wiederholung so schal, die Gewalt dieser Gottheit so gewöhnlich geworden, dass das »Warum« nicht länger vor ihr zurückschreckt. Es regt sich das Bedürfnis, zu erfahren, warum die Gottheit denn Verlangen nach solchen Opfern hat. Das »Warum« nagt auch die Götter an. Die ersten Gründe hören auf, mit den letzten identisch zu sein; sie werden selbst begründungsbedürftig. Dies ist die große Zäsur, wo sich vom Ritus der Mythos abzuheben beginnt, wo angefangen wird, das Opferritual mit einer Rede zu umspinnen, die erzählt, wie es dazu gekommen ist: wie die Gottheit ursprünglich selbst den Opferstein gesetzt, den heiligen Pfahl eingerammt, den Opferberg geschaffen, das heilige Rind geschlachtet hat oder von den Menschen dadurch erzürnt wurde, dass sie sich von ihr abkehrten. Die erzählende Rede argumentiert nicht; insofern ist sie Mythos, nicht Logos. Gleichwohl ist sie in einem sehr buchstäblichen Sinn begründende Rede; sie erzählt Gründungsgeschichten: fundamental stories.16 In ihren ältesten Schichten sind das Kultgründungsgeschichten. Weil das Kultzentrum aber immer auch als Weltzentrum gedacht ist, werden daraus allmählich Weltgründungsgeschichten.
Die einfache Frage »Warum« ist wie ein Trieb. Man kann sie durch Angabe von Gründen für eine Weile stillen, aber kein Grund ist auf Dauer vor ihr sicher. Jeder gerät durch sie unter Begründungszwang. Sie ist der tendenzielle Zersetzer aller angegebenen Gründe und der unersättliche Sucher nach neuen. Gerade damit aber ist sie die große Triebkraft intellektueller Entfaltung geworden. Der Kult, die Riten, die Sitten und Gebräuche gelten, weil die Gottheit sie verlangt? Ja warum verlangt sie sie denn? Weil die Gottheit selbst sie geschaffen oder angeordnet hat. Warum hat sie das denn getan? Um unseres Wohlergehens willen. Wir werden Ruhe, Schutz und Sicherheit haben, solange wir uns nach dieser Ordnung richten. Und das wiederum ist so, weil die Gottheit die Welt zu unserm Besten gegründet und geordnet hat. Und warum hat sie das getan? Weil sie selbst gut ist, das Gute schlechthin.
Dieses kleine Frage-Antwort-Spiel durcheilt im Zeitraffer eine Entwicklung, die sich im realen historischen Prozess über Jahrtausende erstreckt hat. Und dieser Prozess geht nicht einfach geradlinig bis ins Unendliche fort, sondern er hat bestimmte Knoten- und Wendepunkte. Einige besonders markante sollen im folgenden an der jüdisch-christlichen Tradition hervorgehoben werden. Das Judentum ist dadurch singulär, dass sich in seinem Denken die Gottheit eher und strenger als sonst irgendwo auf der Welt auf einen exklusiven Singular zubewegte. Zu Beginn der berühmten Zehn Gebote heißt es sehr freimütig: »Ich bin Jahwe, dein Gott […] Du sollst keine andern Götter haben neben mir […] Denn ich, Jahwe, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott«.17 Und diese singuläre Eifersucht hat dahin gewirkt, dass das Volk Israel nach seinen katastrophalen Niederlagen gegen die Assyrer und Babylonier nicht getan hat, was sonst alle unterlegenen Völker taten: die Gottheiten der Sieger übernehmen. Das wäre nur konsequent gewesen. Wenn Unwetter, Dürre, Seuchen oder wilde Tiere plagten, so sah man darin selbstverständlich den Zorn der eigenen Gottheiten, die man irgendwie beleidigt hatte, am Werk. Wenn hingegen mächtigere Völker im Namen ihrer Götter daherkamen und das eigene Volk unterwarfen, so hatte man allen Grund, in diesen Göttern die wahren Ordnungs- und Schutzmächte zu erkennen und sich auch ihnen zu ergeben, nicht nur der Siegermacht selbst. Und genau das machte der harte Kern des Judentums nicht mit. Zwar berichten die Geschichtsbücher des