Kitabı oku: «Deine Wahl / Your Choice - Zweisprachiges E-Book Deutsch / Englisch», sayfa 3

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Kapitel 1
Geschätzte Lesezeit: 23 Minuten
Erster Abschnitt: 7 Minuten
Zweiter Abschnitt: 10 Minuten
Dritter Abschnitt: 6 Minuten
WIR SIND SKLAVEN DIGITALER MONOPOLE
VON GUTENBERG BIS ZUCKERBERG – VON DER BEFREIUNG HIN ZUM RAUSCH
BEFREIUNG

Stell dir vor, du bist kein Vollidiot.

Stell dir vor, du bist ein gut aussehender Typ mit sinnlichen Lippen, schönen Haaren und einer Denkerfalte auf der Stirn. Stell dir das Selfie vor: Du bist intelligent, du bist toll, du bist sexy.

Ein Selfie geht gerade nicht, denn wir schreiben das Jahr 1517, aber ein schickes Porträt von dir wurde gemalt: Läuft bei dir.

Du lebst in einer pittoresken kleinen Stadt namens Wittenberg in der Mitte Deutschlands, das allerdings noch nicht Deutschland heißt, sondern Heiliges Römisches Reich. Streng genommen ist es kein Reich, es ist nicht wirklich römisch, und es ist ganz sicher nicht heilig. Zumindest deiner Ansicht nach nicht, und die ist sehr entschieden, denn du bist ein Mönch: Du verbringst den größten Teil deiner Zeit mit Beten und damit, das Wesen Gottes zu erkunden. Manchmal gehst du auf Pilgerfahrt. Du bist Martin Luther, das Original.

[DU HAST KEINE GEDANKENFREIHEIT NOCH SONST IRGENDEINE FREIHEIT.]

Dein größtes Problem mit dem Heiligen Römischen Reich und der katholischen Kirche besteht darin, dass die Kirche durch das Heilige Römische Reich fast absolute Macht genießt und allen, auch dir, vorschreiben will, was sie denken sollen, was sie sagen sollen, was sie tun sollen, wann sie beten sollen und an wen sie glauben sollen. Gedankenfreiheit? Fehlanzeige! Noch ist irgendeine andere Art von Freiheit in Sicht. Dir wird vorgeschrieben, wie alles zu laufen hat, und das Risiko, das du eingehst, wenn du widersprichst, ist beträchtlich. Und vor allem real: Du könntest exkommuniziert werden, was in der Praxis bedeutet, dass du alle Glaubwürdigkeit in der Gesellschaft verlierst; du könntest sogar hingerichtet werden.

Aber es gibt eine Sache, die dich wütender macht als alles andere: der »Ablasshandel«. Was soll die Scheiße?

Es geht dabei genau um das, was du denkst, aber das sagst du so nicht. Im Endeffekt geht es um Freifahrtscheine, die von der Kirche an die Leute verkauft werden. Nur statt aus dem Gefängnis sollen sie damit aus dem Fegefeuer entlassen werden. Und anders als die Monopolykarten sind sie nicht kostenlos: Leute zahlen echtes Geld dafür.

Du hältst das Ganze für Abzocke. Es geht dabei um ein heimtückisches Geschäft, bei dem Geld von den Armen zu den Reichen fließt. Die Armen sind das Volk, die meisten haben keine Bildung und glauben daher, was auch immer man ihnen sagt; die Reichen gehören zum Adel und zur Kirche. Die Kirche verfügt über immensen Wohlstand, sie schwimmt im Gold. Und da in den Augen der katholischen Kirche alle Sünder sind, landen alle im Fegefeuer. Das Fegefeuer ist der Vorhof zur Hölle: ein unangenehmer Ort. Aber für eine kleine Gebühr erspart dir ein Ablassbrief die furchtbare Folter und den unerträglichen Schmerz, den du dort erfährst, um für deine Sünden zu büßen. Sollten deine Sünden besonders widerlich ausfallen, fällt die Gebühr natürlich ein wenig höher aus.

Du hältst das Ganze für einen riesigen Unsinn. Du bist Mönch, du hast die Schriften studiert, und zwar ausgiebig. Jeden Tag, jahrelang. Es ist dein Beruf gewesen, die Schriften zu studieren. Und so wie du die Schriften begreifst, kann jeder Erlösung und Gottes Vergebung erlangen, wenn er nur an Christus glaubt. Und das tust du kund. Das passt der katholischen Kirche gar nicht; was die katholische Kirche angeht, bist du Häretiker und extrem gefährlich.

