Kitabı oku: «Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 38/39»
Zeitschrift für kritische Theorie
Heft 38–39 / 2014
herausgegeben von
Sven Kramer und
Gerhard Schweppenhäuser
zu Klampen
Zeitschrift für kritische Theorie,
20. Jahrgang (2014), Heft 38–39
Herausgeber: Sven Kramer und Gerhard Schweppenhäuser
Geschäftsführender Herausgeber: Sven Kramer, Leuphana Universität Lüneburg, Institut für Geschichtswissenschaft und Literarische Kulturen
Redaktion: Roger Behrens (Hamburg), Wolfgang Bock (Rio de Janeiro), Thomas Friedrich (Mannheim), Sven Kramer (Lüneburg), Gerhard Schweppenhäuser (Würzburg)
Korrespondierende Mitarbeiter: Rodrigo Duarte (Belo Horizonte), Jörg Gleiter (Berlin), Christoph Görg (Kassel), Frank Hermenau (Kassel), Fredric Jameson (Durham, NC), Per Jepsen (Kopenhagen), Douglas Kellner (Los Angeles, CA), Claudia Rademacher (Bielefeld), Gunzelin Schmid Noerr (Mönchengladbach), Jeremy Shapiro (New York, NY)
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Zeitschrift für kritische Theorie
Leuphana Universität Lüneburg
z. Hd. Prof. Dr. Sven Kramer
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Erscheinungsweise: Die Zeitschrift für kritische Theorie erscheint einmal jährlich als Doppelheft. Preis des Doppelheftes: 32,– Euro [D]; Jahresabo Inland: 28,– Euro [D]; Bezugspreis Ausland bitte erfragen. Berechnung jährlich bei Auslieferung des Heftes. Das Abonnement verlängert sich automatisch, wenn die Kündigung nicht bis zum 15.11. des jeweiligen Jahres erfolgt. Fragen zum Abonnement bitte an folgende Adresse:
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ›http://dnb.ddb.de‹ abrufbar.
Aufnahme nach 1995, H. 1; ISSN 0945-7313; ISBN: 978-3-86674-661-9
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Vorbemerkung der Redaktion
ABHANDLUNGEN
Gerhard Schweppenhäuser
Zur Kritik der Medienethik
William E. Scheuerman
Kapitalismus, Recht und Sozialkritik
Wolfram Ette
Adorno und Platon
Erika Benini
Die materialistische Dimension des Leibes bei Theodor W. Adorno
Michael Städtler
Theorie, Kritik, Kunst und Gesellschaft. Zu Gegenstand, Methode und Darstellung kritischer Theorie
Hendrik Wallat
Das Schöne (in) der Revolte. Überlegungen zum Verhältnis von Ästhetik und Emanzipation
Irving Wohlfarth
Was bleibt. Christa Wolfs vergangene Zukunft
Christoph Türcke
Suchtkultur
EINLASSUNGEN
Einladungsschreiben zur Umfrage »Öffentlich? Privat?«
Frigga Haug
Grenzen ziehen. Bemerkungen zum Trennungszusammenhang vom Privaten und Politischen und den entsprechenden Öffentlichkeiten
Samuel Salzborn
Ambivalenzen des Privaten Oder: Die Angst vor dem Anderen
Tatjana Freytag
Öffentlich? Privat? – Eine wirkliche Dichotomie?
Janne Mende
Die Privatheit der Privatsphäre
BESPRECHUNGEN
Philip Hogh
Expressivität, Kommunikation und sprachlicher Gehalt. Ein Literaturbericht zur aktuellen englischsprachigen Rezeption von Adornos Sprachphilosophie
Kritische Theorie – Neue Bücher des Jahres 2013 in Auswahl
Autorinnen und Autoren
Fußnoten
Vorbemerkung der Redaktion
Im Sommer 2013 veröffentlichte Edward Snowden Einzelheiten über die Überwachungspraktiken US-amerikanischer Geheimdienste und löste damit in vielen Ländern Debatten über das Vorgehen und die Befugnisse dieser staatlichen Organisationen aus. Mit einer Mischung aus Staunen, Unglauben und Schock nahmen Bürger und Intellektuelle in den westlichen Demokratien zur Kenntnis, dass in der digital vernetzten Welt staatlichen Stellen die privaten Verhältnisse jedes Individuums in einem zuvor für unmöglich gehaltenen Maß bekannt sind. Und da offensichtlich auch private Firmen wie Google und Facebook beträchtliches Wissen über unsere Lebensgewohnheiten angehäuft haben, lag es für die Redaktion der ZkT nahe, in gesellschaftstheoretischer Perspektive die folgenden Fragen nach der möglichen Veränderung des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Privatheit zu stellen: Wie sind die neuen Phänomene zu beurteilen? Reichen die klassischen Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit zur Analyse der jüngsten Entwicklungen noch hin?
