Kitabı oku: «Die letzte Kränkung»
Christopher Ecker
Die letzte Kränkung
Roman
mitteldeutscher verlag
Inhalt
Cover
Titel
Die letzte Kränkung
Pressestimmen zu Christopher Eckers Roman Fahlmann
Impressum
Mein Name tut nichts zur Sache. Ich bin niemandes Freund. Wer auch immer dies lesen mag, wird also nicht mein Freund sein. Dennoch oder gerade deshalb möchte ich Euch, auch wenn Ihr falsche Schlüsse daraus ziehen könntet, berichten, was sich im zweiten Jahr des Krieges zutrug, als ich gezwungen war, mich in einem dieser kleinen, nur selten auf Karten verzeichneten bretonischen Fischerdörfer aufzuhalten: ein vom Hafen aus den Fels erklimmendes Netzwerk enger Gässchen zwischen gedrungen wirkenden Steinhäusern, eine wehrhafte gotische Kirche aus demselben grauen Granit mit beklemmend drastischen Darstellungen der Passion Christi über der Holztür, zwei ehemals weiß getünchte Hotels, in denen nur selten Gäste abstiegen, und natürlich ein malerisches Café am Hafen.
Dass ich hier kein Aufsehen erregte, wäre gelogen, aber ich sprach dank einer vorzüglichen Gouvernante, die, soweit ich mich erinnere, aus der Nähe von Bordeaux stammte, und wegen einer jugendlichen Vorliebe für gewisse in der Heimat als frivol oder zumindest unbekümmert geltende Dichter und Philosophen, die ich im Original zu lesen pflegte, so gut französisch, dass man in mir keinen Deutschen, sondern eher einen, wie ich mir gerne beim Wein vorstellte, desertierten Elsässer vermutete oder einen Widerstandskämpfer, der sich fern der Front verborgen hielt und auf Befehle wartete. Diese Vorstellung war selbstverständlich naiv, aber man behelligte mich nicht, hatte selbst bei meiner nächtlichen Ankunft mit einem Ruderboot, das inzwischen vertäut am Hafen lag, keine Fragen gestellt, und bei den zufälligen Begegnungen etwa mit Ladenbesitzern, Marktleuten, Spaziergängern, dem Dorfgendarmen, dem Arzt, dem Pfarrer oder auch im Umgang mit den Fischern oder ihren betagten Vätern im Café spürte ich einen beinahe unterwürfigen Respekt, als bewunderten die Dorfbewohner eine Eigenschaft an mir, die sie nicht hatten oder gerne hätten oder die ihnen so außergewöhnlich vorkam, dass man sich Menschen mit dieser Eigenschaft nur mit einer gewissen Scheu nähern durfte.
Ich bewohnte, ohne jemals zum Bezahlen aufgefordert worden zu sein, ein karg möbliertes Zimmer im billigeren der beiden Hotels und wartete seit Monaten darauf, dass man Kontakt aufnahm und mir Instruktionen gab. Das Warten zermürbte mich. Selbst ein Leben in andauerndem Schrecken ist dem Stillstand vorzuziehen. Und so begann ich bereits am späten Vormittag zu trinken und dachte wie jeder, der zu viel Zeit hat und gezwungen ist, diese alleine trinkend zu verbringen, mehr nach, als gut für mich war.
Ich stellte mir Fragen: Wieso erfüllt mich seit einigen Tagen das Auf und Ab der Schiffe an der Mole mit Traurigkeit? Weil es mich daran erinnert, wie Du friedlich schlafend neben mir im Bett lagst? Und weshalb rührt mich die Ernsthaftigkeit dieses Kindes, das dort drüben angelnd auf den Stufen jener ins tiefgrüne Wasser hinabführenden Steintreppe hockt? Und was soll ich tun, wenn Du, wie der Holländer behauptet, nicht tot bist?
Unvermittelt erinnerte ich mich daran, gehört oder gelesen zu haben, dass es in Dänemark einen Leuchtturm gebe, den die Dünen fast völlig unter sich begraben hätten. Hier in der Nähe jedoch hatte der Sand ganze Dörfer verschlungen, und nur die Kirchturmspitzen ragten aus den Dünen wie Bojen und kündeten von besseren Zeiten. Glockengeläut. Ich fuhr aus meinen Gedanken auf, und das Abendläuten machte den Hafen zum wirklichen Ort einer fassbaren Welt, in der Zeit verstrich, während man angelnden Kindern zusah und ein Glas Rotwein nach dem anderen trank, einer Welt, in der Schiffe abfahren, um wieder anzukommen, und ankommen, um wieder abzufahren, und nicht um dem Trinkenden zu bedeuten, wie vergebens all seine Hoffnungen und Erwartungen sind.
