Kitabı oku: «Mörderische Bilanz»
© | NWB Verlag GmbH & Co. KG, Herne |
Alle Rechte vorbehalten. | |
Dieses Buch und alle in ihm enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Mit Ausnahmen der gesetzlich zugelassenen Fälle ist eine Verwertung ohne Einwilligung des Verlages unzulässig. |
Der Schauplatz: Die Rheinhessische Schweiz
Das Gebiet zwischen Bingen, Mainz, Worms und Alzey wurde 1816 der Provinz Hessen zugeschlagen, später gehörte es zum Großherzogtum Hessen-Darmstadt. Seinen heutigen Namen Rheinhessen erhielt es 1819. Im Rahmen der Länderneuregelung wurde es nach dem 2. Weltkrieg Rheinland-Pfalz angegliedert.
Es ist das größte zusammenhängende Weinanbaugebiet Deutschlands, dessen vielfältige Produkte (Müller-Thurgau, Kerner, Scheurebe, Faber, Bacchus, Huxelrebe, Silvaner, Riesling, Morio Muskat, Weißburgunder, Grauburgunder – Pinot Gricio –, Portugieser, Dornfelder, Blauer Spätburgunder, neuerdings auch wieder Gewürztraminer), in der ganzen Welt getrunken und geschätzt werden.
Dem Teil Rheinhessens, der nördlich an das Pfälzische Bergland anschließt, hat man wegen seiner hügeligen Landschaft den bezeichnenden Namen Rheinhessische Schweiz gegeben.
Hier, in Alzey und der näheren Umgebung, beginnt diese Geschichte und hier schließt sich auch wieder ihr Kreis. Die örtlichen und geschichtlichen Gegebenheiten orientieren sich an der Realität. Nur das Dörfchen Bernheim, das gibt es ebenso wenig, wie die handelnden Personen. Sie und ihre Geschichte sind frei erfunden. So frei, wie halt eben die Fantasie doch unwillkürlich und ohne Absicht durch die persönliche Lebenserfahrung gesteuert wird.
Die wichtigsten Personen, die den Ablauf des Geschehens beeinflussen oder mit ihm verbunden sind:
Der Hass ist wahrscheinlich ein ebenso mächtiger Urtrieb, wie Liebe und Hunger.
(Arthur Schnitzler)
1. Kapitel Dienstag, 23. September 2003, 7.30 Uhr (Herbstanfang)
Das Telefon riss uns unbarmherzig aus dem Ansatz frühmorgendlicher Zärtlichkeit. „Lass es klingeln!”, flüsterte Sonja liebevoll.
„Darius, geh ran, wenn du da bist!” Heriberts sachliche Stimme aus dem Anrufbeantworter wirkte auf uns so ernüchternd wie ein Kübel Eiswasser.
Mit missmutigem Brummen nahm ich den Hörer ab. „Du nervst! Was ist los?”
„Was los ist? Mir liegt ein Ersuchen auf Amtshilfe von der Policia de Investigatión Criminal auf La Palma wegen eines Verbrechens an einem deutschen Residente vor. Wieder einmal ein Kollege von dir. Kennst, oder besser gesagt, kanntest du …”
Mehr erfuhr ich erst ein paar Stunden später, Sonja hatte nämlich den Störenfried abgekoppelt, indem sie das Kabel aus der Anschlussdose und mich in ihren Bann gezogen hatte.
Ich erinnerte mich jedoch beim Frühstück wieder daran, dass ich vor vier Tagen, abends gegen 22 Uhr 30 einen merkwürdigen Anruf erhalten hatte.
„Herr Schäfer?”, flüsterte ein Mann ängstlich.
„Was kann ich für Sie tun?”, fragte ich unsicher.
„Sie kennen mich nicht, aber ich muss dringend mit Ihnen sprechen.” Der Anrufer sprach so zögerlich und leise, dass ich Mühe hatte, ihn zu verstehen. Andererseits ließ er mir keine Möglichkeit für Zwischenfragen, meine Ansätze gingen in seiner hörbaren Aufgeregtheit unter.
„Es ist sehr wichtig. Ich kenne Ihren Namen aus einem Artikel im deutschsprachigen Wochenspiegel Wir sind Berufskollegen. Mein Name ist … was soll das … lass das … das ist doch verrückt … man kann doch über alles re… meine Tochter …” Dann wurde die Verbindung abrupt getrennt. In der Leitung war nur noch ein Rauschen. Ich zuckte ratlos mit den Schultern und legte auf. Tatsächlich vergaß ich die Sache. – Bis zu dem Anruf von Heribert. Mir fiel plötzlich in Verbindung mit „La Palma” ein, dass es sich bei dem von dem mysteriösen Anrufer erwähnten deutschsprachigen Wochenspiegel um ein wöchentlich erscheinendes Journal handelte. Es wurde auf den Kanaren vertrieben und somit auch auf La Palma.