Im 20. Jahrgang der ZkT initiierte die Redaktion deshalb eine Umfrage zum Thema »Öffentlich? Privat?«; die Einlassungen stehen ganz im Zeichen der Antworten. Nach dem Einladungstext drucken wir die vier bislang eingegangenen Debattenbeiträge ab: Frigga Haug geht von den Erfahrungen der Frauenbewegung aus und bezieht diese auf die neueren Auseinandersetzungen über die Grenze zwischen dem Privaten und dem Politischen. Abstrakt und für sich genommen taugten beide – weder das Private noch die staatlich bestimmte Öffentlichkeit – als Hort des Utopischen. Vielmehr gehe es um deren Wechselbeziehung und um die Grenzbestimmung, die in den je aktuellen Kämpfen neu reflektiert und hergestellt werde. – Samuel Salzborn vergegenwärtigt die Ambivalenzen des bürgerlich-aufgeklärten Freiheitsversprechens in Bezug auf das Öffentliche und das Private, um einerseits die vielfältigen Defizite bei der Realisierung von Freiheit aufzuzeigen und andererseits auf die Überfrachtung der Idee der Öffentlichkeit hinzuweisen, der zugetraut worden sei, dass durch sie ohne die Änderung der materiellen Produktions- und Reproduktionsverhältnisse, lediglich über Kommunikation, Freiheit hergestellt werden könne. Demgegenüber erinnert Salzborn an die Rolle des Staates als notwendigen Garanten der Freiheit und kritisiert, dass der Kampf um die Privatheit in zahlreichen aktuellen Diskussionen um die staatlich-geheimdienstlichen Abhörpraktiken der USA als antiamerikanischer Feldzug geführt werde. – Tatjana Freytag fragt, ob die scheinbar so revolutionären Veränderungen in der Welt der ›new social media‹ nicht in eine alte Grundmatrix der Moderne hineinpassten, nämlich dem Streben nach Individualität in einer kapitalistischen Massengesellschaft, die den Einzelnen eben diese Individualität strukturell immer schon verwehre. Die aktuellen Enthüllungen des Privaten diskutiert sie auf verschiedenen Ebenen: Einerseits kann sie das Erstaunen über die geheimdienstlichen Tätigkeiten (›Handy der Kanzlerin‹) nicht teilen, denn das Aufdecken des Abgeschirmten sei deren genuine Aufgabe, andererseits reflektiert sie auf die freiwilligen Selbstenthüllungen von Privatleuten auf den Plattformen der ›new social media‹. – Janne Mende macht geltend, dass die Grenze ›öffentlich-privat‹ gesellschaftlich produziert und deshalb dauernd im Wandel sei. Sie zeigt, wie ihre wechselseitige Beeinflussung die beiden Sphären im Innersten betrifft. Mit der Wendung von der ›Privatisierung der Privatsphäre‹ analysiert sie außerdem das zunehmende Eindringen der Privatwirtschaft in den Bereich des Privaten. Sie plädiert für öffentliche Debatten um das Recht auf Privatsphäre, die aber nur fruchtbar sein könnten, wo die Vorstellungen von einer dichotom abgegrenzten, einfach gegebenen oder verlorenen Privatsphäre überschritten würden.
