Kitabı oku: «Mythen, Macht + Menschen durchschaut!», sayfa 3

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3. September 2013

Nr. 95

Das »System« ist entscheidend

Die Schweiz ist das stabilste Land der Welt. Damit das auch in Zukunft so bleibt, müssen wir ab und zu Schwachpunkte des Erfolgsmodells verbessern.

Gelegentlich wundere ich mich über liebe Mitmenschen, die sich mit Nonchalance und wiederholt über gesetzliche Vorschriften hinwegsetzen, als wären diese nur für Außerirdische gültig. Oder ich staune, wenn ich höre, dass sich Studenten im letzten Semester bereits beim RAV (Regionales Arbeitsvermittlungszentrum) einschreiben, da sie davon ausgehen, keine Stelle zu finden. Dann beschwichtigen mich meine Söhne: »Reg’ dich nicht auf, solange unser System das zulässt, kannst du es nicht ändern.«

Unser politisches »System« ist grundsätzlich gut, so lautet jedenfalls meine persönliche Meinung. Es umfasst die staatlichen Institutionen, die politischen Entscheidungsprozesse und deren Ergebnisse als Summe der Gesetze und Verordnungen im Rahmen eines ausgeprägten Föderalismus.

In der wissenschaftlichen Theorie gibt es verschiedene Erkenntnisse für Gütezeichen unterschiedlicher Systeme. So verficht etwa James Robinson (Harvard) die Idee, dass die politischen Institutionen bestimmen, ob ein Land arm oder reich ist. Wohlhabende Länder zeichnen sich dadurch aus, dass sie über Institutionen verfügen, die allen offenstehen. Es sind pluralistische Systeme, die den Unternehmergeist fördern und die individuellen Rechte schützen. Das Gegenteil: Die Macht im Land gehört einigen wenigen – Armut ist meistens, Bürgerkriege sind nicht selten die Folge. Für diese Diskrepanz ist die Politik verantwortlich.

Gesellschaftsordnungen, die Menschen weitgehende, persönliche Entscheidungen ermöglichen, nennt Karl R. Popper Offene Gesellschaften, im Gegensatz zu Geschlossenen Gesellschaften, deren Ausrichtung auf einem umfassenden Kollektivismus basiert. Das offene System ist demnach vergleichbar mit einem lebenden Organismus, beruht auf einem ganzheitlichen Weltbild und einem gesunden Individualismus.

Jared Diamond, Evolutionsbiologe und Physiologe (UCLA), entwickelte seine Theorie auf der Basis von Beobachtungen in vergangenen Zeiten. Danach führten verschiedentlich Übernutzung der Umwelt respektive falsche Reaktionen auf allgemeine Umweltveränderungen zu gesellschaftlichen Zusammenbrüchen. Das sture Festhalten am Status quo (»es war doch immer so und wir sind gut damit gefahren!«) kann zum Kollaps des Systems führen, wenn wichtige Entscheidungsprozesse in Gruppen oder Gesellschaften versagen.

Die Schweiz sei das stabilste Land der Welt, meinte kürzlich der weltbekannte Essayist und Finanzmathematiker Nassim Nicholas Taleb. Warum? Weil es keine Regierung habe, lautete die Antwort. Nun, da fühlte sich unser Bundesrat wohl nicht gerade geschmeichelt. Der stets etwas übertreibende Gesellschaftsbeobachter, der unser Land recht gut kennt, meinte mit seinem Urteil, dass wir nicht auf Gedeih und Verderb einer Zentralregierung ausgeliefert wären, sondern dass unser Gemeinwesen von unten nach oben strukturiert sei, föderalistisch eben. Wir könnten also unsere Zukunft selbst bestimmen.

