Kitabı oku: «Ach, wenn ich doch unsterblich wäre ...»
Claudia Cardinal
Ach, wenn ich doch unsterblich wäre …
Claudia Cardinal
Ach, wenn ich doch
unsterblich wäre …
Beruhigung in unruhigen Zeiten durch
Sterbeammen und Palliative Begleitung
Impressum
1. Auflage 2020
© Verlag Mainz
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wasser-ruhe-499585/
Abbildungsnachweis (Innen):
Abb. »Zahnziehen«: http://konkykru.com/bb-330-zahn-21.jpg; Abb. »Lebensgeister« freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Sabine Dinkel.
Print:
ISBN-10: 3-86317-038-5
ISBN-13: 978-3-86317-038-7
e-Book:
ISBN-10: 3-86317-052-0
ISBN-13: 978-3-86317-052-3
Teil I
Beruhigung in
unruhigen Zeiten
Kapitel 1
Abschied nehmen
»Mögest du doch mit deiner Krankheit sterben – aber nicht an ihr.«
Unbekannt
Die Drohung
Wann immer sich der Sensenmann meldet, ist es, als würde ein Film abgespielt, der einen andauernden, bedrohlichen Unterton im Hintergrund hören lässt. Zuschauer wissen in diesem Moment, dass sich eine schwere Bedrohung nähert und große Gefahr auf die Held*innen wartet. Der Ausgang ist unsicher. Würde es sich um eine Serie im Fernsehen handeln, so wüssten zumindest alle, dass die Geschichte – und sei es auf noch so abstruse Weise – ein gutes Ende nehmen wird. In Serien gibt es eine Happy-End-Garantie.
Leider ist das Leben kein Film, in dem es mal ein gutes, mal ein ungutes Ende nehmen wird. Alles Lebendige wird eines Tages sterben. Das geht auch jeder Eiche so und sei sie tausend Jahre alt. Wir Menschen haben eine vergleichsweise kurze durchschnittliche Lebenszeit. Mit den etwa achtzig Jahren, die in Mitteleuropa ein Menschenleben im Durchschnitt dauert – von Ausnahmen, wie Helmut Schmidt einmal abgesehen – sind wir eher Eintagsfliegen, verglichen mit einer tausendjährigen Eiche. Ja, wir sind schnelllebig und kurzlebig. Im Grunde ist es uns klar. Doch erst dann, wenn der Tod mit seiner Drohung näher zu uns heran kommt, wird die Theorie zur Praxis. Und das hat für alle Beteiligten fatale Folgen. Wahrscheinlich stellen wir uns den Tod, den Sensenmann meistens deshalb als Mörder vor, der uns hinterrücks holt oder aber von langen Leiden erlöst. Wann das sein wird, wissen wir nicht. Doch spätestens jetzt wird klar, dass irgendetwas Mächtigeres, als wir es sind, darüber zu bestimmen hat. Dann werden wir ziemlich klein und ohnmächtig.
»Ich habe nichts gegen das Sterben. Ich will nur nicht dabei sein, wenn es soweit ist.«
Woody Allen
Den Tod nur unter philosophischen Gesichtspunkten oder gar durch die Augen des Statistikers zu betrachten, ist eine sehr theoretische Angelegenheit. Mit dem Tod ändert sich alles, ganz einfach alles und es ist vorbei und ausgelöscht, was einmal war. Egal, was ein Mensch denken und sich vorzustellen vermag: das ganz eigene, persönliche Universum wird ausgelöscht und von einem Tag auf den anderen vernichtet.