In den ABHANDLUNGEN fragt Gerhard Schweppenhäuser nach dem Leistungsvermögen und den Grenzen der Medienethik. Dort werde die Logik des Marktes mit dem Postulat einer Ethik der ›Selbstverpflichtung‹ konfrontiert, in der die Konzepte ›Öffentlichkeit‹ und ›Verantwortung‹ als normative Begründungskonzepte zirkulär aufeinander verweisen. Der Autor geht der Dialektik im Begriff der bürgerlichen Öffentlichkeit nach und diskutiert die Ambivalenz des Verantwortungsbegriffs. Medienethiker, so seine These, sind sich über die ökonomischen Bedingungen medialen Handelns im Klaren, aber ihre normativistische Handlungsreflexion stellt diese nicht grundsätzlich in Frage. Solange Medienethik sich jedoch lediglich am Leitbild der demokratischen Öffentlichkeit orientiere, könne sie der impliziten, aber höchst wirkmächtigen Normativität der medialen Märkte wenig entgegensetzen. – William E. Scheuerman untersucht, wie stichhaltig und haltbar der Versuch von Habermas zu Beginn der 1980er Jahre war, Kapitalismuskritik in die Kritik der Verrechtlichung umzuwandeln. Der Autor weist die theoretischen Defizite dieses Ansatzes nach und zeigt, inwiefern die gegenwärtige Entwicklung des Kapitalismus dazu zwingt, den Ansatz entschieden zu modifizieren. Kritische Theorie müsse als Kritik der politischen Ökonomie aktualisiert werden; nur dann würden die gesellschaftlichen ›Pathologien‹ begreifbar und könnten legislative wie juridische Reformen in Angriff genommen werden, welche es durch neue sozialstaatliche Regulierung ermöglichen könnten, den ›Kapitalismus zu humanisieren und eine ökologische Krise zu vermeiden‹. – Wolfram Ette stellt anhand einer neuen Lektüre von Platon und Adorno Überlegungen zu den Bereichen Darstellung, Konstellation, geistige Erfahrung und Praxis vor. Die These lautet, dass Adorno ebenso wie Platon gegen die philosophische Fixierung der Erkenntnisobjekte durch klassifikatorische Identifikation angehe. Beide ermöglichten den Rezipienten ihrer Texte philosophische Erfahrung als Platzhalter für richtige Praxis. Und zwar, indem sie durch ihre Darstellungsweise eine Offenheit der Begriffsarbeit erzeugten, welche anderen Philosophen fehle. Dies legt der Autor im Detail anhand folgender Motive dar: Vortrag, Diktat und schriftliche Durcharbeitung bei Adorno einerseits und die Verbindung von empirisch-historischer Ebene und begrifflicher Reflexion bei Platon andererseits. – Erika Benini erhellt das Leib-Motiv bei Adorno im Zusammenhang seines materialistischen Konzepts des Subjekts, indem sie deutlich macht, dass der Begriff des Leibes die systematische Voraussetzung sowohl für ein Verständnis der Möglichkeit moralischer Praxis als auch für einen reflektierten Begriff der Intersubjektivität ist. Sie zeigt, wie Adorno sich entlang der Begriffe ›Materie‹, ›Subjekt‹ und ›Geist‹ an Kant und Husserl ebenso abarbeitet wie an Nietzsche und Freud. Adorno kritisiere die Trennung zwischen ungeschichtlicher Triebnatur und geschichtlich geformter Ich-Identität und begreife die nichtidentische Materialität des Leibes selbst als Geschichtliches. Indem er die Kategorie des Subjekts gleichsam re-historisiert, könne er »negativ eine neue Form der dialektischen Subjektivität entwerfen«. Beninis These: Adornos Philosophie ist aufgrund ihrer materialistischen Grundlegung per se praktisch. Dies gebe ihr eine aporetische Gestalt; eine ›positive‹ Moral sei gegenwärtig unmöglich, doch eben deshalb werde Moralität zur Pflicht des Denkens. – Michael Städtler rekonstruiert die Begründung für Adornos Übergang von Philosophie in Gesellschaftstheorie, die bei diesem selbst nicht immer