Nun war natürlich meine Neugierde geweckt. Zum Missfallen von Sonja unterbrach ich unser trautes Frühstück und rief Heribert in der Polizeiinspektion Alzey zurück.
„Was wolltest du in aller Frühe, wenn anständige Menschen noch im Tiefschlaf sind?”, eröffnete ich das Gespräch etwas zu forsch und bevor Heribert sich melden konnte. Ich wollte ihm keine Gelegenheit geben, Rückschlüsse wegen des rüde unterbrochenen Telefonats zu ziehen. Seine Fantasie lieferte ihm auch ohne meine Unterstützung genug Stoff für boshafte Bemerkungen. Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, dass jemand anderes als er das Telefon in seinem Büro abnehmen könnte.
„Ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, irgendjemanden, mit dem ich auch noch per du sein soll, zwischen Mitternacht und Morgen angerufen zu haben”, klärte mich eine energische, aber nicht unsympathische Frauenstimme auf.
Mit einem kurzen Blick auf das Display meines Telefons versicherte ich mich, dass ich tatsächlich die korrekteTelefonnummer gewählt hatte. Ich wollte dennoch gerade zu einer Entschuldigung ansetzen, als ich Heribert im Hintergrund sagen hörte:
„Das könnte für mich sein. Wer ist dran?”
Trotzdem offenkundig die Sprechmuschel zugehalten wurde, konnte ich die Fortsetzung des Dialogs auf der anderen Seite, wenn auch nur leise, mitverfolgen.
„Das weiß ich nicht, er hat seinen Namen nicht genannt.”
Dann hörte ich kurzes Tuscheln und endlich die vertraute Stimme von Heribert:
„Kriminalhauptkommissar Koman, guten Tag! Mit wem spreche ich bitte?”
„Ja, du hast richtig getippt. Es ist für dich. Hast du neuerdings eine persönliche Sekretärin, die dich abblockt?”, versuchte ich sofort seiner zu erwartenden bissigen Reaktion auf die abrupte und stilwidrige Unterbrechung unseres frühmorgendlichen Telefonates auszuweichen.
„Du willst nur ablenken”, knurrte er.
„Ablenken? Weshalb? Wovon?”, tat ich ahnungslos.
„Du weißt schon, was ich meine. Weshalb hast du ohne erleuchtende Offenbarung den Hörer aufgelegt?!” Das war keine Frage, sondern klang eher wie eine Rüge.
„Hatte ich nicht klar und deutlich gesagt, dass du nervst? Das sollte doch wohl genügen. Aber Zaunpfähle sind bei dir ja wirkungslos, also musste es der ganze Lattenzaun sein!”, setzte ich mich zur Wehr. Ich wollte dann aber aus dieser Mücke keinen Elefanten machen und fuhr daher in beschwichtigendem Tonfall fort. „Nun sag schon, was gibt es denn so Wichtiges?”
„Das ist nichts fürs Telefon.”
„Sag schon, damit ich wenigstens weiß, was mir droht”, drängelte ich.
„Na gut. Erstens benötige ich deinen Rat als Quasikollege und als Angehöriger des steuerberatenden Berufsstandes, so heißt das doch wohl in eurem offiziellen Jargon.”
„In dieser ungewöhnlichen, fast schon bizarren Kombination steckt eine extravagante Herausforderung”, reagierte ich süffisant. „Hoffentlich nicht wieder so ein Job, der mit viel Ärger und dafür wenig oder gar keinem Honorar verbunden ist. Und zweitens …?”
„Was zweitens!?”, fragte Heribert verwirrt.
„Du sagtest, dass du erstens meinen Rat brauchst. Also folgt nach Adam Riese zweitens – schon vergessen?”
Heribert ging nur knapp darauf ein. „Zweitens, weil du dich mit den Gegebenheiten auf La Palma etwas auskennst. Könntest du also sofort zu mir kommen, oder soll ich …”
Ich unterbrach ihn mit einem Blick auf Sonja, die unser Telefonat mit Kopfschütteln mitverfolgte, sicherte ihm zu, mich umgehend auf den Weg nach Alzey zu machen und legte auf.