Alten Testaments von der erdrückenden Mehrheit der Könige von Israel und Juda, dass sie Altäre, Kultpfähle, Standbilder etc. für andere Götter errichteten.18 Ahas von Juda ließ sogar, um sich beim Assyrerkönig Tiglat-Pileser beliebt zu machen, dessen großen Altar von Damaskus nachbauen und die Kopie im Jerusalemer Tempel aufstellen.19 Aber solches Schielen nach andern Göttern war den Chronisten zuwider, ihre stereotype Formel dafür: »König X tat, was dem Herrn missfiel«. Die politische Niederlage führen sie darauf zurück. Weil die gesalbten Herrscher von Jahwe abfielen, brachen ihre Reiche nach und nach zusammen. In diesem Gedanken steckt eine geradezu abenteuerliche Umkehrung: Im Zusammenbruch seines Volkes beginnt sich Jahwe zu einer Weltmacht zu dehnen. Er, der Gott der Unterlegenen, wird selbst als derart überlegen vorgestellt, dass er die Siegermächte in seine Regie genommen und das Unglück durch sie geschickt habe: zur Strafe und Besserung für sein starrsinniges Volk. Je unterlegener das Volk, desto überlegener sein Gott. Und es ist ausgerechnet zum Zeitpunkt größter Unterlegenheit, nämlich der Verschleppung der Oberschicht des zerstörten Jerusalems in die babylonische Gefangenschaft im Jahre 587 v. Chr., dass jüdische Priester die Überlegenheit ihres Gottes auf die Spitze treiben und behaupten: Der eine eifersüchtige Gott, dessen Volk wir sind, ist überhaupt der einzige, den es gibt. Er hat »Himmel und Erde« geschaffen.
Die priesterschriftliche Schöpfungsgeschichte, mit der die Bibel beginnt, ist einerseits ein Dokument des Größenwahns. Gedemütigte, ins Exil verschleppte Priester kompensieren ihre Ohnmacht durch die Vorstellung eines allmächtigen Gottes. Sie begnügen sich nicht mehr damit, Jahwe, ihren Gott, als den einzigen zu deklarieren, dem Verehrung gebührt. Sie machen ihn zum einzigen, der existiert, vollziehen den Schritt vom Henotheismus zum konsequenten Monotheismus. Aber damit tut sich im Größenwahn eine neue geistige Dimension auf. Einziger Gott ist Jahwe, weil er ruah ist – ein hebräisches Wort, das, ähnlich dem griechischen pneuma, das Bedeutungsregister Wind, Sturm, Atem, Geist umfasst. In seiner Eigenschaft als ruah hat er die Welt hervorgebracht: ausgesprochen. »Es werde … Und es ward … «: Licht, Erde, Himmel, Gestirne, Lebewesen und was es auch sei. Die Welt durch Aussprechen zu schaffen ist ein Akt höchster Souveränität wie Geistigkeit. Er bedeutet nämlich: Die Welt ist sprachähnlich verfasst. Sprache hat, im Unterschied zum bloßen Stimmlaut, Bedeutung, Sinn. Ihr Sinn manifestiert sich zwar im Stimmlaut, er durchwirkt ihn gleichsam, aber er ist nicht stimmlich, sondern ein davon unterschiedenes Geistiges. So ist auch die von Gott geschaffene Welt der Ort seiner Manifestation, durchwirkt und zusammengehalten von ihrem Urgrund, und doch davon geschieden. Wohl aber macht der eine, einzige göttliche ruah auch die Welt überhaupt erst zu einer. Erst der Monotheismus vermag die Einheit und Konsistenz der Welt zu denken. Genesis 1 befand sich zur Abfassungszeit im 6. vorchristlichen Jahrhundert auf dem Höchststand menschlichen Bewusstseins. Nahezu zeitgleich laborierten in Kleinasien die hellsten Köpfe ihrer Zeit daran, die Vielfalt der sinnlichen Welt auf eine einheitliche arché (Urgrund, Anfang, Prinzip) zurückzuführen: die ersten abendländischen Philosophen. Eine Verabredung zwischen ihnen und den jüdischen Priestern in Babylon ist schwer vorstellbar und erst recht nicht nachweisbar; um so bemerkenswerter der gemeinsame Drang zum Monismus in ihren unterschiedlichen Denkweisen – ein Zeugnis dessen, was bei Jaspers »Achsenzeit« heißt.