ausdrücklich erfolgt. Und er zeigt, warum kritische Gesellschaftstheorie durch ästhetische Erfahrung ergänzt werden muss, wenn sie ihren Gegenstand nicht bloß im Ist-Zustand beschreiben, sondern im Hinblick auf sein normatives Potenzial kontrafaktisch konstruieren will. Dies wird aus einer Entfaltung der Begriffe Natur, Kritik, Geist, Wert, Gattung, Subjekt und Moral hergeleitet. Adornos ›ästhetische Wendung‹ ist Städtler zufolge notwendig, um Erfahrungen in die Theorie hineinzubringen, die weder durch methodische Standardisierung noch durch stringente Arbeit an Begriffen und den Aufweis ihrer Widersprüche gewonnen werden könnten. Versöhnung und Erlösung sind gleichsam Folien für die Erfahrung des Leidens daran, dass das in der Gattung angelegte Potenzial vernünftiger Vergesellschaftung nicht erreicht bzw. verfehlt wird. Dies belegt der Autor durch Verweise auf Adornos Verfahren und durch eine Interpretation des ›Brot-und-Wein‹-Motivs bei Hölderlin. – Hendrik Wallat nimmt die Spannung zwischen dem Bedürfnis nach Schönheit und ästhetischer Phantasie als Impulsen der Revolte und dem Programm eines post-utopischen ›wissenschaftlichen Sozialismus‹ zum Anlass, erneut über die libertär-ästhetische Kritik am ›nihilistischen Moment der Revolution‹ nachzudenken. Er arbeitet die Nähe der Überlegungen heraus, die Wilde, Camus, Adorno und Marcuse zu politischer und autonomer Kunst sowie zu Emanzipation und sozialer Befreiung angestellt haben. »Die Beschädigung des Lebens durch die Herrschaft zwingt zur Revolte«, lautet sein Fazit; die Vorwegnahme der Erfahrung sinnlichen Glücks in der ästhetischen Erfahrung und die Auflehnung gegen Herrschaft und Tod gleichermaßen werden als paradoxe Konstellation beschrieben, in der sich die Sehnsucht nach Schönheit und Glück mit der nach dem Tode verbindet. – Irving Wohlfarth legt eine Lektüre von Christa Wolfs Erzählung Was bleibt und ihrem Roman Stadt der Engel vor, in der er der Frage nachgeht, was einerseits von der Idee des Sozialismus nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus, andererseits von Christa Wolfs Literatur nach ihrem Tod bleiben könnte. In dauerndem Rückbezug auf geistesverwandte Theoretiker wie Walter Benjamin erschließt der Autor unterschiedliche Schichten der fragenden Wendung ›was bleibt‹ und verteidigt die Autorin dabei gegen die Angriffe ihrer Kritiker. – Christoph Türcke analysiert die Dynamik des Kapitalismus unter dem Aspekt der Sucht und diagnostiziert, dass wir in einer globalen Suchtkultur leben. Anders als die frühen Ekstasetechniken und der punktuelle, übermäßige Gebrauch von Genussmitteln während der Festzeiten in den alten Kulturen, dienten Suchtmittel der neueren Zeit – wie der Alkohol – den existenziell Entwurzelten als temporärer Halt. Diese Figur, nämlich in der Sucht Halt am falschen Objekt zu suchen, findet Türcke in der Expansionsdynamik des Kapitalismus wieder, die er als eine Suchtdynamik begreift, sowie in vielen aktuellen Alltagserscheinungen wie der Bilder-, der Bildschirm- und der Computersucht.
Philip Hogh unterscheidet in seinem Literaturbericht zur aktuellen englischsprachigen Rezeption von Adornos Sprachphilosophie drei Haupttendenzen: eine »immanente« Darstellung, eine »verteidigende, die Adorno primär im Kontrast zu Habermas diskutiert«, und »eine aktualisierende, die Adornos Sprachphilosophie ins Verhältnis zu Diskussionen in der Gegenwartsphilosophie setzt«. Im Anschluss zieht der Autor Linien zur neuen analytischen und postanalytischen Sprachphilosophie. Insgesamt belegen die neueren Forschungen die Aktualität von Adornos sprachphilosophischen Reflexionen.