Bevor wir in ausgelassene Feststimmung verfallen, sollten wir definieren, wie wir diesem Modell dazu verhelfen können, dass es auch in Zukunft Bestand haben wird. Fragen wir uns zuerst, was uns zu diesem Spitzenplatz verholfen hat: eine liberale Wirtschaftsordnung, zurückhaltende staatliche Regulierung, auf Sicherheit ausgerichtete Finanzpolitik und wohl auch ein gewisser Sinn für Gemeinwohl und Gerechtigkeit? Fragen wir uns anschließend, was in letzter Zeit falsch gelaufen ist: Einer überbordenden neoliberalen Wirtschaftselite begegnet die Gesellschaft mit dem Ruf nach verstärkter staatlicher Regulierung. Unsere Finanzpolitik ist unter Druck geraten, da sie zu wenig vorausschauend ist. An die Stelle persönlicher Selbstverantwortung und Solidarität ist für viele der Sozialstaat getreten.

Generell fördert unser föderalistisches System die Tendenz, Probleme auf die lange Bank zu schieben. Stellvertretend für einige andere sollen hier einige Themen aufgeführt werden. Wir kennen sie seit Jahren, wir umkreisen sie:

– Eine AHV, die nicht von der Hand in den Mund lebt

– Mehr Selbstverantwortung statt Ruf nach dem Sozialstaat

– Ein Freizügigkeitsabkommen mit der EU, bei dem Vorteile und Nachteile möglichst ausgewogen sind, und eine Einwanderungspolitik, die ehrlich daherkommt

– Eine Asylpolitik, die nicht von »man sollte«, sondern von »wir entscheiden« lebt

1948 eingeführt, haben sich seither mehr als zwei Generationen daran gewöhnt, ab 65 Jahren (Männer) respektive 64 Jahren (Frauen heute) eine staatliche Rente zu bekommen. 1948 lag die Lebenserwartung bei ungefähr 66 respektive 69 Jahren. Die demografische Entwicklung führt heute dazu, dass das Grundprinzip der generationenübergreifenden Solidarität aus den Fugen gerät. Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit respektive die Erhöhung des Rentenalters müssten längst in die nachhaltige Planung der AHV-Zukunft einfließen. Es genügt nicht, wenn Politiker besänftigen: Noch schreibt die AHV Überschüsse!

Die Ausgaben für soziale Wohlfahrt steigen von Jahr zu Jahr, parallel dazu steigt die Anspruchsmentalität. Längst haben sich viele Menschen in der Schweiz daran gewöhnt, dass der Staat den gewohnten Lebensstandard finanziert, sollten die Eigenmittel nicht reichen. Wussten Sie, dass eben dieser Staat mittlerweile jährlich über vier Milliarden Franken allein für Prämienverbilligungen der obligatorischen Krankenversicherung ausgibt? Eigenartig: Selbstbestimmung ist für uns im Alltag wichtig und selbstverständlich. Warum nicht konsequent? Dieser Trend ist ungemütlich.

In den letzten 10 Jahren betrug die jährliche Nettozuwanderung in die Schweiz durchschnittlich 62’000 Personen und in der Folge hat sich das Wirtschaftswachstum erhöht. Die Bundesverwaltung kommentiert regelmäßig die Situation. Sie hat dazu in den letzten Jahren ein halbes Dutzend akademischer Untersuchungen erstellen lassen. Fazit: Die Befunde sind nicht einheitlich (wen wundert’s?). Was wir vergebens suchen, sind Untersuchungen über die Folgen dieses bejubelten Wirtschaftswachstums – die starke Einwanderung hinterlässt offensichtlich in vielen anderen Bereichen ihre Spuren. Nicht zur Diskussion steht, dass die Schweiz auf Zuwanderer mit hoher Qualifikation angewiesen ist. Doch die Folgen sollte das Bundesamt – angesichts des verbreiteten Unbehagens in der Bevölkerung über die starke Einwanderung – nicht verschweigen.

Zu offensichtlich ist in den letzten Jahren dieser versteckte Zusammenhang geworden: Wir erstellen jährlich ziemlich genau für so viele Menschen Neubauwohnungen, wie die Zuwanderung sie ausweist. Die sichtbaren Folgen: Bauwut, Verschandelung der Natur, Wohnungsnot, explodierende Immobilienpreise und -mieten, Verkehrsstau, überfüllte Pendlerzüge, die Liste lässt sich verlängern. Wer definiert in Bern nächstens das Verhältnis zwischen Gewinnern und Verlierern der Zuwanderung?