Die mahnende Schrift an der Wand …
Totentänze sind Wandmalereien aus Zeiten, in denen nur wenige der Schrift mächtig waren. Deshalb wurden Zusammenhänge durch Wandbilder verdeutlicht. Auf den Totentänzen des Mittelalters trat der Sensenmann in Form eines Gerippes in Erscheinung. Dieses Gerippe – der Tod – holt früher oder später alle zu sich. In diesen »Comics« früherer Zeiten trat er einmal neben ein Kind, dann erschien er neben einem Landmann, er war an der Seite des Pfaffen und an der Seite des Grafen oder Königs. Auch das junge Mädchen hatte den Sensenmann neben sich stehen. Es wird angenommen, dass die Totentänze in den Zeiten der Pest entstanden sind. Die Kirche nutzte die Malereien dann in ihrem eigenen Sinne als mahnendes Bild für die Sünde, die in jedem Tanz liegt und den Tod nach sich zieht. Doch die spätmittelalterlichen Totentänze und ihre Nachfolger in der Frühen Neuzeit besaßen offensichtlich noch einen anderen Zweck: Kritik an vermeintlich überkommenen Gesellschaftsstrukturen. Die Bilder bedeuteten, dass der Tod in seiner Erscheinung alle Menschen durch seine Macht gleich behandelte und damit natürlich letztlich auf eine einzige Stufe stellte. Er macht nicht vor jungen Menschen Halt, geschweige denn vor Kaisern und Pfaffen! Ja, es bleibt, wie es ist: alle Menschen sind sterblich!
Ein Fluch lastet auf uns – Freikaufen unmöglich
Jede schlechte Diagnose ist ein Fluch, der nicht so einfach wieder abgeschüttelt werden kann. Das geht Menschen mit einer Allergie ähnlich: Allergien sind – nach medizinischen Gesichtspunkten – kaum heilbar und können nur durch Meidung der allergenen Substanz und symptomhemmende Medikamente gelindert werden. Nun sind Allergien extrem lästig, doch der Sensenmann ist in der Regel keineswegs der Begleiter dieser Krankheit. Dennoch wissen die Betroffenen, dass sie der Allergie nicht entrinnen können. Und das ist bei sehr vielen chronischen Krankheiten – wie bei der Diagnose Demenz – auch der Fall. Auch das sind Flüche, vor denen es kein Entrinnen gibt.
Der Tod allerdings, wenn er sich – z.B. durch eine lebensbedrohliche Erkrankung – meldet, kann ein endgültiges Todesurteil mit sich bringen. Das ist ein Urteil, bei dem den Betroffenen oftmals unklar ist, weshalb dieses ausgerechnet SIE und dazu ausgerechnet JETZT getroffen hat. Und wenn es um eine Begleitung durch eine palliative oder hospizliche Einrichtung geht, so steht in fast allen Fällen eine Krebserkrankung im Hintergrund.
In der überwiegenden Zahl der Fälle wird dieses (Todes-)Urteil erst einmal dadurch abgemildert, dass die Betreffenden sich in eine Untersuchung und die unweigerlich darauf folgende Behandlung begeben. In Fällen einer Krebserkrankung ist dies jene Abteilung, die sich mit den onkologischen Behandlungen beschäftigt (aus dem griechischen Onkos = »geschwollen«).
Himmel und Hölle – ist gar kein Kinderspiel
Jetzt beginnt das eigentliche Spiel von »Himmel und Hölle«. Mit bangem Herzen und klammen Gedanken werden jede folgende Untersuchung und deren Ergebnisse furchtsam erwartet. Besonders schlimm wird es dann, wenn wiederholte Untersuchungen gemacht werden müssen, um möglichst genaue Ergebnisse zu bekommen. Die – oftmals lange – Wartezeit ist für die Betroffenen eine der Schlimmsten, denn ihre Gedanken pendeln tatsächlich zwischen Himmel und Hölle. »Himmel« würde bedeuten: Falsches Ergebnis und die »Hölle« heißt dann: Das Todesurteil! Es gehört entweder eine Menge an Mut oder eine gehörige Portion Verdrängung dazu, diesen Schwebezustand abwarten und aushalten zu können. Möglicherweise schiebt sich die besondere Form an Fassungslosigkeit als Puffer dazwischen, die von Elisabeth Kübler-Ross als »Nicht-Wahrhaben-Wollen« bezeichnet wurde. Es gibt immer wieder Menschen, die diesen Zustand durchaus lange aushalten können. In diesem Schwebezustand erwarten alle Beteiligten das, was als Endergebnis kommen mag. Verdichtet sich jetzt ein Verdacht, dann platzt die Bombe. Ob eine freundlichere, hoffungsvollere, achtsamere Überbringung von Nachrichten und Diagnosen nicht einiges an diesem furchtbaren Elend lindern könnte?