Der Monotheismus ist ein Knotenpunkt des Begründens. Einerseits ist er ein Endpunkt; auf weniger als einen Gott lässt sich der Theismus nicht reduzieren. Auch Pantheismus ist bloß eine Art Monotheismus. Andrerseits ist er ein Anfangspunkt. Das Begründungsverfahren tritt auf ein neues, ihm selbst noch ganz ungewohntes Niveau. Es muss lernen, mit seiner eigenen Vorgabe zurechtzukommen: dass der letzte Grund die Beschaffenheit des ruah, pneuma, des unsinnlich Geistigen haben soll. Mit andern Worten: Es muss auf dem »Boden des Geistes« heimisch werden: ihn ausmessen, urbar machen, festigen. Nicht von ungefähr ist erst unter den Bedingungen des Monotheismus eine Logik ausgearbeitet worden: von Aristoteles. Das Wort »Monotheismus« mag hier stutzen lassen; zu sehr hat man sich daran gewöhnt, es für das Judentum zu reservieren. Aber schon Thales, der als arché aller Dinge das Wasser annahm, glaubte andrerseits, laut Aristoteles, »dass alles voll von Göttern sei«, oder sogar, wenn Hippolyt zuverlässig referiert, »das, was weder Ursprung noch Ende habe, sei Gott«.20 Monismus und Monotheismus sind hier noch gar nicht klar geschieden. Sie sind es nicht einmal bei Platon, dessen Spätphilosophie durch ihre eigene Denkbewegung immer monistischer geworden ist. Zunächst setzt sie eine unbestimmte Vielzahl ewiger »Ideen« an, von denen die irdischen Dinge der vergängliche Abglanz sein sollen, dann spekuliert sie auf eine oberste Idee, die »Idee des Guten«, die als eine Art synthetischer Einheit der übrigen Ideen gedacht ist.21 Schließlich führt sie die erscheinende Welt auf einen demiourgos zurück, einen göttlichen Weltarchitekten,22 der zwar schon einen Stoff vorfindet, aus dem er die Welt kunstvoll formt, also nicht so streng monistisch gedacht ist, dass er aus nichts als sich selbst erschafft, aber doch monistisch genug, um das eine, die Welt in Gang bringende und ordnende Prinzip zu sein. Eben dies Prinzip hat Aristoteles lediglich auf eine neutrale abstrakte Formel gebracht: kinoûn akinetón, wörtlich: das »unbewegte Bewegende«23, etwas, was den Uranstoß gegeben, die Welt gleichsam entrollt hat und zugleich durch alles von ihm Entrollte hindurchgeht und es zusammenhält. Wer »unbewegter Beweger« übersetzt, sagt vielleicht schon zu viel; ungewiss, ob Aristoteles das erste Bewegende männlich-personal gedacht hat. Sicher aber ist es für ihn der energetisch-pneumatische Zusammenhalt und Fundus aller »Ideen« oder Formen, der macht, dass sie allesamt bloß Spezifikationen eines Gemeinsamen sind.