Simonetta Sommaruga ist wahrlich nicht zu beneiden. Seit Monaten fordert die Justizministerin ein beschleunigtes Asylverfahren. Heute dauert dieses von der Einreichung eines (unberechtigten) Asylgesuches bis zu dessen Ablehnung fast vier Jahre. Man muss sich das konkret vorstellen: Ein erster negativer Entscheid kann mit einer Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (gemäß TA blieb ein konkret untersuchter Fall dort während 21 Monaten liegen) weitergezogen werden. Wird sie dort abgelehnt, kann ein Wiedererwägungsgesuch eingereicht werden. Die Zahl dieser Gesuche steigt kontinuierlich. Rund ein Viertel davon führt anschließend zu einer vorläufigen Aufnahme, der Rest zur Ablehnung oder Wegweisung. Bis die nötigen Ausweispapiere besorgt sind, tauchen die Abgewiesenen häufig unter. Oder die Behörden kommen zum Schluss, dass nach so langer Zeit eine Ausschaffung nicht mehr zumutbar wäre.

Die Diskussion um zu lange Asylverfahren hören wir seit vielen Jahren; man sollte diese ändern, heißt es in Bern. Der ehemalige Chef des Bundesamts für Flüchtlinge, Jean-Daniel Gerber, hält die aktuellen Schwierigkeiten in der Asylpolitik für unlösbar. Sind sie eigentlich gar systembedingt? Wer entscheidet darüber?

Der moderne Bundesstaat mit seiner föderalistischen Staatsstruktur ist eine gute Sache. Auf der offiziellen Homepage des Bundes erklärt die Bundeskanzlerin unser System ausführlich und sie erklärt auch eines der wichtigsten Ziele der laufenden Legislaturperiode: Die Schweiz muss ihre Wettbewerbsfähigkeit beibehalten, z.B. in der Wirtschaft, Bildung, Forschung.

Damit das auch in Zukunft so bleibt, sind ab und zu Fehlentwicklungen zu korrigieren. Wir sind ein Volk mit vielen Rechten und Pflichten, viel mehr als in anderen Staaten. Wir können unser System, zumindest indirekt, selbst bestimmen.

24. August 2013

Nr. 94

Wachstum: Doping mit schädlichen Langzeitfolgen?

Immer weniger funktioniert das Medikament »Wirtschaftswachstum« als eine Art Perpetuum mobile für ewig wachsenden Wohlstandsgewinn. Was wird passieren, wenn Wachstum irgendwann ausbleibt? Einfach so?

»Wachstum muss her!«, rufen die Staats- und Regierungschefs der EU seit Jahren verzweifelt. Das Dogma »Wachstum des Bruttoinlandprodukts« entwickelt sich mittlerweile bei den Regierungen dieser Welt zu einem absurden Wettrennen – vergleichbar jenem der von ihrer eigenen Geschwindigkeit berauschten Jugendlichen am Steuer. »Wenn wir wachsen wollen, brauchen wir mehr Leute, welche dieses Wachstum mittragen«, doziert der Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes. Der globalisierte Rohstoffhandel mit Steuersitz in der Schweiz treibt die Konjunkturdaten des Landes in die Höhe. »Illusion von Wachstumswunder« titelt die Handelszeitung.

Der Westen forciert seit Jahren Wachstum mit dem Auftürmen von Schuldenbergen. Damit überpinseln die Verantwortungsträger die wirtschaftspolitischen Dummheiten eines Zeitalters, in dem Wachstumskapitalismus als Ersatzreligion seine Anhänger glauben lässt, wie einst die Päpste im Mittelalter ihre Schäflein. Menschen wachsen; physisch in ihrer Jugend, da und dort wachsen sie später verstandes- und gefühlsmäßig noch eine Weile weiter. Die Grenzen des Wachstums sind wohlbekannt und akzeptiert. Nur in der Wirtschaft soll – gemäß Wirtschaftsgrößen und politischen Machtzentren – das Wachstum ewig weitergehen. Verblendung ist eine passende Bezeichnung für diesen Zustand. Wann hören wir endlich auf, zu glauben?