„Also wieder einmal eine Aufgabe für Sherlock Holmes und Doktor Watson? Aller guten Dinge sind drei”, nickte Sonja bedächtig und zog die Augenbrauen nach oben. „Aber pass auf, Darius, dass es bei dir nicht einmal heißt, dass aller schlechten Dinge drei sind. Du bist bei deinen absonderlichen Abstechern ins Lager der Kriminalisten innerhalb von …” sie rechnete kurz nach, „14 Monaten bereits zweimal dem Teufel von der Schippe gesprungen. Fortuna ist eine launische Dame, ich weiß, wie wir Weiber sind.”
„Ich liebe sogar deine Launen.”
Sie verdrehte die Augen „Ist denn dein Beruf nicht abenteuerlich genug – auf seine Art zumindest?” stellte siesorgenvoll fest, während sie mechanisch und achtlos ein Brötchen mit Honig bestrich.
Dann richtete sie sich auf und verfiel in einen heroischen Ton. „Pfandfinder im deutschen Steuerdschungel, die letzten Abenteurer der Menschheit!” Dabei grinste sie hämisch. „Eine Steuererklärung auf dem Bierdeckel unterzubringen müsste doch für dich und deine berufliche Mischpoche so aufregend sein wie die Entdeckung Amerikas oder die erste Mondlandung.”
Ich schüttelte den Kopf, als ob ich mit der Weisheit des ach so vernünftigen Erwachsenen die überbordende Fantasie eines kleinen Mädchens abtun wollte. Dabei versuchte ich eine plötzlich aufkommende Unsicherheit, ein flaues Gefühl in meinem Magen zu überspielen und schob meine plötzlichen angsterfüllten Vorahnungen grob fahrlässig zur Seite.
„Ich weiß ja noch gar nicht, was Heribert überhaupt von mir will. Warte es doch erst einmal ab”, versuchte ich sie zu beschwichtigen. „Bitte gib Frau Dengler Bescheid, dass ich erst heute Nachmittag in der Kanzlei sein werde.”
Sonja nickte, reckte das Kinn herausfordernd nach oben und spitzte die Lippen. Nur zu gerne beugte ich mich zu ihr herunter, pflückte sorgsam einen Brötchenkrümel von ihrem linken Mundwinkel und küsste sie zum Abschied. In unserem Kuss lag eine Innigkeit, die mich selbst immer wieder mit Glückseligkeit erfüllte. In der Türfüllung drehte ich mich noch einmal um und warf ihr eine Kusshand zu.
„Ruf mich heute Nachmittag nach der Schule an. Es interessiert mich, was Heribert wieder ausgeheckt hat.”
Den Kopf hielt sie dabei leicht schräg geneigt, den Ellbogen des rechten Armes, in dessen Hand sie das inzwischen fertig geschmierte Honigbrötchen hielt, hatte sie aufdem Tisch aufgestützt. Ihr flammendrotes Haar, das in seiner kurz geschnittenen Facon perfekt zu ihrer weiblichen und dennoch sportlichen Figur passte, glänzte in der Sonne, die durch das Fenster schien.
Ich hätte nicht mehr gedacht, dass ich so etwas nach der selbstverschuldeten Trennung von Beatrice, meiner ersten Frau, noch einmal mit dieser Intensität würde erleben dürfen. Und trotz meiner weiterhin starken Empfindungen Beatrice und natürlich meinen erwachsenen Söhnen Mark und Marius gegenüber, hatte ich kein schlechtes Gewissen. Was mich mit Sonja verband war zwar ebenso heftig, aber anders und damit in Ordnung.
Wie so oft überflutete mich bei ihrem Anblick eine Welle unendlicher Vertrautheit und Sicherheit und doch zugleich der Angst, die wunderbare Frau irgendwann einmal zu verlieren. Hätte ich in diesem Moment gewusst, dass die Weichen zu eben so einer schmerzhaften und endgültigen Trennung mit genau diesem Telefonat bereits gestellt worden waren, niemals wäre ich so sträflich leichtfertig mit meiner Vorahnung umgegangen.
Später habe ich mich immer wieder gefragt, weshalb Menschen, und im Besonderen wohl ich, einfach nicht häufiger ihrer Intuition folgen oder doch wenigstens aus ihrer Erfahrung dazulernen können. Aber wieder einmal folgte ich unkritisch einem inneren Drang auf der Suche nach Neuem, nach Unbekanntem. Und bald musste ich erneut feststellen, dass man dabei manchmal etwas entdeckt, das man gar nicht finden wollte.