Eine lebensbedrohliche Diagnose bedeutet, dass entweder Aufschub gestattet wird, was heißt, das Leben geht weiter oder aber der Abschied naht! Und da es niemandem gewährt wird, in die Zukunft sehen zu können, so wissen wir spätestens jetzt, dass neben jedem noch so löblichen medizinischen Ansatz die eigentliche Regie aus einer anderen Dimension kommt und ab jetzt auch von dieser übernommen wird. Die Wahrscheinlichkeit, an einer lebensbedrohlichen Diagnose zu sterben, ist hoch. Sicher jedoch ist sie nicht.
Ja, es sind sehr besondere Monster, die ab diesem Moment den Alltag der Betroffenen und ihrer gesamten Umgebung packen. Diese Monster mischen sich in alle Gedanken ein. Und diese Gedanken, die den Horror der Zukunft genüsslich zelebrierend ausbreiten, sind ab jetzt Mitbewohner in einem neuen Alltag. Dieser neue Alltag sehnt sich oftmals nach jener Normalität, die gefühlte Unsterblichkeit nun einmal mit sich bringt.
»googeln« ist ein Verb geworden. Und munter wird gegoogelt, wie meine 5-Jahre-Überlebensrate aussieht – statistisch gesehen! Ich bin also eine Zahl geworden. Das ist Monsterfutter der besten Sorte. »Fressnapfparadies für Monster« – Juchhee!
Unbekannt
Er benutzt Statistiken wie ein Betrunkener Laternenpfähle – zur Unterstützung, nicht zur Beleuchtung.
Andrew Lang
Fremd
Die Betroffenen stehen fassungslos vor den Scherben ihres bisherigen Alltags. So ähnlich muss es sich anfühlen, sich auf einem falschen Planeten zu wissen. Der Sensenmann hat geklopft und die eigene Unsterblichkeit fraglich werden lassen. Wie in der Fremde üblich, kommt gleichzeitig eine unbekannte und vollkommen unverständliche Sprache mit besonderen Lauten auf die Betroffenen hinzu. Das ist die Sprache der Medizin. Menschen ohne medizinische Ausbildung (also nicht Muttersprachler*innen) stehen hier vor einer besonders klugen Spezialeinheit (scheinbar) Wissender. Sehr schnell werden in der Folge Fachausdrücke, deren Bedeutung nur wenige kennen und einordnen können, in den eigenen Sprachgebrauch integriert. Fraglich ist, ob sie begriffen werden können. Und gleichzeitig sind so viele Betroffene als Aliens auf ihrem neuen Planeten damit beschäftigt, sich und ihre neue Situation wieder zu ordnen. Sie laufen fast staunend durch diese bislang unbekannte Welt, ohne zu begreifen, wo sie sich jetzt befinden. Das ist in der Fremde normal.
»Fremder! Was guckst du so?« – »Ich bin drei Tage scharf geritten und ich warte, dass meine Seele hinterher kommt.«
Postkartentext
Fremdsprachen lernen: die Onkologie
Dieses Spezialgebiet der Medizin beschäftigt sich mit allen gut-und bösartigen Diagnosen im Tumorgeschehen. Die Waffen, die in der Onkologie eingesetzt werden, sind darauf angesetzt, Tumore zum Verschwinden zu bringen. Zu den Waffen gehören
Operationen
Chemotherapien/Zytostatische Behandlungen mit Medikamenten
Bestrahlungen verschiedener Arten
Hormonblocker, bei entsprechender Indikation
Immuntherapien, die sich bislang vielfach noch in Erforschung befinden
In diesen Fachbereich gehören auch alle dazugehörigen Nebenwirkungen und viele, viele Medikamente, die wieder gegen Nebenwirkungen eingesetzt werden können (siehe auch: Gutes Leben! Trotz Krebs und schwerer Krankheit, Claudia Cardinal, Herder 2016).
Aus! Therapiert! Austherapiert! Aus die Maus!
Es gibt immer wieder Menschen, die gesund und munter sind, obwohl sie vor Jahren oder Jahrzehnten eine lebensbedrohliche Diagnose mit allen dazugehörigen Folgen bekommen hatten. Und es gibt viele Menschen, die an der diagnostizierten Krankheit sterben und sich so oder so auf ihren Abschied vorbereiten müssen. Auch hier gilt die Auseinandersetzung mit dem Abschied für alle Beteiligten.