Die Wachstumsdiskussion ist schwierig. An dieser Stelle ist nicht die Rede von asiatischen, südamerikanischen und afrikanischen Ländern, die teilweise kontinentale Dimensionen einnehmen. Wie sich diese Regionen entwickeln, entzieht sich nicht nur unserer Einflussnahme (dereinst werden sie allerdings vor den gleichen Fragen stehen wie wir heute); China, Indien, Brasilien etwa weisen eine Eigendynamik auf, die sich heute gänzlich von der unsrigen unterscheidet.

Fokussieren wir uns hier auf die »alten« westlichen Industrienationen. Frau Merkel sagt: »Europa braucht mehr Wirtschaftswachstum.« »Die Wachstumsraten unserer Volkswirtschaft müssen wieder steigen«, doppelt der Kanzlerkandidat Steinbrück nach. Finanzkrise, Eurokrise, Schuldenkrise – der Refrain lautet: mehr Umsatz, mehr Gewinn, mehr Wachstum! Doch damit die Wirtschaft wächst, muss irgendjemand all die neuen Waren kaufen. Irgendjemand – und wenn dieser Phantommensch in vielen westlichen Wohlstandsländern schon alles hat? Auch der persönliche Vorzeigestatus als Intelligenzersatz ist irgendwann einmal gesättigt. »Wir brauchen die Einwanderung in der Schweiz, sie trägt zum Wachstum der Wirtschaft bei« und »die Vorteile der Öffnung des Arbeitsmarktes müssen der Bevölkerung besser erklärt werden«, rät der ehemalige Direktor des Arbeitgeberverbandes. »Es ist zu hoffen, dass sich Europa endlich aus seinem Wachstumsstau lösen wird«, rät der Asienkenner der NZZ.

Und die Nachteile? Darüber schweigt des Sängers Höflichkeit. Sind wir gar auf einem Auge blind? Ein Schweizer Autor riet seinen Landsleuten zum 1. August 2012, »die zwingende Überzeugung, dass ohne den Kraftakt zur Wachstumssteigerung der vermeintlich sichere Besitzstand bedroht ist«, müsse gestärkt werden. Guter Rat in dieser verzwickten Situation ist offensichtlich teuer und entpuppt sich ab und zu gar als Beipackzettel eines verwechselten Medikamentes.

Wirtschaftswachstum als Verheißung des Paradieses ist nur die eine Seite der Medaille. Sie glänzt in der Sonne, sie widerspiegelt die vermeintliche Lösung eines der wichtigsten Probleme unserer Wohlstandsdemokratien. Es scheint, als ob sich Europas und Amerikas Mächtige alle einig wären: »Nur Wachstumsprogramme können die explodierende Arbeitslosigkeit eindämmen und verhindern, dass nicht ganze Länder kollektiv in der Rezession versinken.« Dazu werden die Märkte geflutet mit Geld, das laufend gedruckt wird. Heute ist heute, Inflation ist morgen …

Die Rückseite der Medaille liegt im Dunkeln. Der heutige Kapitalismus beschert uns Umweltschäden und Schulden, neben Anspruchsmentalität und Wohlstand.