Ich legte einen Geldschein auf den Tisch, beschwerte ihn mit dem Weinglas, nickte den Fischern an den Nachbartischen zu und drehte mich selbst dann nicht um, als hinter mir etwas klirrend auf dem Pflaster vor dem Café zerschellte. Ich bemühte mich, in aufrechter Haltung davonzugehen, damit niemand merkte, wie angeschlagen ich war. Dabei sah ich mit der bedeutungsgierigen Sentimentalität des Betrunkenen aufs Meer hinaus, diesen gewaltigen Spiegel, den ein zur Mole hin ansteigender Sandstreifen begrenzte. Direkt unter mir, an den grauen Stein gedrückt, verrottete ein kniehoher Wulst angeschwemmter Algen, auf denen so viele Sandflöhe sprangen, dass die Luft zu flirren schien.
Ich folgte einige Meter der rissigen Mole und schwenkte dann mit einer brüsken Bewegung, für die ich mich selbst verfluchte, in einen schmalen Gang zwischen zwei Häusern. Hier verschnaufte ich ungesehen, den Rücken an der einen, die Stirn an der anderen Hauswand. Aus der Richtung des Cafés hörte man Rufe, Gelächter. Eigentlich könnte es mir gleichgültig sein, was man über mich dachte. Dass dem nicht so war, verstand ich nicht.
Auf dem Weg zum Hotel trat der Holländer aus dem Schatten eines Hauseingangs und hielt mich am Ärmel fest.
„Wir müssen reden“, sagte er in fast akzentfreiem Deutsch.
„Worüber?“, fragte ich und schüttelte seine Hand von meinem Arm.
„Wir wissen, was Sie in Ihrem Zimmer verstecken. Oder besser gesagt“, er kniff die Augen zusammen, als blickte er in grelles Licht, „was sich in Ihrem Zimmer befindet.“
Ich sah ihn ausdruckslos an, versuchte Zeit zu gewinnen. Er hatte schon vor meiner Ankunft im teureren der beiden Hotels gewohnt, von dessen Terrasse aus man die ganze Bucht überblickte. Er war ein hochgewachsener Mann mit rotem, rundem Gesicht und flachsblonden Haaren und Augenbrauen. Er trug ausschließlich weiße Anzüge und hatte stets, was mir denkbar unpassend erschien, einen goldenen Ring im linken Ohrläppchen. Hinter ihm konnte ich durch den Spalt zwischen zwei Steinhäusern, deren Fensterläden geschlossen waren, einen Teil der Bucht sehen: das dunkle Wasser, die heimkehrenden Boote in der Abendsonne, das Spiel der Möwen.
„Ich weiß nicht, wovon Sie reden“, sagte ich.
„Wir wollen Ihnen nur helfen. Mehr nicht.“
„Das sagen alle. Alle wollen einem nur helfen.“ Ich stieg weiter die Gasse zur Kirche empor. Er folgte mir. Ich fuhr herum und stieß ihm mit dem ausgestreckten Zeigefinger vor die Brust. „Ich kann Ihr Gerede nicht mehr ertragen. Wer sind diese mysteriösen ‚wir‘?“ Meine Stimme klang schrill. „Was wollen Sie von mir? Wissen Sie was? Wahrscheinlich sind Sie nur ein armer Mann, den die Einsamkeit und der Aufenthalt in der Fremde wunderlich haben werden lassen. Hören Sie: Ich weiß wirklich nicht, was Sie von mir wollen!“
„Und doch ist es in Ihrem Zimmer“, sagte er in vergnügtem Tonfall und ging mit munteren, weit ausholenden Schritten in Richtung Hafen davon. Jetzt fehlt nur noch, dass er zu pfeifen beginnt, dachte ich, und kaum hatte ihn eine Windung der Gasse meiner Sicht entzogen, hörte ich in der Tat das triumphierende, unanständig selbstgerechte Pfeifen der einzigen Person, die hier eine Gefahr für mich darstellte.
Pfeif du nur!, dachte ich. Sobald du mir in die Quere kommst oder ein einziges Mal mein Zimmer betrittst, hat sich’s ausgepfiffen.