Am Ende dieser Vorbemerkung möchten wir an Johannes Beck erinnern, der im Dezember 2013 verstarb. Beck war der kritischen Theorie verbunden; bevor er in Bremen auf den Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik berufen wurde, hatte er bei Heinz-Joachim Heydorn sowie bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in Frankfurt studiert. Er war unter anderem Mitbegründer der Zeitschrift Ästhetik und Kommunikation, des Dienstes zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten, aus dem später die TAZ hervorging, und Mitherausgeber von sieben Jahrbüchern für Lehrer sowie der Reihen Politische Erziehung und Kulturen und Ideen im Rowohlt Verlag. Dort erschienen auch die meisten seiner eigenen Bücher, darunter Lernen in der Klassenschule (1974) und Der Bildungswahn (1994) – ein Text, der leider bis heute nichts an Aktualität verloren hat.
ABHANDLUNGEN
Gerhard Schweppenhäuser
Zur Kritik der Medienethik*
Was ist Medienethik? Die Verwendung des Begriffs »Ethik« ist mehrdeutig. Häufig ist von »Medienethik« die Rede, wenn es um die »Moral« der Massenmedien geht: also darum, was dort als üblich, sittlich geboten und erwünscht gilt – oder als illegitim, verachtenswert und empörend. Dies entspricht der Rede von der »Wirtschaftsethik«, verstanden als Arbeitsmoral – als Werte und Handlungsnormen, die man in der ökonomischen Welt für rechtschaffen und erstrebenswert hält. Zugleich bezeichnet der Begriff »Medienethik« aber auch die wissenschaftliche Untersuchung der Moral, die dem Betrieb der Massenmedien inhärent ist. Die äquivoke Verwendung von »Medienethik« entspricht der Unterscheidung zwischen »Moral« und »Ethik«. »Moral« ist ein Sammelbegriff für die Überzeugungen der Einzelnen, was gut oder gerechtfertigt ist, sowie für die Sitten in einer Gemeinschaft.1 Unter »Ethik« wird hingegen die »Reflexionstheorie der Moral«2 verstanden. Allerdings nicht, wie Luhmann meinte, im Sinne einer Theorie, die rein deskriptiv verfährt, ihren Gegenstand bloß wie ein Spiegel reflektiert und keine begründete normativ-kritische Stellung dazu einnehmen kann. Luhmanns Definition ist falsch, weil sie unterstellt, dass sinnvollerweise nur deskriptive Ethiken formuliert werden könnten und weil sie die Möglichkeit normativer Moralphilosophie leugnet. Arbeitet man jedoch mit einem anderen Begriff der Reflexion als Luhmann, nämlich mit einem philosophischen, kann »Reflexionstheorie der Moral« als Synonym für »Moralphilosophie« verwendet werden. Als Terminus ist »Ethik« dann gleichbedeutend mit »Moralphilosophie«.
Philosophische Ethik fragt, wie Moralprinzipien begründet werden, ob die Begründungen stichhaltig sind und welche moralischen Überzeugungen gerechtfertigt werden können. Wenn es um »Medienethik« im Sinne der Berufs- und Standesethiken geht, wie zum Beispiel im Ethik-Kodex des Deutschen Presserates,3 sollte man deshalb lieber von »Medienmoral« sprechen. Wenn im Folgenden von »Medienethik« die Rede ist, sind moralphilosophische Analysen von Wertorientierungen und Handlungsnormen bei der Produktion, Distribution und Rezeption von Massenmedien gemeint. Dies folgt dem Sprachgebrauch in Philosophie und Medienwissenschaft. Unter Medienethik versteht man dort die »wissenschaftliche Beschäftigung mit der vorhandenen Medienmoral und Kommunikationskultur«4. Einen ausgearbeiteten philosophischen Begriff des Mediums findet man in den Entwürfen der Medienethik in der Regel allerdings nicht. Ein »Medium« ist dort sozusagen die Einzahl von »Medien«, und dieses Wort wiederum wird im Sinne der journalistischen Rede von »den Massenmedien« verwendet (Presse, Radio, Fernsehen und Internet). Als deskriptive Ethik fragt Medienethik, was in der dort gängigen »Medienpraxis« als moralisch gerechtfertigt gilt. Als normative Ethik bewertet sie die Medienpraxis und fragt, welche Werte und Normen hier vernünftigerweise gelten sollten.