Und immer noch ist es das Jahr 1517: Was tun?

Du hast kein Internet, kein Smartphone, keine Verschlüsselung, auch kein Telefon, noch nicht einmal Strom. Es gibt keine Züge, keine Flugzeuge, keine Autos. Du hast den Papst und das ganze »Heilige Reich« im Nacken, und du bist Mönch. Du hast dich einem Leben in Armut und Demut verschrieben, du besitzt nichts.

Du druckst.

Das Buch ist deine Waffe, und sie ist kein Geheimnis mehr. Du kannst dich direkt an dein Publikum wenden, du brauchst keinen Papst.

Du schreibst deine 95 Thesen auf und nagelst sie wahrscheinlich an die Tür deiner Kirche – wir können uns heute nicht ganz sicher sein, ob das tatsächlich so geschehen ist –, und du druckst sie. Du verbreitest deine Ansichten, du veröffentlichst sie. Und das Gleiche machst du mit der Bibel: Du machst sie verfügbar, auf Deutsch, damit die Leute, die des Lesens kundig sind, sie lesen und sich ihre eigene Meinung bilden können. Und damit Leute, die nicht lesen können, lernen können zu lesen. Denn jetzt gibt es Bücher.

Der Mann, der deine Stimme verstärkt und es möglich macht, dass du über ganz Europa hinweg gehört werden kannst, hat leider schon das Zeitliche gesegnet, jedoch wird er nicht so bald in Vergessenheit geraten: Johannes Gutenberg, geboren um 1400, gestorben 1468, etwa 50 Jahre vor dem Druck der Thesen.

Er war ebenfalls ein echter Kerl mit einem fantastischen Bart, von dem die meisten Hipster nur träumen können, und einem Kopfschmuck, mit dem er auch heute in Shoreditch oder Dashanzi noch Eindruck schinden würde. Seine Heimat war Mainz, rund 370 Kilometer Fluglinie südwestlich von Wittenberg: drei Wochen Pferderitt oder einen Monat zu Fuß, je nach Jahreszeit und persönlicher Fitness. Technologie reist noch nicht so schnell, weil es die Menschen auch nicht tun.

[DER WICHTIGSTE TECHNOLOGISCHE FORTSCHRITT SEIT DER ERFINDUNG DES RADES]

1439, im Alter von ungefähr 40 Jahren, unternahm Gutenberg etwas, das unsere Welt wesentlich veränderte. Er »erfand« die mechanische Druckpresse. Man kann nicht sagen, dass er der Erste gewesen wäre, der mechanisch gedruckt hat: Druckpressen unterschiedlicher Art kamen in Asien bereits im siebten Jahrhundert zum Einsatz, doch erreichte Gutenberg beachtliche Fortschritte bei den bis dahin ausprobierten Verfahren und führte die Technologie in Europa ein. Sein größter Beitrag war der Bleisatz.

Er ist der bedeutendste technologische Fortschritt seit der Erfindung des Rades. Der Bleisatz erlaubte dem Drucker, Worte, Sätze und Paragrafen für eine Seite zu setzen und davon große Auflagen in kurzer Zeit zu drucken – zu verhältnismäßig niedrigen Kosten. Nie zuvor hatte eine einzelne Erfindung so schnell einen so großen Einfluss gehabt.

Der einfache Grund, warum Gutenbergs Beitrag unsere Welt so sehr verändert hat, besteht darin, dass durch ihn die Massenproduktion von gedruckten Materialien möglich und erschwinglich wurde. Zuvor musste man in eine Universität oder ein Kloster oder in eine der sehr wenigen Bibliotheken gehen, um ein Buch zu lesen. Allein die Tatsache, dass du ein Buch lesen wolltest, machte dich zu einer extrem privilegierten Ausnahme. Es bedeutete, dass du lesen konntest, über Bildung verfügtest. Von vielleicht zehn Leuten warst du der Einzige.

Wenn du das gelesene Buch dann teilen wolltest, konntest du dich entweder hinsetzen und es selbst von Hand kopieren oder jemanden dafür anheuern. So oder so dauerte es Wochen oder Monate. Kein Wunder, dass Wissen, ja sogar Einzelinformationen so eingeschränkt waren und so streng kontrolliert wurden. Es gab nicht viele Menschen auf der Welt, die darüber verfügten, und noch weniger, die es wirklich handhaben konnten – es zum Beispiel manipulieren, ändern oder erweitern. Und wenn du in der Position und Lage warst, ein Buch zu schreiben, damit andere es lesen konnten, gehörtest du zu einer wahren Elite.