Ich erreichte den Marktplatz. Hier standen beide Hotels, die angeblich von verfeindeten Brüdern geführt wurden, gegenüber der Kirche, die, was mich faszinierte, unterschiedliche Türme hatte: Der eine war klobig, plump und behielt die quadratische Grundfläche bis zur Spitze bei, wo er mit einer Plattform abschloss, zu der an gewissen Festtagen die Frauen und Mädchen des Dorfes in traditioneller Tracht hinaufstiegen, um Lieder zu singen, die mir nicht christlich erschienen, der andere Turm dagegen war deutlich höher, eleganter und ihn krönte ein schlanker, spitzer, durchbrochener Helm, in dem, wie es typisch für die Bretagne ist, sichtbar die Glocken hingen. An sonnigen Tagen verspürte ich oft das Verlangen, auf den plumpen Turm hinaufzusteigen, hatte es aber nie getan, weil ich trotz intensiver Selbstbefragung nicht wusste, weshalb ich hinaufsteigen wollte. Die Aussicht interessierte mich wenig. Ich hatte Luftaufnahmen des Dorfes und der Bucht studiert. Ich kannte jeden Fels, an dem vor dem natürlichen Hafenbecken die Gischt in weißen Wolken emporstob und als Nebel über dem Wasser davontrieb. Warum also auf diesen bestimmten Turm steigen? Und wieso überhaupt auf Türme steigen, war doch die einzige Bestimmung des Menschen das Hinein und das Hinab.
Rudolphe, in Personalunion Concierge, Putzfrau, Zimmermädchen, Koch und, wie ich argwöhnte, auch Besitzer des Hotels, sprang schwerfällig auf, als ich das Foyer betrat. Er nahm meinen Schlüssel vom Bord und legte ihn so behutsam, als wäre er aus Glas, in meine Hand. Dann nahm er wieder auf dem niedrigen Schemel hinter dem Tresen der Rezeption Platz, sodass man nur noch seinen im aufgeblähten Oberkörper versinkenden, schnaufenden Kopf mit den schlaffen Wangen und dieser Gänsehaut an Doppelkinn und Halsansatz sah, die sich nur bei dicken Menschen findet. Ich mochte den jungen Mann. Obwohl ich der einzige Gast war, behandelte er mich stets zuvorkommend. So hatte er mir, als ich einige Tage lang krank war, Wadenwickel gemacht, feuchte Lappen auf die Stirn gelegt und sogar eine ganze Nacht, in der ich delirierte, wachend an meinem Bett gesessen.
Ich schloss die Hand um den Schlüssel. Natürlich wollte ich sofort hinauf in mein Zimmer, aber etwas ließ mich innehalten. Rudolphe machte den Eindruck, als habe er mir etwas zu sagen. Neben seinem übergroßen Gesicht stand ein Karton aus fester, brauner Pappe, in dem es raschelte und kratzte. Ich wartete, dass Rudolphe endlich zu sprechen begann, und betrachtete derweil die Flecken auf seinem Unterhemd, die öligen, über die Glatze gekämmten Haarsträhnen, die fleischigen Unterarme mit den bläulich-grün verschwommenen Tätowierungen, die eitrig entzündeten Hautunreinheiten auf den behaarten Schultern. Ich klopfte mit dem Schlüsselbart aufs Holz. Ich seufzte theatralisch. Ich zog den Kamm aus der Gesäßtasche und kämmte mich. Und endlich sagte Rudolphe mit dem Blick eines Hundes, der etwas Verbotenes getan hat und nun auf die unabwendbare Strafe seines Herrchens wartet: „Ihr Besuch ist gegangen.“
„Mein Besuch? Ich habe keinen Besuch erwartet. Meinen Sie den Holländer?“
„Nein, nicht der Holländer. Der war auch da. Wie immer. Aber nur im Aufenthaltsraum und auf der Terrasse. Ich meine den Besuch, der in Ihrem Zimmer auf Sie gewartet hat.“
„Wollen Sie damit andeuten, jemand ist in meinem Zimmer gewesen?“
Er nickte, der Deckel des Kartons hob sich, und Rudolphe legte mit einem entschuldigenden Grinsen die flache Hand darauf. „Er hat mir gesagt, er hat auf Sie gewartet. Und Sie sind nicht gekommen. Und da hat er Sie am Hafen suchen wollen.“
„Er hat das Hotel wieder verlassen?“
„Ja. Er ist weg. Sie müssen mir glauben, dass ich ihn nicht in Ihr Zimmer reingelassen habe. Er kam raus, als ich zur Kammer gegangen bin, um die Putzsachen wegzusperren. Ich hab’ nicht schlecht gestaunt. Richtig erschrocken hab’ ich mich, als die Tür plötzlich aufging und er aus Ihrem Zimmer rauskam. Na, wollen Sie ihn sehen?“ Er klopfte mit der flachen Hand auf den Karton und sprach weiter, ehe ich antworten konnte: „Sie müssen mir glauben! Ich hätte ihn nie in Ihr Zimmer gelassen. Ich dachte, Sie hätten ihm den Schlüssel gegeben. Er will wiederkommen.“
„Er hatte also den Schlüssel. Wie konnte das geschehen?“
„Er muss ihn sich wohl genommen haben. Ich sitze ja nicht immer hier.“
„Von nun an werde ich den Schlüssel am Leib tragen.“ Ich dachte nach. „Sie haben mich eben gefragt, ob ich ihn sehen wolle. Was genau haben Sie damit gemeint?“
„Was?“ Rudolphes dickes Gesicht hob sich mir fragend entgegen.