Mir geht es nicht um die Darstellung aller Positionen, die gegenwärtig in der Medienethik vertreten werden, sondern um den Versuch, ihre Grundlagen zu skizzieren. Für diese ist es zunächst von elementarer Bedeutung, ob es ihren Vertretern zu zeigen gelingt, dass es überhaupt einer eigenen, bereichsspezifischen Teil-Ethik für mediale Produktion, Distribution, Konsumtion und Applikation bedarf. Werden die hier relevanten moralischen Kriterien nicht bereits in zureichendem Maße von der allgemeinen Ethik reflektiert? Hier scheiden sich die Geister. Im medienethischen Diskurs wird immer wieder auf die Besonderheiten hingewiesen, welche die neuen Kommunikations- und Kulturtechniken mit sich bringen, und zwar unter dem Aspekt der speziellen Verantwortlichkeit, die es in der Herstellung und im Umgang mit Medienprodukten zu beachten gelte.
Eike Bohlken hat vor mehr als zehn Jahren argumentiert, dass die Begründung einer Teilethik für den Medienbereich auf der Basis des Verantwortungsbegriffs nur im Hinblick auf die Medienmacher erfolgen könne, und nicht im Hinblick auf die Nutzer.5 Zwei sehr verbreitete, intuitiv einleuchtend wirkende Argumentationsweisen seien gerade nicht dazu tauglich, eine Verantwortungsethik des Mediengebrauchs zu begründen: der Verweis auf die Informationspflicht der Bürger und die moralische Bewertung medialer Inhalte sowie des Umgangs mit ihnen. Denn die Pflicht, sich angesichts von Handlungsentscheidungen, die stets auch andere und häufig das Gemeinwesen betreffen, sachkundig zu machen, um verantwortungsvoll handeln zu können, lasse sich aus allgemeinen ethischen Grundsätzen ableiten. Und ebenso reichten allgemeine Moralprinzipien völlig aus, um beispielsweise den Konsum menschenverachtender Medieninhalte und -formen negativ zu bewerten und mit guten Gründen zurückzuweisen. Nach Bohlken ist einzig und allein im Hinblick auf die Medienproduzenten von einer spezifischen Verantwortung auszugehen, deren Art und Umfang im Rahmen einer Medienethik auszuarbeiten sei. Denn im Verhältnis von Medienproduzenten und Medienrezipienten fehle jene strukturelle Symmetrie, welche für »die basale Anerkennung des anderen als moralisches Subjekt bzw. als Verantwortungsinstanz«6 vorauszusetzen sei. Wenn moralische Verantwortung verpflichtenden Charakter habe, dann deshalb, weil sie aus der wechselseitigen Verwiesenheit von sozialen Akteuren aufeinander erwachse. Diese allgemeinethische Norm müsse aufgrund der »Asymmetrie der zumeist einwegigen massenmedialen Kommunikation«7 durch bereichsspezifische Anwendungsnormen ergänzt werden. Dann lasse sich postulieren, dass Medienmacher dazu verpflichtet sind, Mediennutzer als moralische Subjekte anzuerkennen.
So weit, so gut – aber muss es nicht auch Begründungen geben, die über den formalen Verweis auf die Unerlässlichkeit wechselseitiger Anerkennung hinausgehen und der Begründung einer Medienethik als Verantwortungsethik inhaltliches Gewicht geben? Im Folgenden werde ich mich, um den entsprechenden Begründungsansatz nachzuzeichnen, hauptsächlich auf den Medienethiker Rüdiger Funiok beziehen. Funiok geht es weniger um ein eigenes medienethisches Argumentationsmodell, als um einen konsensfähigen Extrakt aus der Debatte der letzten zwei Jahrzehnte;8 seine Schriften genießen Anerkennung unter Fachleuten, und seine Arbeit wird auch in der Medienöffentlichkeit wahrgenommen.