Irgendwann scheint die Weisheit aller medizinischen Prognosen, aller medizinischen Wahrscheinlichkeiten und all ihrer Möglichkeiten am Ende zu sein. Das ist der Moment, in dem jede angesetzte Behandlung nur noch lindernd sein kann. Es geht nicht mehr darum, einen betroffenen Menschen zu heilen. Diese Erkenntnis ist für alle schwer.
Was soll ich nur sagen? Und vor allem: Wie?
Auf der einen Seite haben wir die Sprachlosigkeit der Mediziner*innen, die gleichzeitig unsere eigene ist. Sterben ist in unserem Lande eine ganz und gar private Angelegenheit. Viele Menschen haben noch nie einen Toten gesehen – unabhängig davon, ob wir eine jahrzehntelange Hospiz- und Palliativbewegung haben oder nicht. Und wer denkt, dass jetzt alle Menschen einen friedlichen, würdevollen Abschied Dank der Palliativbewegung genießen können, hat sich getäuscht. Sterbende – und besonders Tote – werden versteckt. Selten dringen die Informationen über einen bevorstehenden Abschied über das persönliche Umfeld hinaus. Und so geschieht auch das Sterben in der alltäglichen Realität ganz anders, als wir es uns erwünschen und erträumen. Und es steht die Frage im Raum, weshalb Tote sofort, nachdem sie gestorben sind, abgetrennt werden von allem Lebendigem und ebenso schnell entsorgt werden. Es gilt quasi die Prämisse: »Aus den Augen aus dem Sinn.« Das jedoch ändert an den Tatsachen ebenso wenig, wie es die Folgen lindert – ganz im Gegenteil! Auf seltsame Weise gelangen Tote immer in Kellerabteilungen, obwohl sie doch noch gar nicht begraben sind (siehe auch: Karl Ove Knausgard: Sterben). In Großstädten erinnert auch kein Glockenläuten an einen Todesfall, schwarze Trauerkleidung und Beerdigungszüge fehlen und sogar die Leichenwagen sind als solche kaum mehr zu erkennen, so dezent und diskret tritt der Tod in unserem Alltag auf. Außer in Filmen: hier wird das ganze Spektakel richtig aufwändig zelebriert.
K. hatte schon vieles hinter sich gebracht: Seine Diagnose, Operationen, zytostatische Behandlung und Strahlentherapie. Und jetzt hatten Ärzte ihm angeraten, in die Palliativabteilung zu wechseln. K. saß in seinem Rollstuhl und stierte nur vor sich hin. Und dann ging noch einmal die Tür auf und ein Spezialistenteam kam herein und setzte sich. »Nun«, sagten sie, »noch muss man den Kopf nicht hängen lassen. Wir haben doch noch die Protonenbestrahlung!«. K. richtete sich auf. Später dachte er: »Doch was um Gottes Willen muss man denn eigentlich tun, wenn man den Kopf hängenlassen muss?«
A. erzählt: »Mein Onkologe sitzt hinter seinem Schreibtisch und schaut auf meine Blutwerte auf dem Flachbildschirm. Es geht mir nicht gut und ich habe Schmerzen. Er plädiert für eine weitere Untersuchung. Allein die Vorstellung treibt mir Tränen in die Augen. Doch dann kann ich eine Frage stellen: »Habe ich es richtig verstanden, dass ich 56 Gray Bestrahlung bekommen habe?« Mein Onkologe nickt. »Und habe ich es auch richtig verstanden, dass ich als maximale Dosis im Leben 60 Gray bekommen kann?« Mein Onkologe nickt.
Ich weine, denn ich weiß, was das heißt. Jetzt schiebt er den Bildschirm beiseite, schaut mir direkt ins Gesicht und sagt: »Wir können es auch ganz anders machen. Sie bekommen alles, was sie brauchen, damit es Ihnen körperlich gut geht und sie machen sich ihre Zeit schön!« Ob mein Arzt genauso viel Angst hatte, wie ich selbst?«
Alle Ohnmacht geht vom Volke aus
Wir bewundern und wir fürchten die moderne Medizin und besonders ihre Vertreter. Sie scheinen schwer fassbare Adepten einer Geheimwissenschaft zu sein, von denen wir Gesundheit erwarten. Wir erhoffen uns Wunder! Doch auch für Wunder ist anzunehmen, dass es andere Dimensionen sind, die dafür zuständig sind. Wunder sind keine Disziplin einer Naturwissenschaft. Die Medizin ist eine Wissenschaft, die sehr genau weiß, dass Wunder nicht in ihr Repertoire gehören. Passiert ein Wunder, so hat es nichts mit der Medizin an sich zu tun. Dieser Zustand an sich hat mit uns Menschen nur noch wenig gemein.