„Sie haben mich eben“, wiederholte ich, die Ungeduld nur mit Mühe zügelnd, „gefragt, ob ich ihn sehen wolle. Erinnern Sie sich, Rudolphe? Wen wollten Sie mir zeigen? Etwa diesen Mann, der, wie Sie sagen, aus meinem Zimmer gekommen ist und Sie erschreckt hat?“
„Hummer“, sagte Rudolphe mit einem breiten Grinsen.
Hummer? Ich verstand nicht.
„Da ist ein Hummer im Karton.“ Er klopfte erklärend auf den Deckel.
Wieso, um Gottes willen, steht auf dem Tresen der Rezeption ein Pappkarton mit einem lebendigen Hummer?
Rudolphe lachte: „Den Mann hätte ich Ihnen gar nicht zeigen können! Der ist nicht mehr hier. Er wollte Sie am Hafen suchen. Hat er Sie gefunden?“
Die Hotelkatze strich um meine Beine. Ein schwarzer, kräftiger Kater. Ich hatte keine Zeit für ihn. Fordernd presste er sich mal an den einen, mal an den anderen Unterschenkel.
„Hat er einen Namen genannt?“, fragte ich.
„Nein. Kein Name. Er kam aus Ihrem Zimmer raus, als ich gerade –“
„Das habe ich jetzt begriffen. Wie sah er aus?“
„Nicht wie einer von hier. Wie ein Ausländer.“
„Ein Holländer?“
„Nein. Er sah schon so aus wie einer von hier, aber irgendwie anders.“
„Wir unterhalten uns ein andermal über den Vorfall“, sagte ich.
Der Kater sprang auf den Tresen und schmiegte sich mit gehobenem Schwanz an Rudolphes Gesicht. Dabei beäugte er den Karton. Was auch immer der Fremde in meinem Zimmer getan hatte, er musste es gesehen haben. Niemand betrat das Zimmer, ohne es zu sehen. Aus diesem Grund durfte Rudolphe nicht darin sauber machen.
Niemand außer mir durfte den Raum betreten.
Der Vorfall hatte mich ernüchtert. Eine solche Schlamperei hätte mir nicht passieren dürfen. Dafür hatte man mich nicht jahrelang ausgebildet! Die verfluchte Trinkerei ließ mich unvorsichtig werden: Der Sultan hängt nachts den Schlüssel der Schatzkammer an einen von außen in die Palasttür geschlagenen Nagel und wundert sich, wenn er am Morgen keinen einzigen Edelstein mehr vorfindet. Vielleicht hatte der Holländer recht und ich war wirklich der falsche Mann am falschen Ort. „Sie können, auch wenn Sie die besten Absichten haben“, wiederholte er stets gebetsmühlenhaft, „alles nur viel schlimmer machen, als es ohnehin schon ist.“
Rudolphe erklärte der Katze etwas, wovon ich nur das Wort „Abendessen“ verstand, und dabei beobachteten mich zwei Augenpaare. Beide hellwach und klug. Eins wässrig blau und feucht, das andere grün, fremd und unberechenbar. Um acht gebe es Essen, erfuhr ich.
„Danke“, sagte ich. „Und stellen Sie bitte eine Flasche Weißwein kalt!“
Die Zimmertür war nicht abgesperrt, aber das Handtuch lag noch dort, wo ich es ausgebreitet hatte: auf dem Boden zwischen Bett und Badezimmer. Ich sperrte die Tür hinter mir ab, zog die staubigen Vorhänge zu, hob das Handtuch an und betrachtete den Schlitz, der sich seit mehreren Wochen im Zimmerboden befand. Plötzlich war er da gewesen. Eines Nachts versank ich darin mit dem bloßen Fuß, als ich im Dunkeln zur Toilette ging, und erschrak mich zu Tode. Es war keineswegs ein breiter Spalt zwischen den Dielen, sondern eine diagonal zur Ausrichtung der polierten Holzbretter verlaufende, durchaus organisch anmutende Öffnung, die von zwei trockenen, harten und sich wie altes Leder anfühlenden Wülsten verschlossen wurde. Die Wülste schmeckten, wie Treibholz roch.