Deswegen hat der Druck so viel verändert. Er stellt das erste Medium für Massenkommunikation dar und ermöglichte erst die Reformation: Mithilfe des Drucks konnte Luther die Autoritäten überwinden und die Leute direkt erreichen. Zwar konnten noch nicht alle lesen, aber in jedem Dorf und in jeder Stadt gab es jemanden, der die Schrift kannte. Ein Gelehrter, ein Priester oder ein Lehrer, der offen für neue Ideen war. Und mehr brauchte es nicht. Jetzt konnten sie lernen: Die Texte kamen zu ihnen, in ihre Häuser, ihre Schulen, ihre Köpfe.

Offenbar aber wurde der Druck nicht nur zu aller Nutzen verwendet. Er ist eine Technologie; mit ihr lässt sich eine bösartige Gesinnung ebenso verbreiten wie echte Weisheit. So wurde ein Buch, das seinen Lesern sagte, dass Hexen unter ihnen lebten und auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden mussten, zu einem Bestseller. Das ist es genau, was den Druck so mächtig macht: Fast jeder hat Zugriff darauf. Auch wenn man berücksichtigen muss, dass eine Druckpresse eine beachtliche Investition bedeutete, der dadurch ausgelöse Wandel war dennoch von tektonischer Wirkung. Der Druck demokratisierte erstmals das Wissen – und auch den Aberglauben. Plötzlich befand sich das geschriebene Wort und damit das Lernen, der politische Diskurs, das Gebet wie auch die Polemik, die Poesie, die Prosa nicht mehr im festen Griff der wenigen Gelehrten, sondern konnte jeden erreichen, der gewillt war, lesen und schreiben zu lernen. Und in Europa machte sich fortan der Hunger nach Wissen und nach Geschichtskenntnis bemerkbar. Nach Kunst und Einsicht. Nach alten Lehren und neuen Gedanken. Nach Aufklärung. Es ist die Wiedergeburt eines Zeitalters einer fast vergessenen Kunst und Kultur, es ist die Renaissance.

Ja, man kann sagen, der Druck war das Tor zur Befreiung.

RAUSCH

Schnellvorlauf, etwa 500 Jahre in die Zukunft: Du befindest dich im Körper eines blassen amerikanischen Masterstudenten an der Harvard University. Hier, am 4. Februar 2004, startet Mark Zuckerberg im Alter von 20 Jahren eine Website für seine Kommilitonen mit dem Namen Facebook. Der Rest ist die sprichwörtliche Geschichte. Das ist jedoch noch nicht alles …

Natürlich geht die Erfindung des Internets nicht auf Mark Zuckerberg zurück, das Internet gab es schon und wurde bereits intensiv genutzt. Man kann nicht einmal sagen, er habe das soziale Netzwerk erfunden, da waren andere, die schon etwas Vergleichbares versucht hatten, und das gar nicht so unerfolgreich. Was Facebook in der Folge aber tat, war, die Art und Weise zu transformieren, wie wir soziale Netzwerke verwenden und, noch viel wichtiger, wie diese Netzwerke uns benutzen.

Zweifellos bringt Facebook uns näher zusammen, verwandelt die Welt in ein Dorf, in dem man seine unverbindlichen Kontakte mit allen über alles haben kann, zu jeder Zeit. Das ist das Wunderbare daran: Du musst keinen Anruf machen oder E-Mails schreiben oder vorbeigehen, um zu erfahren, dass Ali einen neuen Job oder Ming einen neuen Freund hat, dass Alex und Tony Schluss gemacht haben und Tante Debbie sich von ihrem Sturz erholt hat. Ob du einen Treck durch Tibet startest oder durch die Toskana schlenderst, wir können alle an deinem Abenteuer teilhaben. Und das ist große Klasse.

Für viele, die Freunde und Familie auf der ganzen Welt haben, ist Facebook die Nummer eins unter den Seiten mit einer ähnlichen Funktionalität – wenn auch vielleicht anderer Priorität – wie ein Kaffeeautomat geworden: der Ort, an dem du zufällig Leuten begegnest und ein paar Worte mit ihnen wechselst, ihr euch auf den neuesten Stand bringt, eure Siege und Niederlagen teilt, Tipps austauscht und den neuesten Klatsch mitbekommt. So wie auf Weibo, Instagram, QQ, Foursquare oder Jiepang.