Erst auf den Kredit, dass es einen solchen homogenen geistartigen Weltfundus gibt, hat Aristoteles entwickelt, was wir seine »Logik« nennen. Das ist ihre monistisch-monotheistische Hypothek. Das Fachwort für seine logischen Schriften heißt »Organon«, Werkzeug. Das darf man wörtlich nehmen: Die Logik ist Werkzeug zur Urbarmachung und Befestigung eines noch weitgehend unerschlossenen geistigen Bodens. Welcher geistigen Ordnung gehören die Worte an, die wir gebrauchen? Das ist die Hauptfrage der Kategorien. Wie müssen Begriffe zusammengesetzt sein, damit sie Sinn und Verstand haben? Das erörtert die Lehre vom Satz. Welches sind die sicheren Orte, Plätze und Gemeinplätze, von denen aus das Denken in die undurchsichtigen Regionen des Geistigen vorstoßen kann? Davon handelt die Topik. Wie funktionieren Schlüsse, Trugschlüsse und Beweise? Darum geht es in Erster und Zweiter Analytik sowie den Sophistischen Widerlegungen. Die aristotelische Logik ist ein großer Versuch, ihrer eigenen monotheistischen Vorgabe gerecht, nämlich auf dem Boden des Geistes heimisch zu werden. Gerade hier ist »das Frohlocken des Erkennenden […] das Frohlocken des wieder erlangten Sicherheitsgefühls«.
Begründen hat selbst ein erstes Bewegendes: den traumatischen Schockimpuls, den es wegzuarbeiten versucht. Begründen hebt dort an, wo Theologie sich von Physiologie abzuheben beginnt. Die Urgeschichte des Begründens ist Sakralgeschichte: Rücksicht (religio) auf göttliche Gründe. Das »Warum«, das jeden Grund ermöglicht und jeden annagt, hat den Begründungsprozess freilich gnadenlos über die Theologie hinausgetrieben. Ihr ältester Ableger wurde schon erwähnt: der Rechtsstreit. Göttliche Gründe sind zwar imaginär, aber sie haben eine reale räumliche Entsprechung: das Heiligtum. Es gilt als göttliche Gründung, ist der Ort, wo Ruhe und Sicherheit kategorisch geboten sind, und damit auch der einzige, an dem die Unruhe beigelegt werden kann, die aus dem Streit zwischen Stammesgenossen entsteht. Rechtsprechung beginnt im Heiligtum. Ihre Urform ist das Gottesurteil, sei es als Los oder als ritueller Zweikampf. Allmählich erst tritt an die Stelle des Gottesurteils das Urteil eines priesterlichen Richters, der die Ansprüche und Gründe der Streitenden abwägt und sein Urteil im Namen Gottes fällt. Dazu bedarf es natürlich nicht des Monotheismus; es genügt eine ganz partikulare Tempelaura. In gewisser Weise aber ist der pneumatische Weltfundus nur die ins Kosmische getriebene Tempelaura, die Logik das ins Allgemein-Geistige transformierte Recht. Dieses will, im Kraftfeld des Heiligtums, den Streit zwischen Parteien schlichten; jene will, auf dem Boden des Geistes, den Widerstreit zwischen allen Aussagen beilegen – sie so ordnen, dass es keine Unstimmigkeiten mehr zwischen ihnen gibt. Der Rechtsstreit ist denn auch, historisch gesehen, die Vorschule des logischen Disputs. Die Sophisten, an denen sich die platonische und aristotelische Philosophie geübt hat, waren geriebene Advokaten.