Der Schlitz war einen guten Meter lang. Dahinter oder darunter fühlte es sich warm an. Das ist nicht ganz richtig. Vielmehr fühlte es sich an, als wäre dahinter oder darunter ein Hohlraum, der atemwarme Luft enthielt. Steckte man etwas hinein, verschwand es und ließ sich nicht wiederfinden, so tief man den Arm auch hineinstreckte. Man spürte keinen Grund und – abgesehen von den oben straff gespannten Wülsten – keine seitliche Begrenzung des Hohlraums, der sich scheinbar unter dem Hotelzimmer befand. Danach roch der Arm, als hätte man im Meer gebadet, und die Haut prickelte ein wenig. Manchmal bildeten sich darauf kleine rote Pusteln, die aber binnen weniger Minuten wieder verschwanden. Auch der Geruch verflog rasch.
Ich hatte natürlich Nachforschungen angestellt und herausgefunden, dass es an der Decke des Zimmers unter dem meinigen keinerlei Hinweise für die Existenz des Schlitzes gab. In dem Raum im Stockwerk unter mir standen hauptsächlich mit Leintüchern abgedeckte Polstermöbel und zugenagelte Kisten. Manchmal glaubte ich, dass es in meinem Kopf, hätte man ihn betreten können, nicht anders aussah, seit sie gestorben war.
Ich bedeckte den Schlitz mit dem Handtuch, schaute in die Schublade des Nachttischs: Unberührt lagen darin die Schachteln mit der Munition und eingeschlagen in ein Taschentuch die Parabellum 08, die Ordonnanzpistole eines verstorbenen Freundes, die mitzunehmen man mir anscheinend gestattet hatte. Seine Uhr trug ich ums Handgelenk. Nicht der eigene Tod ist das Problem, es ist allein der Tod der anderen, der uns vernichtet. Ich wusch das Gesicht mit kaltem Wasser und legte mich aufs Bett. Wer auch immer dieser Eindringling war oder wer ihn in mein Zimmer geschickt hatte, er wusste nun, sofern er es nicht vorher bereits gewusst hatte und nur deshalb gekommen war oder aus Gründen der Vorsicht einen Handlanger geschickt hatte, was ich hier mit einem Handtuch zu verbergen trachtete. Was ich, wie mir plötzlich bewusst wurde, mit meinem Leben schützen würde.
Ich nahm den Band mit Montaignes Essais vom Bücherstapel neben dem Bett und blätterte und las mich in den Schlaf.
Ich erwachte mit dem Gefühl, Du lägest neben mir, und es dauerte geraume Zeit, bis ich mich wieder in meinem Elend zurechtgefunden hatte. Ich zog den Anzug aus, warf ihn auf den Haufen mit der Schmutzwäsche, nahm ein Bad, rasierte mich, zog aus Bequemlichkeit den zerknitterten weißen Anzug wieder an, steckte die gesicherte Waffe in den hinteren Hosenbund, ging hinunter ins Foyer und musste beinahe lachen, weil es so aussah, als läge Rudolphes Kopf auf dem Tresen der Rezeption.
Der Karton war weg; ich würde kurz darauf erfahren, weshalb.
„Reden wir noch einmal über diesen Mann, der in meinem Zimmer gewesen ist.“
„Wollen Sie gleich zu Abend essen?“
„Gerne. Er sah irgendwie anders aus, haben Sie gesagt. Erinnern Sie sich an etwas, das auffällig an ihm war? Eine Narbe? Ein Gehfehler? Ein nervöser Tick oder etwas in der Art?“
„Er hatte eine Hand aus Metall.“
„Er hatte – was?“
„Seine Hand war aus Metall. Ich hab’ sie berührt, als ich ihm den Schlüssel weggenommen habe. Nicht absichtlich natürlich. Sie fühlte sich ganz kalt an. Wie ein Taschenmesser, das man an einem Wintertag zur Jagd mitnimmt, und dann, wenn man es aufklappt –“
„Sie haben ihm den Schlüssel weggenommen?“
„Natürlich. Es ist doch Ihrer.“
„Einverstanden. Ich hätte noch eine Frage, Rudolphe. Mit ‚Metallhand‘ meinen Sie jetzt aber keinen dieser Haken, wie sie Piraten in Kinderbüchern haben?“
„Nein.“ Rudolphe hob seine Hände wie ein Puppenspieler und drehte sie fröhlich hin und her. „Eine Hand so wie diese beiden. Nur aus Metall. Und nun müssen Sie zu Abend essen. Der Kater wird mir sonst wahnsinnig. Passen Sie auf, dass er nicht in den Speisesaal schlüpft. Er brächte es fertig, Ihnen das Essen vom Teller zu stehlen. Er hat mir beim Kochen zugesehen und dabei so laut miaut, als müsste er selbst in den Kochtopf. Oder als hätte ich Ihnen Katzenminze in die Sauce hollandaise geschnitten. Den Wein habe ich übrigens gerade eben entkorkt. Ich hoffe …“ Er legte die Hände auf den Tresen und gab ein bekümmertes Brummen von sich.