[ENTSCHEIDEND IST, WAS DIESE TEKTONISCHEN VERSCHIEBUNGEN MIT UNS ALS MENSCHEN MACHEN.]

Es gibt sowohl offensichtliche als auch weniger offensichtliche Parallelen zwischen dem Buchdruck als Revolution und der digitalen Revolution. Und wir müssen jetzt den Blickwinkel erweitern, von sozialen Netzwerken zum Internet im Allgemeinen und auch in Bezug darauf, wie wir digitale Geräte verwenden. Denn so wie Gutenberg nicht eigenhändig die Reformation auf die Beine stellte, ist Zuckerberg nicht der Erfinder des digitalen Zeitalters. Wir nutzen sie ganz klar als Repräsentanten ihrer Ära; und wir machen uns, wenig subtil, die Tatsache zunutze, dass ihre Namen irgendwie ähnlich klingen.

Was beim Hören der Namen für uns individuell mitschwingt, mag damit zu tun haben, wer wir sind und wann wir geboren wurden. Wir, die Personen, die dieses Buch schreiben, sind beide vor ausreichend langer Zeit geboren worden, um eine Welt ohne Internet erfahren zu haben. Unsere Generation hat eine einzigartige Erfahrung machen können, denn sicherlich keiner, der nach der Jahrtausendwende geboren wurde, wird noch eine Ahnung haben, wie ein Leben offline überhaupt möglich war. Sogar für uns, die wir es noch kennen, ist es inzwischen schwer geworden, es uns noch vorzustellen.

Daher ist unsere Wahrnehmung von jemandem wie Zuckerberg womöglich eine andere als deine. Und je nachdem, wo du aufgewachsen und zur Schule gegangen bist, hat dir der Name Gutenberg bis gerade eben überhaupt nichts gesagt. Ist auch nicht so wichtig. Wichtig ist, was diese tektonischen Verschiebungen mit uns als menschlichen Wesen machen.

Das ist eine der Hauptfragen, die dieses Buch stellt und formuliert: Was macht die Technologie, die wir haben, mit uns, und zu wem werden wir in der Kultur, die wir durch sie erschaffen? Denn das ist es, was wir mit Technologie machen: Wir schaffen Kultur. Die dominante Kultur, bevor Europa von der Druckpresse erobert wird, unterscheidet sich kategorisch von der Kultur, die diese Technologie möglich macht. Und die Kultur, die wir heute leben, unterscheidet sich genauso kategorisch von der, die unsere Eltern kannten. Wenn wir »kategorisch« sagen, übertreiben wir nicht. Das hier sind andere Kategorien in anderen Dimensionen, anderen Größenordnungen.

[WISSEN IST BESSER ALS AHNUNGSLOSIGKEIT.]

Somit hält der Vergleich zwischen dem Buchdruck als kultureller Revolution und der digitalen Revolution in vielen Aspekten dem Test stand. Beide läuteten neue Zeitalter ein, die uns dazu brachten, auf neue Art zu denken, zu reden, uns zu verhalten, zu interagieren, zu lernen, zu lehren, zu provozieren, Geschäfte zu machen, Partner zu finden und Freundschaften beziehungsweise Beziehungen zu führen. Aber es gibt auch beachtliche Unterschiede. »Ganz offensichtlich«, sagst du vielleicht, »gibt es Unterschiede: Wir sprechen von zwei komplett unterschiedlichen Arten von Technologien, zwischen deren Entwicklung 500 Jahre liegen.« Ja. Und jenseits dieser offensichtlichen Unterschiede gibt es noch subtilere und kaum weniger wichtige.

Wenn wir sagen, Gutenbergs Erfindung bezeichne einen Moment der Befreiung für das Volk, ist das nicht ganz unstrittig. Könnte man doch argumentieren, dass die Ahnungslosigkeit, in der zuvor gelebt wurde, mit der durch die Umstände bedingten Einfachheit in der Folge ihre ganz eigene Art von sorgenfreiem Glück ermöglichte. Aber Wissen ist besser als Ahnungslosigkeit. Man ist freier, wenn man seine eigenen Entscheidungen über sein Leben treffen kann und wählen kann, wie man seine Tage verbringt und mit wem. Der Buchdruck ermöglichte das letztlich. Durch ihn wurden wir Menschen unabhängiger, emanzipiert von der Kontrolle strikter Autoritäten. Er erst gab uns die Möglichkeit, uns auszudrücken.