Auch wenn in Bonn, Brüssel oder Washington D.C. in den Tagesagenden der hohen Verantwortungsträger das Traktandum fehlt, es ist drängend: Wie könnte eine Wirtschaft ohne Wachstum funktionieren? Könnte sie überhaupt? Diese und ähnliche Fragen sollten wir uns heute stellen. Stellvertretend für Kollegen aus aller Welt erinnert der kanadische Ökonom William Rees an diese Binsenwahrheit: Unser Globus ist rund und endlich. Die Wirtschaft ist ein Teil dieser begrenzten Welt. Die seit Jahren steil nach oben weisende, nicht enden wollende Wachstumskurve ist nicht nachhaltig und sie beruht auf einer falschen Annahme. In einer endlichen Welt könne kein Subsystem unendlich wachsen, meint er, der seit Jahren forscht. Postwachstumswirtschaft – steady state economy – heißt diese Disziplin. Postwachstumsökonomen gibt es mittlerweile auch in Deutschland und Frankreich; in der Schweiz war Hans Christoph Binswanger (Uni St. Gallen) bis zu seiner Emeritierung ein Pionier der ersten Stunde, vorrangig damit beschäftigt, einen möglichen Umbau des Finanzmarktes zu bewirken.

Tomas Sedlacek, tschechischer Ökonomieprofessor, einem breiteren Publikum seit 2012 bekannt durch sein Buch »Die Ökonomie von Gut und Böse«, schrieb darin: »Wir müssen das generelle Ziel der Wirtschaftspolitik ändern – statt MaxGDP muss es MinDebt heißen, statt Maximierung des BIP Minimierung der Schulden.« Das unumstrittene Mantra unserer Generation war »MaxGrowth (Maximierung des Wachstums um jeden Preis, Schulden, Überhitzung, Arbeitsüberlastung)«. Das heißt wohl, dass wir uns alle vernünftigere Ziele setzen sollten. Am Fuße des Monte Verità in Ascona führten drei große Denker im Frühling 2013 ein Gespräch zu Utopien. Sedlacek, einer der Teilnehmer (neben John Gray und Nassim Nicholas Taleb): »Wir müssen nicht den Menschen ändern, sondern die ökonomischen Theorien, die sein Verhalten angeblich abbilden, es in Wahrheit jedoch konditionieren. Die Ökonomie ist zu einem Fetisch geworden. Die Utopie von heute ist ständiges Wachstum. Das ständige Wachstum hat mittlerweile die Züge eines religiösen Glaubens angenommen« (Schweizer Monat, Ausgabe 1008).

Ökonomen, Politiker, ja die ganze Gesellschaft, wir sind alle gefordert. An erster Stelle wohl die Ökonomen, jene an den Universitäten und jene im Tagesgeschäft. Nicht wenige von ihnen ignorieren gerne das Thema »Stagnation des Wirtschaftswachstums« ganz nach dem Motto: Was nicht sein kann, darf nicht sein. Menschen ändern ungern ihre Meinungen, das ist bekannt. »Instinktfalle« nennen das die Neurologen. Wir tendieren dazu, bei unseren alten Meinungen zu verharren, auch wenn viele neue Faktoren dagegen sprechen. Da sind die Exponenten der Finanzindustrie gefordert. Diese funktionierte in den letzten Jahrzehnten nicht rational, wie man uns weismachen wollte, eher verstieg sich dieser Zweig der Nationalökonomie in längst überwunden geglaubte Sphären. Sie mutierte zurück zu einer Art Religion (religio = zurück) – einem Weltbild des Mittelalters. In den Himmel kommen ihre Gefolgsleute allerdings nicht.

Halten wir uns vor Augen: Zwischen Christi Geburt und dem Jahr 1820 ist das Durchschnittseinkommen der Menschen nur um die Hälfte gestiegen. Ein Wachstum in dieser Größe haben wir in einigen europäischen Ländern, darunter der Schweiz, in den vergangenen 25 Jahren realisiert. Dieses enorme Wachstum beruht auf einem hohen Verbrauch natürlicher Ressourcen.

Wird das Wirtschaftswachstum der Zukunft aus anderen Quellen alimentiert werden? Ein wichtiger Rohstoff ist Wissen. Im Gegensatz zu anderen Ressourcen ist Wissen nicht endlich. Wenn wir heute nicht wissen, worin zukünftige Lösungen bestehen werden: Die Forschung nach – zumindest weniger ökologisch belastenden – Impulsen beruht auf einer Denkwende und diese auf neuem Wissen.