„Was hoffen Sie?“
„Nun ja, ich hoffe, ich habe vorhin nicht zu laut geklopft.“
„Geklopft?“
„Um Sie zu wecken. Sie haben im Schlaf so geschrien, dass man es hier unten hören konnte, und da hab’ ich mir gedacht, es ist sowieso gleich Essenszeit, da weck’ ich ihn einfach auf.“ Er lachte. „Und dann haben Sie mit einer Frau geredet, glaube ich. Keine Sorge, ich habe nicht gelauscht. Das Metall glänzte wie Silber. Es war poliertes Metall. So!“ Sein Gesicht nahm einen förmlichen Ausdruck an: „Das Abendessen ist im Speisesaal angerichtet. Ich sitze hier und halte die Stellung. Sollten Sie etwas benötigen, brauchen Sie nur nach mir zu rufen. Und“, er drohte mit dem Finger, „achten Sie auf Monsieur Miou! Er ist in letzter Zeit ganz schön unverschämt.“
Der Wein war vorzüglich, das Essen eine Offenbarung. Danach machte ich einen Spaziergang zu Solanges kleinem Haus, das, umgeben von einem brüchigen Mäuerchen aus Feldsteinen, am Dorfrand lag. Ich klopfte. Das Licht wurde gelöscht. Wahrscheinlich hatte sie bei Kerzenlicht in der Küche gesessen und genäht. „Ich bin es. Mach auf, Solange! Ich höre dich hinter der Tür weinen. Mach auf!“ Sie antwortete nicht.
Als ich sie nicht mehr weinen hörte, stieg ich hinter ihrem Gärtchen die kleine Anhöhe hinauf, auf der sich knorrige Eichen, umgestürzte Reste eines Alignements aus der Megalithkultur und eine Holzbank befanden, die vermutlich der verschollene Yann gezimmert hatte. Auf ihr nahm ich Platz und gönnte mir eine Zigarre. Zu meiner Rechten ragten Felsbrocken aller Formen und Größe aus den Feldern wie versteinerte Trolle und Drachen. Dahinter wand sich die Straße zur Nachbarstadt. Zu meiner Linken, welche die Zigarre hielt, erhob sich die dunkle Silhouette von Solanges Haus, und dahinter lauerten weitere dunkle Häuschen inmitten kleiner Gärten und rückten schließlich zum Dorf zusammen, einem Meer nachtschwarzer Dachschrägen und anheimelnd gelber Fensterrechtecke.
Ich rauchte, lauschte dem Wind, der im Eichenlaub ein Geräusch erzeugte, das dem bemerkenswert lauten Brandungsgeflüster nicht unverwandt war. Hoch über mir erkannte ich den Großen Bären, zu dessen Füßen sich der Luchs und der Kleine Löwe tummelten, und vor mir am westlichen Nachthimmel strahlten Kastor und Pollux über der dunklen See, die oberen Eckpunkte des Sternenrechtecks, dem man aus mir unerfindlichen Gründen den Namen „Zwillinge“ gegeben hatte.
Wie einfach es doch die Menschen früher hatten, überlegte ich, und stellte mir vor, ein genügsamer Mönch zu sein, der nachts im Klostergarten auf einer Bank sitzt, über sich einen Schwarm von Sternen, der sich um die Erde dreht, diesen friedlichen Ort, den Gott mit beiden Händen behütet, dann ist es Nacht, aber sobald er die Hände wegnimmt, wird es Tag, und wir werden gebadet im Licht seiner umfassenden Weisheit. Plötzlich wurde mir bewusst, was der Grund dafür sein könnte, dass ich mich in dieser kindischen Phantasie suhlte, und ich schämte mich vor mir selbst.
Verärgert rauchte ich die Zigarre zu Ende, ging zum Hotel zurück, schaute nicht nach dem Schlitz und legte mich schlafen.