Hat die digitale Revolution uns freier gemacht? Eine große Frage, die nicht in ein, zwei Absätzen zu beantworten ist, auch nicht in ein, zwei Kapiteln. Natürlich kann man Argumente dafür finden: Wie der Buchdruck hat sie Wissen und Lernen demokratisiert, hat den Zugang zu Universitätskursen, Vorlesungen sowie zu alter und neuer Literatur ermöglicht, und Millionen Menschen gelangen durch sie nun an Alltagsinformationen, die sie vorher nicht erreichten. Kein Zufall also, dass das gewaltige Unterfangen, klassische Texte kostenlos online verfügbar zu machen, ausgerechnet »Projekt Gutenberg« heißt.

Wie oft betont wird, hat das Internet Macht aus den Händen der Zeitungen und Besitzer von Massenmedien und der Redakteure genommen und Blogs, unabhängige Nachrichtenseiten und Plattformen hervorgebracht, die dafür bekannt sind, eine wichtige Rolle in sozialen Bewegungen wie dem Arabischen Frühling im Jahr 2011 gespielt zu haben. Twitter wird hier häufig als wichtiges Werkzeug des Wandels zitiert. Wenn Gutenbergs Druckpresse es Menschen, die noch nie ein Buch in der Hand gehalten hatten, ermöglicht hat, eines zu kaufen, dann machen heute Print on Demand und Onlineplattformen es jedem möglich, seine Gedanken zu veröffentlichen, sei es in sachlicher oder literarischer Form, wahrheitsgetreu oder gelogen.

[WIE LANGE HÄLTST DU ES AUS, NICHT AUF DEIN HANDY ZU SCHAUEN?]

Nichts davon ist neu: Der Fakt, dass es Fake News und Propaganda, Fehlinformationen und Täuschung gibt, ist nicht das große Problem, auch wenn er an sich ganz klar ein Problem ist. Das große Problem ist, dass uns die digitale Revolution, obgleich sie uns in vielerlei Hinsicht freier gemacht hat, auch abhängig gemacht hat, mehr als abhängig: unfrei. Wir sind im wahrsten Sinne körperlich süchtig.

Denk mal darüber nach: Wie lange hältst du es aus, nicht auf dein Handy zu schauen? Du hast vielleicht längst deinen Facebook-Account gelöscht, aber wie sieht es mit WhatsApp oder WeChat aus? Von den einzelnen Apps ganz abgesehen: Wie lange, glaubst du, kannst du funktionieren ohne irgendeinen Zugang zum Internet? Ernsthaft!

Vielleicht fragst du: Warum sollte ich ohne Internet funktionieren? Weil das der Punkt ist. Du bist Teil des Netzwerks geworden. Du hast dich vernetzt, und das gefällt dir. Vielleicht magst du den Gedanken nicht besonders, aber die Anziehungskraft des Netzwerks ist größer als unsere Willenskraft, darauf zu verzichten.

Vielleicht verletzt es uns, dass Zuckerberg uns »Vollidioten« nennt, weil wir ihm unsere Daten anvertrauen. Aber wir tun es trotzdem, denn wir wollen wissen, was bei unseren Freunden passiert. Uns wird flau, wenn wir alles bei Amazon bestellen, aber unser Hang zur Bequemlichkeit lässt es uns trotzdem immer wieder tun. Google? Wir wissen, dass sie so viele unserer Daten sammeln, wie sie können, aber welche Alternative gibt es schon? Und das ist die eigentliche Frage, die uns jetzt allmählich beschleicht: Welche Alternative gibt es wirklich? Denn wir haben schon lange den Punkt überschritten, an dem es noch darum ging, »zu wissen«, was bei unseren Freunden so passiert, oder ganz bequem den Toaster, den wir heute bestellen, morgen schon in den Händen zu halten. Das ist natürlich wunderbar, aber kannst du in diesem unserem digitalen Zeitalter ohne das Smartphone überleben, ohne Onlinebanking, ohne die Möglichkeit, das Internet zu nutzen? Du könntest wiederum antworten: Wieso sollte ich das tun? Und das ist ebenfalls eine berechtigte Frage, aber Gleiches gilt auch für die Frage: Sind wir überhaupt noch frei?