Für unser Land im Speziellen stellt sich die Frage, ob und wie lange wir die Zuwanderung als eine Art Perpetuum mobile verstehen, einem einlullenden Konstrukt »Wachstum generierenden Wohlstandstreibers«. Ein Dilemma, das wir nicht gedankenlos der nächsten Generation überlassen sollten. Vorerst halten Illusionen die Motivation für Wachstum – dem Doping unserer Zeit – aufrecht und gleichzeitig den gut geschmierten Wachstumsmotor in Gang. Sind Illusionen einmal verflogen, kommen sie nicht wieder.

Peter Sloterdijk meinte 2011, dass wir weltweit der Frage nachzugehen hätten, wie die Leerformel vom unbegrenzten Wirtschaftswachstum, diese Wunsch-Praktiken auf der Basis der modernen Ökonomie, mit dem Überleben der Gattung auf dem Planeten verträglich wäre.

Wir sind alle gefordert. Nachdenken ist nicht umweltbelastend und nicht Bestandteil des Bruttosozialprodukts. Trotzdem ist nur die Gesellschaft als Ganzes in der Lage, eine Trend- und Denkwende zu bewirken.

14. August 2013

Nr. 93

Die Macht des Wortes

Philosophisches Update nach 2500 Jahren (Teil 6)

Erfolgreiche Politiker bedienen sich der Rederezepte aus dem antiken Griechenland. Mit persönlichem Erfolg, jedoch nicht immer zum Wohl des Landes.

(In loser Folge sind diese Updates jeweils auf eine herausragende Figur der Antike fokussiert und sollen auf besonders aktuelle Bezüge zur Gegenwart hinweisen.)

Demosthenes von Athen gilt als bedeutendster Redner der Antike. Seine Reden aus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert waren über zwei Jahrtausende fester Bestandteil des abendländischen Bildungskanons. Neben Perikles, dem Strategen, ist der Rückblick auf diese eher tragische Figur aus drei Gründen besonders aufschlussreich:

– Entscheidende Macht des Wortes

– Fatale Polarisierung zwischen zwei Parteilagern

– Inflationsgefahr als Folge der Geldmengenausweitung

Es geht ja bei diesen Updates in erster Linie darum, festzustellen, was die Welt des 21. Jahrhunderts als Relikte jener die Demokratie prägenden Zeit auffindet. Und was nach über 2000 Jahren als Erkenntnis heute noch geortet, gelobt oder verdrängt wird. Geradezu überraschend ist die Entdeckung, dass clevere Politiker sich heute mit großem Erfolg nach den Regeln ihrer antiken Redner-Vordenker verhalten. In jedem europäischen Land gibt es sie ja, in Deutschland rufen sie nach der Kavallerie, in der Schweiz – besonders laut polternd – nach »Sicherheit für alle«. In Italien – ach, lassen wir das.

Bevor die drei oben genannten Gründe beleuchtet werden, ist dem Weg Demosthenes’ zum Meister der Rhetorik nachzugehen. Der begnadete Redner investierte in jungen Jahren viel Geld in ein spezielles Trainingsprogramm, um dereinst den Herausforderungen der politischen Agora gewachsen zu sein. Bei seinem Joggingtraining machte er Sprechübungen und deklamierte lange Texte mit einem Kieselstein im Mund. Damit legte er den Grundstein zum Redenschreiber, der ersten Station auf dem Weg zum erfolgreichen, öffentlich auftretenden Rhetores. Im Unterschied zu weniger redegewandten Politikern – diese mussten die eingekauften Reden vor ihrem Auftritt auswendig lernen – brillierte Demosthenes später mit Eigenproduktionen. Die ersten Auftritte erfolgten in Zivilprozessen. »Der Sprecher hatte sich als einfacher und ruhiger, im Gerichtswesen unerfahrener Bürger vorzustellen. Zornige, persönliche Attacken auf den Prozessgegner waren unerlässlich, wobei es bei der Pointierung weitaus weniger auf den Wahrheitsgehalt als auf den aktuellen Unterhaltungswert ankam. […] Zusammenfassung der gesamten Argumentation und ein gut inszenierter Appell an die Emotionen der Richter durften nicht fehlen« (Gustav Adolf Lehmann: »Demosthenes von Athen. Ein Leben für die Freiheit«). Mit der Politik vertraute Schweizerinnen und Schweizer entdecken da zweifellos die Parallelen zu heutigen Redenschreibern, auch mit universitärem Hintergrund.