Maßstab ist für Funiok und andere »das Gelingen medienvermittelter demokratischer Kommunikation«9, durch die Öffentlichkeit entsteht: eine Sphäre für die Selbstvergewisserung mündiger Menschen über ihre Lebensformen und -inhalte. »In den modernen Massendemokratien«, resümiert Funiok die Sozialgeschichte der Medien,
»ist der Willensbildungsprozess auf die Vermittlung von (repräsentativen) Meinungskundgaben in Zeitungen, später auch im Radio und Fernsehen angewiesen. Die Herstellung von Öffentlichkeit für Themen von allgemeinem Interesse und die kommunikative Legitimierung von politischer Autorität stellen seither eine grundlegende Funktion der Medien dar.«10
Medien haben demnach den »gesellschaftliche[n] Auftrag […] demokratische Meinungsbildung zu ermöglichen und zu fördern«11, damit die gegenwärtige »Mediengesellschaft« eine »demokratische Wissensgesellschaft bleiben oder werden«12 könne. Adressaten der Medienethik sind Personen und Institutionen, die Medien produzieren und verbreiten. Postuliert wird ein Bewusstsein der Verpflichtung zum verantwortlichen Handeln, das Funiok (mit Bernhard Debatin) eine »innere Steuerungsressource«13 nennt. Wenn diese, oder, in traditioneller Terminologie: wenn das Pflichtbewusstsein fehlt, ist das Rechtssystem mit seinen Verboten zuständig. Aber nicht allein das Konzept der Pflicht schaffe Handlungslegitimation, sondern vor allem das der Verantwortung.14 Grundlage der Bewertung ist in der Medienethik also nicht mehr die individualethische Frage, ob »aus Pflicht« gehandelt worden sei, sondern die sozialethische, ob sich jemand für sein Handeln im Hinblick auf legitime Ansprüche anderer verantworten könne. Jeder Medienakteur solle »über die Güte seines Handelns verantwortlich entscheiden«15, heißt es im Handbuch Medienethik aus dem Jahre 2010.
Das Konzept »Verantwortung« stammt bekanntlich aus dem Rechtssystem und hängt mit dem Haftbarmachen eines Täters zusammen. In der Ethik, die es seit geraumer Zeit adoptiert hat, versteht man unter Verantwortung eine »sozialethische Verpflichtung«16, die mit Max Weber17 wie folgt definiert wird: Jeder Akteur muss für die voraussehbaren Folgen des eigenen Handelns aufkommen können. Verantwortung ist im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte allmählich zu einem »Schlüsselbegriff des modernen Lebens geworden«, wie Hans-Ernst Schiller resümiert: »Verantwortung heißt […] Antwort zu geben auf die Anklage, dass man etwas getan hat, was religiösen und moralischen Geboten oder staatlichen Gesetzen widerspricht.«18
Die Medienethik arbeitet dabei nicht mit dem dramatisierten Verantwortungsbegriff von Hans Jonas, der seine Ethik mit dem Verweis auf die »exzessive[…] Größe unserer Macht« begründet hatte. Zwiespältige Errungenschaften wie Atomkraft oder Gentechnologie hätten irreversible Folgen, und daher forderte Jonas »eine neue Art von Demut«19: Wir sollten von Neuem »Ehrfurcht und Schaudern«20 lernen, um uns »vor den Irrwegen unserer Macht [zu] schützen« und »das Gedeihen des Menschen in unverkümmerter Menschlichkeit«21 zu fördern. Für Jonas hieß das: Im nachreligiösen Zeitalter von Wissenschaft und Technik sollte »die Kategorie des Heiligen«22 wieder hergestellt werden: Wir sollten handeln, als ob die Natur ein Heiligtum wäre, vor dem wir uns zu verantworten haben. – Eine höchst zwiespältige Strategie: Das Heilige ist kulturgeschichtlich stets mit Gewalt verbunden und, wenn es authentisch empfunden und nicht bloß künstlich heraufbeschworen wird, mit Angstgefühlen besetzt. »Ehrfurcht und Schaudern« löst das Heilige nur aus, wenn es nicht begriffen wird. Dies ist keine gute Basis für freies, vernunftbestimmtes Handeln – das Heilige als moralische Kategorie passt eher in eine autoritäre Ethik, die das Handeln heteronomen Vorschriften unterwirft, anstatt Wege zu zeigen, wie man zu autonomen Entscheidungen kommt und lernt, »die Verantwortung für sich selbst«23 zu übernehmen.