Ich verließ das Wohnhaus, verdarb meinen beiden Bernersennhündinnen Hanna und Kira die Vorfreude auf einen Spaziergang, indem ich ihnen befahl, sich in einer sicheren Ecke des Innenhofes zu platzieren und öffnete das zweiflüglige Straßentor, um meinen Wagen rauszufahren. Dabei winkte ich Frau Dengler zu, die mich irritiert durch das große Bürofenster des Kanzleigebäudes beobachtete.
Sie arbeitete nicht nur seit mehreren Jahren als Sekretärin bei mir, sondern war auch die Lebensgefährtin von Carlo Dornhagen. Für das nächste Jahr war die Hochzeit geplant. Carlo hatte ich in seiner Funktion als Betriebsprüfer beim Finanzamt Alzey kennen und – es mag den vorurteilsbehafteten Steuerpflichtigen wundern – schätzen gelernt. Er hatte das sichere, pensionsberechtigte Beamtenverhältnis gegen die stressbeladene 60-Stunden-pro-Woche-Tätigkeit und die zeitlich unbegrenzte Verantwortung des selbständigen Steuerberaters getauscht. Er war allerdings mehr als nur Partner in der Kanzlei, die ich wiederum vor über 20 Jahren von meinem Vater übernommen hatte. Entsprechend der vertraglichen Verkaufsbedingungen hatte ich mich inzwischen zu 50 Prozent aus dem Tagesgeschäft verabschiedet und arbeitete als freier Mitarbeiter, wie es der Paragraph 58 des Steuerberatungsgesetzes vorsieht.
Es war ein wunderschöner, stimmungsvoller Herbstbeginn. Die Morgensonne tauchte die Weinberge in ein mildes Licht, als ich auf der Kreisstraße in Richtung Alzey fuhr.
Seit 15 Jahren lebte ich in Bernheim, einem kleinen Winzerdörfchen in der so genannten Rheinhessischen Schweiz. Ein ehemaliges landwirtschaftliches Anwesen, fast mitten im Dorf gelegen, war zu meinem vertrauten Lebens- und Arbeitsraum geworden. 1857, zu der Zeit, als Otto von Bismarck seine politische Karriere als preußischer Gesandter begründete, waren Wohn- und Kelterhaus, Scheunen, Stallungen und die Gewölbekeller errichtet worden. So zumindest besagte es die in einen Fenstersturzgehauene Jahreszahl. Nach typischer Bauart der damaligen Zeit hatte man für die Außenmauern Sandsteine aus den benachbarten Steinbrüchen verwendet, während die Innenwände aus Fachgewerken bestanden, die mit lehmverputzten Grünlingen ausgemauert waren. Die Gebäude erstreckten sich u-förmig um den charakteristischen, kopfsteingepflasterten Innenhof, der mit einem großen Tor von der Straße abgetrennt war. In dem ehemaligen Kelterhaus waren die Kanzleiräume der Steuerberatungspraxis untergebracht, was wohl einen eher beflügelnden, keinesfalls jedoch ungünstigen Einfluss auf die Arbeitsqualität der sieben Mitarbeiterinnen hatte.
Diese Idylle teilte ich mit meinen beiden Hunden und einem Kater; vor allem aber mit Sonja Strobel, die nach anfänglichen Irrungen und Wirrungen unserer frischen Beziehung immer häufiger für einige Tage mein Domizil ihrer Wohnung vorzog. An einem der Gymnasien in Alzey weihte sie mehr oder weniger willige Jugendliche in die dunklen Geheimnisse der höheren Mathematik ein. Vor einigen Jahren hatte sie sogar einen meiner Söhne unterrichtet. Sie liebte ihren Beruf, obwohl sie aus existentiellen Gründen nicht auf die Anstellung im Schuldienst angewiesen war. Alleine schon durch ihr Elternerbe war sie finanziell unabhängig und wollte es, wenigstens jetzt noch, auch in privater Beziehung bleiben. Daher hielt sie weiterhin an ihrer Eigentumswohnung in Alzey fest, was mir das beruhigende Gefühl gab, dass sie aus Liebe bei mir war – und blieb – und nicht etwa aus Versorgungsgründen.
Das Mittelzentrum Alzey mit seinen circa 19 000 Einwohnern, liegt 15 Kilometer, also eine gute viertel Stunde von Bernheim entfernt. Wie üblich hatte ich auf der Fahrt das Autoradio an und hörte meinen Lieblingssender SWR 1,bei dem auch Beatrice als Redakteurin beschäftigt war. Ich entsinne mich noch, dass es in der Sendung, die gerade lief, um die verzweifelten Beschwichtigungsversuche von Verkehrsminister Stolpe hinsichtlich der Mautpleite ging und um die Mannesmannaffäre.