Das »Organon«, das den Boden des Geistes ein für allemal erschließen und sichern sollte, hat natürlich das Gegenteil getan. Jedes seiner Resultate geriet unter das Stirnrunzeln des »Warum«, bei keinem konnte man sich endgültig beruhigen, und so hat die Logik diesen Boden schließlich bis zur allgemeinen Verunsicherung durchwühlt. Allerdings war schon von Anfang an etwas Verunsicherndes an diesem Boden. Den letzten Grund als ruah, pneuma, spiritus vorstellen – das tat man zweifellos, um ihn der irdischen Sphäre des Entstehens und Vergehens, der Unzuverlässigkeiten und Sinnestäuschungen zu entziehen und unangreifbar zu machen. Damit wurde er freilich auch ungreifbar – entrückt. Die Gottheiten, die menschliche Kollektive zunächst für sich reklamiert hatten, umschwebten ihr Volk. Man spürte sie im Rauschen von Wind und Wasser oder im Knistern des Feuers, man glaubte ihre Anwesenheit zu vernehmen, wenn man im Heiligtum den Atem anhielt. Führten sie nicht dem Priester die Hand, wenn er das Opfer niederschlug? Kurzum, diese Götter waren nahe, und nur was nahe ist, kann Schutz und Sicherheit geben. Das Missliche war nur: Hinter dem übernächsten Bergrücken war vielleicht schon ein Stamm, der sich von andern Göttern umschwebt wähnte. Die Reichweite der eigenen Götter war also beschränkt, und beschränkte Gründe sind nie unbedingte, letzte Gründe. Ihrer Beschränktheit inne werden heißt eine ähnliche Enttäuschungserfahrung machen wie das bürgerliche Kind, wenn es feststellt, dass sein allmächtig geglaubter Vater eigentlich bloß ein kleiner Angestellter ist. Diese Enttäuschung treibt ins Weite. Je unbeschränkter aber die Gründe werden, auf die man aspiriert, desto ferner rücken sie, desto abgezogener vom Hier und Jetzt erscheinen sie, und wenn sich schließlich der Gedanke aufnötigt, dass der letzte Grund ein ruah ist, der die ganze Welt aus sich hervorgebracht hat, dann stellt sich die Frage: Was hat der noch mit mir zu tun? Die Juden in Babylon mögen noch eine besondere Beziehung zu ihm verspürt und sich im Hochgefühl ihrer geistigen Originalität gesagt haben: Wir sind die ersten, die das erkennen, die Auserwählten, denen das offenbar wird. Aber was ist, wenn sich das herumspricht? Wird dann nicht der geistige Boden, auf den wir bauen, zum Gemeinplatz, auf den alle bauen? Dieser Boden hat dann gar keinen besonderen Ort und kein besonderes Volk mehr. Er ist überall; aber damit nicht auch überall und nirgends?
Nietzsche gilt vielen bis heute als die Verkörperung des Nihilismus, als Leugner nicht nur Gottes, sondern aller höheren Ideale und moralischen Werte, als derjenige, der die Axt an die Wurzeln aller Kultur legte. So nahm ihn auch der amerikanische Fundamentalismus wahr: als Inbegriff alles Zersetzenden. Freilich wurde dabei bloß der Bote für die Botschaft verantwortlich gemacht. In Wahrheit ist Nietzsche der bis anhin exponierteste Theoretiker des Nihilismus: Kritiker einer Kultur, die er als zutiefst nihilistisch empfand. Und diesen Nihilismus sah er nicht etwa im 18. Jahrhundert entstehen, als der französische Materialismus den Menschen als Maschine, den Geist als höhere Materie und die Idee Gottes als Betrug raffinierter Priester deklarierte, sondern dort, wo der Schritt zum radikalen Monotheismus getan wurde. Wenn man die Welt aus dem ruah hervorgehen lässt, stellt man sie dann nicht gerade auf den Kopf? Macht man zu ihrem Fundus, dem Sichersten und Haltbarsten, nicht ausgerechnet das Fernste, Abstrakteste, Blutleerste: den Geist? Das ist für Nietzsche der Anfang vom Ende: »Gott als Krankengott, Gott als Spinne, Gott als Geist«, »einer der corruptesten Gottesbegriffe, die auf Erden erreicht worden sind« und sich »ins immer Dünnere und Blässere« transfiguriert. »Zwei Jahrtausende beinahe und nicht ein einziger neuer Gott! Sondern immer noch und wie zu Recht bestehend, wie ein ultimatum und maximum der gottbildenden Kraft, des creator spiritus im Menschen, dieser erbarmungswürdige Gott des christlichen Monotono-Theismus! Dies hybride Verfallsgebilde aus Null, Begriff und Widerspruch, in dem alle Décadence-Instinkte, alle Feigheiten und Müdigkeiten der Seele ihre Sanktion haben! – –«24 Zieht man einmal die überschäumende Polemik des Antichrist ab, die von Nietzsches angespannten Nerven im letzten Jahr vor seinem Zusammenbruch zeugen, so bleibt gleichwohl unterm Strich: Jener Anfang des Alten Testaments, auf den sich der amerikanische Fundamentalismus als sein non plus ultra beruft, ist für Nietzsche der Anfang des Nihilismus: ein Ungrund, ein Abgrund. Mehr noch: Die Entwicklung der gesamten europäischen Kultur erscheint ihm als Entwicklung dieses nihilistischen Keims, und jeder Versuch, ihn zu ersticken, als Stimulus seiner Entfaltung.