Zurück zur Medienethik. – Funiok empfiehlt mit Blick auf den neueren philosophischen Verantwortungsdiskurs, die Frage entsprechend zu differenzieren: Wer trägt Verantwortung? Was muss verantwortet werden? Was sind die Folgen, wofür trägt der Handelnde Verantwortung? Wer sind die Betroffenen, wem gegenüber trägt er Verantwortung? Wovor muss er sich verantworten, oder: Welche Instanzen sind zuständig? Das Gewissen, die Öffentlichkeit? Weswegen muss sich der Handelnde verantworten, was sind jeweils die Kriterien, Normen und Werte?24
Bei aller Diversität der einzelnen Positionen steht für die Vertreter der Medienethik eines außer Frage: Der oberste Wert, aus dem heraus der Verantwortungsbegriff seinen spezifischen Sinn erhält, ist die demokratische Öffentlichkeit. Sie ist der Wert schlechthin, die letzte Instanz normativer Orientierung und Kritik. Das halte ich für problematisch. Doch bevor ich ausführe, inwiefern, soll das Konzept der Verantwortung noch etwas genauer betrachtet werden.
In den Massenmedien, sagen die meisten Medienethiker, ist es nicht immer leicht, einzelne Akteure mit Verantwortung zu benennen. Herstellung, Verteilung und Nutzung sind arbeitsteilig und unübersichtlich. Wenn man zunächst bei der Herstellung und Distribution bleibt, stelle sich die Frage, wem ein Medien-Angebot letztlich zuzurechnen ist. Den Journalisten, die Nachrichten und Berichte verfassen? Den Drehbuchautoren und Regisseuren im Bereich der Unterhaltung? Oder den Mitarbeitern einer Werbe- oder PR-Agentur? Und gibt es nicht auch die »strukturellen Akteure« im Mediensystem, also Sender, Verlage, Firmen und Konzerne? Um all dies zu berücksichtigen, unterscheiden Medienethiker analytisch zwischen individueller und korporativer Verantwortung; und sie legen Wert darauf, auch das Problem der »geteilten Verantwortung« zu beachten.25
Das kann man sich anhand von drei Beispielen klarmachen. Ein Fernsehsender verlangt von Mitarbeitern reißerische Berichterstattung, um die Zuschauerquote zu heben, und dies hat zur Folge, dass ein Journalist unseriös mit den Informationsquellen umgeht und die Zuschauer manipuliert. Dies ist insofern ethisch problematisch, als er damit gegen die Verpflichtung verstößt, bei der demokratischen Urteilsbildung zu helfen. Oder nehmen wir an, der Fernsehsender will sensationelle, moralisch bedenkliche Unterhaltung bringen; sein ökonomisches Ziel ist die Erhaltung von Marktmacht, Unternehmensgewinn und Arbeitsplätzen, und das Mittel dazu ist Aufmerksamkeit. Wenn daraufhin ein Bild von der Welt produziert wird, das gegen das verbreitete moralische Empfinden verstößt, weil es menschenverachtend und frauenfeindlich ist, Gewalt verherrlicht und die Weltsicht der Zuschauer, besonders der jugendlichen, negativ beeinflusst, ist das ebenfalls ethisch problematisch. Es hindert Menschen daran, andere in ihrer Andersheit zu respektieren und friedliche Konfliktlösungen anzustreben. Drittes Beispiel: das Foto des verletzten und gedemütigten Jan Philipp Reemtsma, das seine Entführer im Kellerverlies aufgenommen hatten. Es wurde gegen seinen ausdrücklichen Willen in einer Boulevardzeitung veröffentlicht. Das Interesse des Publikums an schauerlichen Details stand gegen den Wunsch des Opfers eines Verbrechens, seine Privatsphäre zu schützen und selbst zu bestimmen, welche Bilder die Öffentlichkeit von ihm kennt.26
In allen Beispielen wird man weder das Unternehmen, dem der Sender oder das Blatt gehört, noch die angestellten Macher von Verantwortung freisprechen können; ganz zu schweigen von den Ermittlungsbeamten, die sich bestechen ließen und das Foto herausgaben. Aber ihre Verantwortlichkeit liegt offenbar auf unterschiedlichen Ebenen. Die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit eines »Großakteurs« unterscheidet sich erheblich von der, die »Kleinakteure« besitzen, und ihre Macht ist, aufgrund unterschiedlicher Reichweite, nicht gleich groß.