Normalerweise ist eine Autofahrt durch die Rheinhessische Schweiz ein Vergnügen für das Auge und die Seele. Ein fast fühlbarer Zusammenklang von beruhigenden Sinneseindrücken überwältigt einen, wenn man die Reize der Landschaft auf sich wirken lässt. Auch wenn es ein wenig werbeträchtig erscheinen mag, der oft geprägte Vergleich mit der Toskana ist doch recht treffend: Romantische Weindörfer und Winzerhöfe, stille, verträumte Winkel in denen die Zeit still zu stehen scheint, Gaumenfreuden einer traditionellen Küche und die lebensbejahende, vielleicht auch von den exzellenten Weinen beflügelte Lebensart der Menschen mit ihrer abwechslungsreichen und teilweise absonderlichen Mundart – das alles schafft ein beinahe südländisches Flair.
Aber all das konnte mich an diesem Morgen nicht von meinem schlechten Gefühl abbringen. Zunächst ärgerte ich mich über das, was im Rundfunk über den Mannesmannprozess berichtet wurde. Es gehörte schon immer zu meiner Kanzleiphilosophie, dass für meine Mandanten, die Mitarbeiter und mich Fairness und Rechtsbewusstsein auf einer höchstmöglichen Ebene selbstverständlich sein sollten. So schwer es auch manchmal sein mochte, ich betrachtete das als berufliche und menschliche Herausforderung. Umso mehr verstimmte es mich, als wieder einmal mit Chuzpe elementare ethische Werte auf dem Altar der Selbstgefälligkeit geopfert und damit der Selbstbedienungs- und Ellenbogenmentalität Auftrieb gegeben wurde.
Ein Rechtsanwalt, der aufgrund seiner Anzeige denSkandal ins Rollen gebracht hatte kam zu Wort: „Nach einem sehr emotional geführten und teuren Abwehrkampf gegen die Übernahme, gab man innerhalb von Stunden diesen Widerstand auf. Gleichzeitig wurden alleine an Herrn Esser über 60 Millionen Mark Abfindung gezahlt. Ich denke, da drängt sich doch jedem der Verdacht auf, dass hier eine Käuflichkeit vorgelegen haben könnte.”
Ein wegen Bestechlichkeit angeklagte Manager aus dem Mannesmannvorstand verteidigte seine Handlungen mit der Anmerkung: „Ich stehe zu dem, was ich gemacht habe. Ich finde das gut. In der Schweiz hat jemand gerade einen vergleichbaren Bonus bekommen.”
Wie sollte ich meinen Mandanten bei derartigen Selbstverständnissen Verhaltensnormen im Umgang mit der Steuergesetzgebung, den Banken und den vielen anderen Partnern im unternehmerischen Prozess klar machen, die in ihrem eigenen Interesse notwendig waren. Zum Beispiel, dass sie nicht nur alle ihre Einnahmen ordnungsgemäß zu deklarieren, sondern auch ihre Rechnungen formgerecht zu stellen hatten und zudem tausend weitere zeitintensive Vorgaben beachten sollten, die sie davon abhielten, überhaupt erst einmal einen Umsatz zu tätigen.
Dennoch wich meine Verstimmung sehr schnell dem einlullenden Fatalismus, den die Leipziger Popgruppe „Die Prinzen” in einem ihrer Songs so treffend beschrieben: „Das alles ist Deutschland, das alles sind wir.” Außerdem wurde mein Unmut zusehends überlagert von der Erinnerung an eine Fahrt vor einem halben Jahr, mit dem gleichen Ziel und aus ähnlichem Anlass.
Peter Simonis, ein Berufskollege aus Alzey, hatte anonyme Drohungen erhalten und war dann auch tatsächlich auf entwürdigende Art und Weise umgebracht worden. Erst nach einem weiteren Mord konnten wir die Schuldigen ermitteln: Sabine Ulmer, eine bei ihm angestellte Rechtsanwältin, die, wie es sich im Lauf der Recherchen herausgestellt hatte, zudem seine nichteheliche Tochter war. Das hatte er selbst allerdings erst im Moment seines gewaltsamen Todes erfahren. Ein weiterer Mitarbeiter Simonis‘, der außerdem der Halbbruder der Ulmer war, wurde als Komplize verhaftet. Beide warteten nun auf ihren Prozess, er in der Untersuchungshaft, und sie hatte man aufgrund ihres labilen psychischen Zustandes in dem gesicherten Bereich der Landesnervenklinik in Alzey untergebracht.