Eine abenteuerliche Sichtweise? Gewiss; aber das ist noch kein Gegenargument. Es besteht durchaus Anlass, schon das Christentum als große Gegenbewegung gegen die monotheistische Abstraktionsdynamik zu verstehen: als Versuch, das Flüchtigwerden Gottes aufzuhalten. Die Evangelien sagen: Der ungreifbare letzte Grund aller Dinge ist zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort in einer menschlichen Person greifbar geworden, und zwar in so wörtlichem Sinne, dass schließlich die Häscher sie griffen und ans Kreuz schlugen. Nur über dies Greifbare kommt man zum Ungreifbaren: »Niemand kommt zum Vater denn durch mich«.25 Das Greifbarwerden Gottes wird zwar deduktiv vorgestellt: »Und der logos ward Fleisch«.26 Aber es ist induktiv zu lesen: als Versuch, Fleisch an die Knochen des Skeletts der Abstraktion zu bringen. Keine Frage, dass der christliche Inkarnationsgedanke wahnhaft ist. Warum sollte sich die allumfassende Gottheit, ihre Existenz einmal unterstellt, ausgerechnet in diesem einen Menschen auf einen Punkt zusammengezogen haben, dessen Hinrichtung durch Kreuzigung zwar glaubwürdig bezeugt, dessen Auferstehung und rettende Wiederkunft aber pure Beteuerung geblieben sind?
Doch es war hier abermals wie beim Schritt zum radikalen Monotheismus: Der Wahn erwies sich als Nährboden größter geistiger Potenzen. Jener Christus, in dem die ganze Weltgeschichte buchstäblich auf den Punkt gekommen sein soll, wurde zu einem intellektuellen Kristallisationspunkt ersten Ranges. Um ihn drehte sich, an ihm schärfte sich das geistige Instrumentarium einer ganzen Epoche. Wie soll man sich das begreifbar machen, dass einer ganz Gott geblieben, obwohl er ganz Mensch geworden ist und dass die Menschheit nur durch diese Tat Chancen hat, gerettet zu werden – wenn sie an die Heilskraft dieser Tat glaubt? Hier war nicht gefordert, an irgendein Ungefähr zu glauben, sondern an den authentischen Sachverhalt. Man hatte sich von der Menschwerdung Gottes, auch wenn sie im Innersten ein unvorstellbares, unbegreifliches Mysterium blieb, wenigstens keine falschen Vorstellungen zu machen und die Formulierungen zu finden, die davor schützten. Das war die Aufgabe der Theologen. Deren Kampf darum, ob Christus Gott »wesensgleich« oder nur »wesensähnlich« sei, war zwar Wortklauberei, aber eine unerlässliche. Wenn man Christus nicht so vorstellte, dachte, anbetete, wie er wirklich war, wie sollte er dann die Sünden vergeben und selig machen? Plötzlich hingen von der richtigen Wortwahl Rettung und Verderben ab. Es bildete sich ein Sensorium für die existenzielle Bedeutung von Formulierungen. Natürlich führte auf die Dauer kein Weg daran vorbei, Christus als Gott »wesensgleich« zu denken. Andernfalls wäre bei der Inkarnation nicht Gott selbst Mensch geworden, sondern nur etwas ihm Ähnliches. Andrerseits kann Gott nicht so Mensch geworden sein wie im Märchen der Zauberer Maus. Dort frisst die Katze die Maus und erlöst vom bösen Zauberer. Bei einer nach diesem Modell gedachten Menschwerdung wäre mit dem Kreuzestod Jesu auch Gott unwiderruflich dahin gewesen.
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