Die entscheidende Macht des Wortes

Wer als Politiker reüssieren wollte, musste also reden können, ausgezeichnet, polemisch, faszinierend. Seine Gesellenstücke lieferte Demosthenes mit Anklagen gegen Spitzenpolitiker (heute: »die da oben«). Gestritten wurde u.a. über … die Reform des Sozialstaates.

Fatale Polarisierung zwischen zwei Parteilagern

In den 350er-Jahren waren Politik und Öffentlichkeit von einer für das Gemeinwohl fatalen Polarisierung zwischen zwei Parteilagern erfasst worden, die sich gegenseitig blockierten. Demosthenes distanzierte sich deutlich und grundsätzlich von dieser Haltung. Er erkannte die Systemwidrigkeit einer ausgeprägten und dauerhaften polarisierenden Lagerbildung im Rahmen einer direkten Demokratie. Diese wäre – so fand er – auf eine kontinuierliche und loyale Zusammenarbeit aller Kräfte und einen beständigen, offenen Wettbewerb unter ihren Politikern besonders angewiesen. Dass man sich in Athen schon in der Ära Perikles gegen den Versuch einer politischen Fraktionsbildung in den Versammlungen gewehrt hatte – eine interessante Erkenntnis, auch heute noch.

Inflationsgefahr als Folge der Geldmengenausweitung

In unserer Zeit, da Nationalbanken und europäische Rettungsschirme Milliarden in die darbenden Volkswirtschaften pumpen, ist eine Passage in den historischen Unterlagen besonders brisant. In den frühen 350er-Jahren wurden Athen und ganz Hellas von den Spätfolgen des Alexanderzugs in Mitleidenschaft gezogen. (Heute würden wir sagen: Die Vergangenheit hatte sie eingeholt.) Alexander der Große hatte die von den Persern angelegten gewaltigen Goldvorräte planmässig ausmünzen und in den Wirtschaftskreislauf einfließen lassen. Diese Maßnahme, vorerst hochgepriesen aus Kreisen der Geldwirtschaft und des Kreditwesens (heute Groß- und Investmentbanken genannt), hatte sich als äußerst segensreich und belebend ausgewirkt. In der Folge führte sie jedoch in der griechischen Staatswelt zu einem raschen, allgemeinen Anstieg des Preisniveaus, Teuerung grassierte (heute Inflation genannt). Importgetreide und einzelne Lebensmittel wurden zudem Mangelware, da sie in neu entstandene Verbrauchermärkte geflossen waren (heute Importsog aufstrebender Märkte).

War Demosthenes ein verantwortungsbewusster, weitsichtiger Politiker und geschickter Taktiker, der flexibel auf immer neue Herausforderungen reagierte? Dem politische Lagerbildung zuwider war und der eine lösungsorientierte Zusammenarbeit aller demokratischen Kräfte forderte? Oder war er der glücklose Verteidiger von Freiheit und Demokratie, wie es auf der Bronzestatue hieß, die 35 Jahre nach seinem Tod auf dem Marktplatz von Athen zu seinen Ehren errichtet wurde?

Jedenfalls ging er als »der Redner« in die Geschichte ein, weniger als Staatsmann. Um sich seiner Verhaftung zu entziehen, beging Demosthenes Selbstmord, indem er ein schnell wirkendes Gift trank.

»Nichts ist leichter als Selbstbetrug, denn was ein Mensch für wahr haben möchte, hält er auch für wahr«, soll er einst gesagt haben.