Dass man mich bei dieser Geschichte kaltblütig umlegen wollte, hatte ich zwar nicht verdrängt, aber auch immer noch nicht richtig verarbeitet. Wenn, so wie jetzt auf der Fahrt zu Heribert Koman, die alten Bilder wieder vor meinem inneren Auge auftauchten, reagierte mein Körper mit mehr als nur einem leichten Frösteln. Meine Kehle wurde trocken und im Mund hatte ich einen widerlichen, metallenen Geschmack. Adrenalin ließ meinen Blutdruck steigen, als ob die Bedrohung immer noch real wäre.
Ich hatte mehrmals überlegt, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, aber dann hatte ich stets davon Abstand genommen. Ich meinte, aufgrund der bei mir gegebenen, besonderen Umstände drauf verzichten zu können. Im Gegensatz zu vielen anderen, die eine ähnliche Situation hatten durchleben müssen, war nämlich mein persönliches Umfeld – damit meine ich Sonja und Heribert – ebenfalls unmittelbar in das Geschehen eingebunden. Das heißt, ich konnte mit Menschen darüber sprechen, die mich verstanden. So fühlte ich mich nicht alleine gelassen und Abkapseln und Verdrängung ergaben sich erst gar nicht für mich.
Ich stellte mein Auto auf dem Parkplatz vor der Polizeiinspektion Alzey ab und begab mich in das zweite Obergeschoss. Ich kam durch einen langen, schlauchartigen Flur. Die Wände waren in einem merkwürdig anmutenden Grau-Grün gestrichen und ich fragte mich, ob ein farbenblinder oder ein griesgrämig veranlagter Mensch diese geschmacklose Abtönung ausgesucht hatte. Vielleicht hatte man die Farbe aber auch im Schnäppchenmarkt erworben, nach dem Motto: Geiz ist geil.
Am Ende dieses deprimierenden Flures hatte Heribert sein Büro. „Heribert Koman, Kriminalhauptkommissar” verkündete das glänzend-frische Namensschild rechts neben dem grau lackierten Türrahmen. Als ich ihn das letzte Mal besucht hatte, gab es nur eine Zimmernummer. Ich klopfte an, trat dann aber ohne eine weitere Aufforderung abzuwarten ein, schließlich hatte Heribert mich herzitiert.
Sein Schreibtisch war mit Aktenstößen überhäuft, aus denen wie zum unbotmäßigen Trotz ein hochmoderner Flachbildschirm wie der berühmte Fels aus der Brandung ragte. Dahinter saß der Kriminalhauptkommissar; neben ihm stützte sich, leicht über ihn gebeugt, eine äußerst reizvolle weibliche Erscheinung auf dem Tisch ab. Ich schätzte sie auf etwa 40 Jahre. Sie hatte halblanges, kastanienbraunes Haar und trug einen farblich kontrastierenden, sportlichen Hosenanzug in einem kräftigen Blau. Er schien wie für sie gemacht und sie wusste ihn – im Gegensatz zu manch anderen in der Öffentlichkeit stehenden Frauen – zu tragen.
Als die beiden mich bemerkten, flogen ihre Köpfe, die sie zuvor wohl zur gemeinsamen Begutachtung eines Dokumentes zusammengesteckt hatten, auseinander. Sie kamen mir vor wie Kinder, die man bei etwas Verbotenem ertappt hatte. Ich musste unwillkürlich grinsen.
Heriberts Kollegin oder Mitarbeiterin (dafür hielt ich sie) fing sich als erste, richtete sich auf und lächelte mich an. „Sie müssen Darius Schäfer sein”, stellte sie voller Überzeugung fest und fügte sogleich als Begründung für Ihre Erkenntnis eine Kurzanalyse hinzu. „Mit dem Düsenjäger durch die Kinderstube, kein Fettnäpfchen auslassend und trotz seiner sichtbar über 50 Lenze auf die Wirkung des kindlichen Charmes vertrauend.” Dann blickte sie erst Heribert und dann wieder mich herausfordernd an, bevor sie uns mit einem „Habe ich Recht?!” die Möglichkeit zu einer Reaktion einräumte.
Wir fühlten uns beide gleichermaßen angesprochen und reagierten daher auch gleichzeitig. Was allerdings dabei herauskam, war die Überlagerung von Heriberts untauglichem Versuch, mich in ein günstigeres Licht zu rücken, und meine gestammelte Entschuldigung – wofür auch immer. Heribert tat dann aber das einzig Richtige: Er stellte uns gegenseitig vor.