Auch am nächsten Morgen lüpfte ich nicht, obwohl es mir ausgesprochen schwerfiel, das auf dem Boden liegende Handtuch, brachte die Schmutzwäsche nach unten und frühstückte auf der Hotelterrasse im Schatten eines schiefstehenden, ausgeblichenen Sonnenschirms. Ich war nicht bewaffnet. Die Parabellum blieb heute im Nachttisch. Heute würde ich eine Wanderung machen, um endlich wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Und ich würde keinen Alkohol trinken. Jedenfalls nicht tagsüber. Während ich ein zweites Kännchen Kaffee trank, packte Rudolphe das Lunchpaket. Er überreichte es mit sichtlichem Stolz und nötigte mir zudem eine Korbflasche mit Wasser und einen Strohhut auf, der mir wie angegossen passte. „Damit Sie keinen Sonnenstich bekommen“, sagte er. „Sie dürfen nicht den ganzen Tag im Freien verbringen, ohne den Kopf zu schützen. Versprechen Sie es mir?“
Ich versprach, den Hut zu tragen, marschierte ins Nachbardorf, wandte mich nach Norden und hatte am späten Vormittag die alte Küstenstraße erreicht. Es war Ebbe. Der dunkle Strich des Meeres am Horizont wirkte wie eine Drohung. An der Straße standen in unregelmäßigen Abständen runde Türme. Sie waren alt, kaum höher als ein zweistöckiges Haus und schienen, worauf Vorhänge in den winzigen Fenstern und Blumenkübel in den Gärten hindeuteten, bewohnt zu sein. Ich dachte lange über die Funktion dieser Türme nach. Wozu hatten sie gedient? Wachtürme konnten es keine gewesen sein, denn sie wiesen keine Schießscharten auf. Und für Leuchttürme waren sie zu mickrig. Vielleicht handelte es sich um ehemalige Windmühlen. Ich malte mir aus, in einer von ihnen zu wohnen. Im Garten Bienenstöcke und blühende Hortensien. Lange Spaziergänge im Watt. Einen Hund als Begleiter. Mit Spaten und Rechen nach Muscheln graben, um dann mit einem vollen Blecheimer zu der geliebten Frau zurückzukehren, die unter einem Sonnenzelt auf dem flachen Turmdach sitzt und die Korrespondenz erledigt. Doch diese Frau ist tot.
Montaigne, den ich damals sehr verehrte, behauptet in einem seiner Essais, man müsse überall und zu jeder Zeit den Tod erwarten. Erst ein Leben mit dem Wissen um die Allgegenwart des Todes befreie uns Menschen, mache es doch jedes Joch und jeden Zwang unbedeutend.
Seit ich mit dem Boot im Dorf angekommen bin, überlegte ich, lebe ich mit dem Tod. Aber es ist nicht der meinige Tod, mit dem ich lebe, sondern es ist Dein Tod, und er umgibt mich wie eine Krähenwolke. Ich wünschte so sehr, ich könnte sterben lernen. Aber mein eigenes Sterben interessierte mich nicht. Würde mir jemand offenbaren, dass ich bald sterben müsse oder längst gestorben sei, wäre mir das völlig gleichgültig. Ich ging schneller, um auf andere Gedanken zu kommen, und sagte die wenigen Gedichte auf, an die ich mich aus meiner wie in fernen Nebelregionen versunkenen Schulzeit erinnerte.
Ich rezitierte zum dritten Mal die Ballade von den Füßen im Feuer, da führte die bisher auf Küstenhöhe verlaufende Straße einen Berg hinauf. Der Anstieg in der Mittagshitze brachte mich zum Schwitzen. Wiederholt blieb ich stehen, um mir mit dem Hut Luft zuzufächeln. Kurz vor dem höchsten Punkt, wo an der Straße ein, wie ich ahnte, verwittertes Wegkreuz stehen würde, schlängelte sich ein Pfad voller freiliegender Baumwurzeln zum Strand hinab. In einer Kehre des steilen Pfades lagen im Schatten einer Wurzel schöne Steine und Muschelschalen. Ein Kind hatte sie offenbar gesammelt und aus unerfindlichen Gründen bewusst hier hingelegt. Die Taten von Kindern sind für uns wohl so rätselhaft, weil sie uns so vertraut sind. Jeder hat als Kind Dinge gesammelt und an bestimmten Orten verwahrt – aber weshalb taten wir das als Kinder? Weshalb?