Das Ganze hat noch eine Kehrseite: die komplette Planierung der medialen Landschaft, in der individuelle, differenzierte Stimmen immer schwerer zu hören sind und wenige Akteure ein absolutes Monopol beherrschen. Google, Apple, Facebook, Amazon, Tencent, Alibaba, GAFATA – ein halbes Dutzend Unternehmen, das den Großteil des Internetverkehrs kontrolliert. Und glaub bloß nicht, dass sie ihn nicht kontrollieren: Der überwiegende Teil von uns nutzt eine Suchmaschine, ein soziales Netzwerk, einen Onlinestore für den Großteil unserer Onlinezeit und unserer Einkäufe. Und das sind keine oberflächlichen Verhaltensweisen. Alles, was wir tun, wird aufgezeichnet, zurückverfolgt, überwacht, monetarisiert und gegen uns verwendet. Du magst den Gedanken für etwas paranoid halten, würdest aber damit falschliegen. Es geht hier nicht nur um gezielte Werbung und Data-Mining, sondern um die potenzielle und in Teilen der Welt schon systematische Implementierung des Deep Tech State: Die erste Phase des chinesischen Sozialkreditsystems wird, wenn du diese Zeilen liest, bereits abgeschlossen und voll funktionsfähig sein.

Mittlerweile ist unsere »Onlinezeit« schlicht zu unserer »Zeit« geworden. Die vor 1980 Geborenen können sich noch daran erinnern, dass man regelmäßig »online ging«. Wir haben die kleine Piepmelodie noch im Ohr, die das Modem immer gemacht hat. Heute ist man niemals offline. Vielleicht guckst du nicht dauernd auf dein Gerät, aber dein Gerät guckt dauernd auf dich: Es weiß, wo du bist; es sagt dir, wenn etwas passiert, von dem es glaubt, dass du darüber Bescheid wissen solltest; es stellt sicher, dass du darüber Bescheid weißt, weil es will, dass du dich eincheckst. Ja, es mag ein totes Gerät sein und über keinen eigenen Willen verfügen, es verhält sich jedoch so, als hätte es einen, weil es so programmiert ist. Die Apps, die du auf deinem Smartphone hast, bilden sein zentrales Nervensystem, und dieses ist darauf ausgelegt, in das deine so direkt, so kontinuierlich und so körperlich einzudringen wie technologisch nur möglich.

Warum sind diese unternehmerischen Ungetüme so schnell so groß geworden? Weil sie zu jeder Zeit sicherstellen, dass du sie brauchst. Permanent. Wenn dein Smartphone das Erste ist, was du morgens in die Hand nimmst, und das Letzte, was du am Abend berührst, ist das kein Zufall. Genau hierfür wurde es entwickelt.

Wenn du dich also süchtig nach deinem Telefon fühlst, dann, weil du es bist. Du wirst systematisch zum App-Junkie gemacht, denn das garantiert den Profit. Es ist keine Verschwörung, und es ist kein teuflischer Plan eines größenwahnsinnigen Drahtziehers, es ist der reine kommerzielle Imperativ: Je mehr Zeit du an deinem Handy verbringst, desto mehr bist du Werbung ausgesetzt; je mehr du mit Apps interagierst, desto mehr Informationen übermittelst du; je mehr du teilst, desto genauer kann und wird dein Profil kalibriert. Und mittlerweile sorgt sich sogar GAFATA um dich – wie jeder gute Drogendealer – und unterstützt dich dabei, eine verwaltete, stabile und somit nachhaltige Sucht zu entwickeln. Mit Screentime-Analysen, Achtsamkeitsapps und der gelegentlichen Erinnerung, tief durchzuatmen. Irgendwie ist es liebevoll. Und irgendwie auch heimtückisch.

Und wenn wir sagen, dass du süchtig bist, ist das nicht metaphorisch gemeint. Du wirst im wahrsten Sinne mit deinem eigenen Dopamin narkotisiert. Jedes Mal wenn du eine Nachrichtenmeldung erhältst, ein Update, einen neuen Videoclip oder ein Bild, werden deine Glückssensoren aktiviert, und ein kleines bisschen Rauschmittel wird in deinen Kreislauf ausgeschüttet. Der Grund, warum du nachts dein Handy nicht weglegen kannst, liegt darin, dass es dir körperlich Freude bereitet. Nicht wegen seiner haptischen Qualitäten, sondern weil die Apps dein Gehirn zur Produktion von Hormonen anregen, die sich gut anfühlen. Richtig, wir vereinfachen die ganze Sache ein wenig. Die neurochemischen Prozesse sind natürlich deutlich komplexer als hier dargestellt. Das Prinzip jedoch stimmt: Unsere Smartphones machen körperlich, physiologisch süchtig, weil sie genau mit dieser Absicht entworfen wurden.