„Dagmar, das ist, wie du richtig vermutet hast, Steuerberater und Hobbykriminalist Darius Schäfer. Und das, Darius, ist eine Kollegin aus Mainz, Dagmar Keller.”
„Das mit dem Hobbykriminalisten”, wandte ich mit plötzlich belegter Stimme ein und räusperte mich, „also, das muss man natürlich, äh, ja, differenziert sehen.” Statt einmal im richtigen Moment die Klappe zu halten, bemühte ich mich um eine Aufklärung, die meinen unglücklichen Einstand bei Heriberts Kollegin etwas korrigieren sollte.
„Das, na ja, das war nämlich jedes Mal mehr einer Tugend als einer Not gehorchend. Nein, natürlich umgekehrt, Sie wissen schon, was ich meine.”
Unter ähnlich peinlichen Bedingungen hatte ich Sonja damals bei dem Hoffest eines Weingutes im Nachbarort kennen gelernt. Und genau wie damals kam ich mir einmalmehr vor, wie ein stammelnder Primaner. Zur Komplettierung des Bildes hätten jetzt nur noch die spätpubertäre Akne und die Schamesröte gefehlt. Das ging mir immer so, wenn mich eine Frau besonders beeindruckte. Ich konnte dann nur noch auf ihr stillschweigendes Einverständnis hoffen, diese für mich hochnotpeinliche Situation zu übergehen.
Aber natürlich nicht bei einer Frau, wie Dagmar Keller. In ihrer undiplomatischen Offenheit glich sie meiner Sonja, als hätte man sie geklont. Sie sagte nämlich … überhaupt nichts. Aber wie sie nichts sagte, indem sie mich schweigend und anscheinend hochkonzentriert bei meiner selbstquälerischen Mitteilung betrachtete, ja geradezu mit den Augen sezierte, war eines seitenstarken Romans von Dostojewski würdig. Ich sah förmlich den Titel auf meine Stirn geschrieben: Der Idiot. In solchen Situationen fragte ich mich immer wieder, was mich eigentlich an solch selbstbewussten und schlagfertigen Frauen so sehr faszinierte.
„Bevor du nun weiter blödelst …”, Heribert unterbrach sich kurz und bedeutete mir mit einer einladenden Geste, auf dem noch freien der beiden Besucherstühle Platz zu nehmen. Auf den anderen war inzwischen Frau Keller geglitten.
Heribert lehnte sich zurück, faltete die Hände im Nacken zusammen und reckte sich kurz, bevor er seinen unterbrochenen Satz wieder aufnahm. „Also, um die Sache abzukürzen, Dagmar Keller ist eine langjährige Kollegin. Früher war sie ebenfalls bei der Kripo, hat sich aber vor …”
„Vor drei Jahren”, half sie Heribert aus.
„Genau – vor drei Jahren hat sie sich in den Verwaltungsbereich versetzen lassen und arbeitet jetzt im Personalreferat in Mainz. Es geht um unser Leistungsbeurteilungssystem. Sie soll Kriterien zur Überarbeitung der Beurteilungsmerkmale zusammenstellen. Dazu recherchiert sie zurzeit bei uns.”
„Genügt denn für eine Beurteilung nicht die Aufklärungsquote und die Schnelligkeit, mit der ihr eure Fälle löst?”
„Damit ich dann arbeitslos werde?”, schaltete sich Dagmar Keller ein, lachte aber dabei.
„Sehen Sie, Herr Schäfer, es geht doch nicht nur um die Kollegen von der Schutz- oder der Kriminalpolizei. Es gibt so viele Innendienststellen, die ebenfalls in dieses Beurteilungssystem eingebunden sind. Und wir versuchen, ein einheitliches System zu gewährleisten, um keine Ungerechtigkeiten aufkommen zu lassen.”
„Darius”, seufzte Heribert, „sei doch nicht so blauäugig. Du erzählst mir doch auch immer, was sich bei euch so abspielt. Gestern schon wissen müssen, was morgen bereits ungültig sein wird, um heute die richtigen Entscheidungen treffen zu können. Ich dachte auch immer, es geht darum, dass ich schnell und zuverlässig Aufklärung betreibe. Aber nicht nur in der großen Politik, auch bei uns wird dauernd eine neue Sau durchs Dorf getrieben. Dabei haben wir in der Kriminalitätsbekämpfung einen Höchststand bei der Aufklärungsquote – fast 60 Prozent. Und das bei inzwischen jährlich rund 300 000 Straftaten.”