Endlich erreichte ich einen Strand voller flacher, handtellergroßer Steine. Zum Meer hin wurden sie kleiner und mischten sich mit Muschelschalen, grünen oder weißlichen vom Atlantik stumpf und trübe geschliffenen Glasscherben, Schneckenhäusern mit abgebrochenen Turmspitzen und Perlmuttscheiben jeglicher Form und Größe, die so glatt aussahen, dass man sie einfach in den Mund nehmen musste: Sie schmeckten salzig und warm.
Ich zog mich aus, versteckte den Zimmerschlüssel, das Bargeld und den Ledergürtel mit den Goldmünzen unter einem mit vertrockneten Algen behangenen Stück Treibholz und genoss es, nackt im Seewind zu stehen. Bisher hatte ich keine einzige Münze verbraucht. Die Summen, die mir der Pfarrer in diesen braunen Papierumschlägen zusteckte, deckten all meine Bedürfnisse. Ich atmete mit Behagen ein und aus. Vor mir der Geruch des Meeres, hinter mir die dumpf-erdigen Nuancen des Hangs, den ich hinabgestiegen war, unter den Füßen piksende Muschelschalen.
Der Atlantik war in Ufernähe von einem milchigen Gelb, dieses ging nach einigen Metern in ein trübes Hellgrün, dann in milchiges Dunkelgrün und schließlich in klares Grün über; und am fernen Horizont erstarrte die See zu einem tiefblauen Strich. Das Wasser war badewannenwarm. Ich watete hinein, bahnte mir einen Weg durch den Algenteppich und fürchtete auf einmal, etwas, das unter oder auf den glitschigen Steinen saß, könnte mir in die Zehen zwicken. Vielleicht ein Taschenkrebs oder der erzürnte Zwillingsbruder des Hummers, den ich gestern Abend verzehrt hatte. Das süße Fleisch hatte ähnlich geschmeckt, wie jetzt der Seewind roch, der mir die Haare auf der Brust kräuselte. Vorsichtig tasteten die Füße über den Grund. Wellen schlugen an meine Oberschenkel. Ich schreckte mich ab, wie ich es von Vater gelernt hatte, und tauchte im Meer, bis meine Finger und Zehen schrumplig waren.
Ich schwamm jedoch nicht weit hinaus. Als Fremder bleibt man besser in Ufernähe. Eine Vorsichtsmaßnahme, die wahrscheinlich nicht nur beim Baden im Meer zu beherzigen ist. Einmal, als ich mit brennenden Augen auftauchte, hörte ich Rufe, die nicht mir galten. Und einmal erblickte ich einen Mann, der mich vom Pfad aus, zwischen zwei krummen Bäumen hindurch, beobachtete. Sobald er sah, dass ich ihn bemerkt hatte, hob er grüßend den Arm, duckte sich hinter einem Busch und blieb verschwunden. Ich tauchte unter und öffnete die Augen: Glitzernde Schwebeteilchen stiegen auf und nieder …die Fächerarme einfallender Sonnenstrahlen …treibende Algenranken und winzig kleine Fische, die vor meinen Händen flohen.
Ich kam weit nach Mitternacht ins Hotel zurück. Auf dem Tresen der Rezeption stand ein Korb, dessen Holzdeckel wegen des Katers mit einem Ziegelstein beschwert war. Der gute Rudolphe! Der Korb enthielt eine Wildpastete mit Zwiebeln und Äpfeln, zwei dicke Scheiben dunkles, mit gesalzener Butter bestrichenes Sauerteigbrot und einen Krug Cidre. Ich aß bei Kerzenlicht im Zimmer. Jedes Mal, wenn ich den aufgedeckten Schlitz zu meinen Füßen betrachtete, fühlte ich mich beklommen. Ich trank den Cidre aus dem Krug. Mit jedem Blick nahm meine Verlegenheit zu. Schließlich ertrug ich es nicht mehr und breitete das Handtuch auf dem Boden aus.
Es gibt, glaube ich, kaum etwas Merkwürdigeres als den Mechanismus des Erinnerns. Ausgelöst von Rudolphes gestrigem Bericht über den Eindringling mit der Metallhand hatte die Maschinerie den ganzen Tag über im Verborgenen gearbeitet und präsentierte mir nun stolz den heiligen Mélar. Als ich vor einigen Jahren beruflich die Bretagne bereiste, hatte ich auch die Pfarrkirche von Lanmeur besucht, unter deren Chorraum sich eine der ältesten christlichen Sakralbauten der Region befindet: eine an einen gewöhnlichen römischen Weinkeller erinnernde Krypta aus dem sechsten Jahrhundert mit niedrigem Steingewölbe und einem Boden aus unterschiedlich geformten Schieferplatten.
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