Heribert war nun in seinem Element. Obwohl dieses Thema wohl kaum etwas damit zu tun haben konnte, weshalb ich nach Alzey gefahren war, ließ ich ihn ausreden. Auch Dagmar Keller hielt sich erstaunlich bedeckt. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich in ihrem tiefsten Inneren mit Heribert solidarisch fühlte.
Er war inzwischen aufgestanden und an eines der Fenster hinter seinem Schreibtisch getreten, die auf den benachbarten Schulhof hinausgingen. Er drehte uns den Rücken zu und schwieg für einen Moment. Während ich ihn dabei beobachtete, schweifte ich kurz mit den Gedanken ab.
Was hatten wir in der kurzen Zeit unserer Freundschaft schon alles erlebt und dabei bewiesen, dass wir uns in jeder Beziehung blind aufeinander verlassen konnten. Vielleicht verbanden uns ja die vielen Gemeinsamkeiten, die wir hatten. Beide waren wir nach langjährigen Ehen geschieden, weil wir unsere Frauen hinter den Beruf gestellt hatten. Wir hatten ähnlich gelagerte Interessen und Wertvorstellungen, die manche boshaft als „antiquiert” bezeichneten. Wir mochten und verabscheuten die gleichen Dinge und liebten provokative, jedoch nicht verletzende Streitgespräche. Hin und wieder gönnten wir es uns auch, entgegen unserer beruflich gebotenen und altersgemäßen Seriosität, während der unmöglichsten Situationen herumzualbern wie kleine Jungs. Dennoch wirkten wir dabei, glaube ich, durchaus nicht wie die Komikerpärchen Pat und Patachon oder Dick und Doof. Zumindest nicht, was unsere äußere Erscheinung betraf. Die ehemals volle, inzwischen ergraute, Haarpracht, die wir beide als Jugendliche zur „Elvisfrisur” gestylt hatten (wie alte Fotos unwiderlegbar bewiesen), lichtete sich zusehends.
Heribert war mit seiner Länge von 1,95 Meter nur knapp fünf Zentimeter größer als ich und etwas schlanker, obwohl er in der letzten Zeit etwas zugelegt hatte. Das lag nach seinem Bekunden an den Kochkünsten von Monika Ballmann, seiner neuen Liebe, wie er sagte. Seit ein paar Monaten schwebte er auf „Wolke Sieben”. Er hatte sie im Urlaub kennen gelernt und sie hatte die Chance genutzt, als ihr zufällig innerhalb der Hotelkette, in der sie beschäftigt war, angeboten wurde, sich von Düsseldorf nach Frankfurt versetzen zu lassen. Und nun sahen und bekochten sich die beiden jede freie Minute.
Vielleicht gründete unsere Freundschaft aber auch auf der Tatsache, dass wir beide es als Glückstreffer betrachteten, in unserem Alter – er Anfang und ich Mitte 50 – noch einmal die Chance bekommen zu haben, eine derart kameradschaftliche Beziehung aufzubauen.
„Da”, sagte Heribert und riss mich aus meiner Betrachtung. Auch Dagmar Keller zuckte zusammen. Sie war offenbar ebenfalls mit ihren eigenen Gedanken spazieren gegangen. „Schaut euch die Kids dort an. Um die geht es! Da steckt unsere Zukunft und da liegt die Entscheidung zwischen sozialem Frieden oder Krieg.”
Er deutete nach unten, auf den Schulhof und drehte sich dann wieder zu uns um. „Da lernen oder verweigern sich junge Menschen. Sie tragen auf jede nur erdenkliche Art ihre Konflikte mit sich und mit anderen aus. Sie versuchen sich zu orientieren, finden ihren Weg oder werden verführt und enttäuscht. Da müssen wir Prophylaxe betreiben! Dort müssen wir präsent sein, dann klappt es. Hier …”, er nahm das Dokument vom Tisch, in das er und seine Kollegin so versunken gewesen waren, als ich das Büro betreten hatte. Wie ein Werbefähnchen von McDonalds schwenkte er es durch die Luft. „Da kannst du es schwarz auf weiß lesen. Unsere Kriminalstatistik beweist eindeutig, dass sich die Art der Straftaten beängstigend verschoben hat. Waren- und Warenkreditbetrug, Fälschungsdelikte, Kinderpornografie im Internet, Wohnungseinbrüche haben zugenommen. Das Aggressionspotenzial ist gewachsen. Gewaltdelikte, also gefährliche und schwere Körperverletzung, sind auf circa 10 000 Fälle angestiegen.”