Und diese Erkenntnis unserer letztendlichen Hilflosigkeit und Machtlosigkeit bedeutet ohnmächtig vor »Etwas« zu stehen und kein (Zauber)Mittel mehr zu wissen, um einen Prozess, der unweigerlich auf einen bestimmten Punkt zusteuert, stoppen zu können. Hier fällt all unsere Macht in sich zusammen und kumuliert in einer abgrundtiefen Ohnmacht. Und dies ist die Ohnmacht einer ganzen Menschheit. Der besondere Fluch des austherapierten Zustandes ist der Moment, in dem allen klar ist: Aus die Maus!
Habe Mut zu leben, sterben kann jeder.
Unbekannt
Es gibt viele Gedankenmodelle zu der einfachen Frage: »Was würdest du jetzt tun, wenn du morgen sterben würdest?« Ob wir das, was wir jetzt gerade tun, weiter tun würden? Daraus resultiert dann auch der Satz: »Jetzt oder nie!«. Es sind nur wenige Alltagsmomente, in denen uns dieses Maß an Freiheit klar wird. Und dann rutscht diese Klarheit wieder weg und wir gehen davon aus, dass alles immer weiter laufen wird, denn unser eigenes Sterben oder das unserer Lieben ist unvorstellbar. Denn dann ist »Alles anders« – von einem Moment auf den anderen. Es ist schwer, dem eigenen Tod ins Auge zu sehen.
Und so beobachten wir weiter Morde und deren Aufklärung im allabendlichen TV-Programm, in Computerspielen und in Romanen und sind bei dieser entspannenden Freizeitbeschäftigung weit davon entfernt, den eigenen Abschied mit dem inszenierten Tod in Verbindung zu bringen.
Den Mächtigen gehört die Welt
Es gibt einige Namen für die Instanzen, die letztlich über unser Leben und unser Sterben entscheiden. Das ist ebenso von verschiedenen Glaubensmodellen abhängig, wie von der Kultur, in der wir aufgewachsen sind. Wie wir uns auch drehen und wenden mögen – die Regie führt eine andere Dimension wenn es um das Leben oder um das Sterben geht. Irgendwann ist unsere kontrollwütige Macht am Ende ihrer Weisheit und uns bleibt nichts anderes übrig, als pragmatisch, fatalistisch oder aufbäumend diese Macht anzuerkennen.
Wer immer über einen tiefen Kinderglauben verfügt, hat es möglicherweise einfacher, den eigenen Abschied – oder den unserer Lieben – anzunehmen. Denn dann würde »Alles gut werden«. Wem ein solcher Glauben keinen Halt geben kann, wird sich letztlich vor der Instanz »Natur« verbeugen müssen. Denn unabhängig davon, ob es eine geistige Dimension gibt oder nicht, sind es die Wege der Natur und ihren ganz eigenen Gesetzen, die ab jetzt Regie führen.
Folgende Instanzen sind für jeden weiteren möglichen Ausgang des Geschehens angesichts des Abschieds oder Weiterlebens verantwortlich:
Gott, göttliche Dimension
Der Tod
Das Leben
Das Schicksal
Ein Schutzengel
Die Natur
Die Umweltverschmutzung durch uns Menschen
Sie sind es, die verantwortlich dafür sind, was weiter geschehen wird. Und wer weiß, ob diese großen Instanzen nicht doch in irgendeiner Weise zu einer Zusammenarbeit bereit sind? Möglicherweise sind sie uns wohl gesonnen. Und Heilung muss letztendlich nicht Weiterleben bedeuten. Auch ein friedlicher und schöner Tod kann für die Betroffenen und ihre Umgebung eine große Heilung in sich bergen. Es kann gut angehen, dass unser menschliches Dasein zu klein ist, um wirklich große Gedanken oder Vorstellungen in sich zu tragen, geschweige denn, sie entwickeln zu können.
Trümmerhaufen
Viele Menschen haben ihren tiefsten Glauben nicht in die oben angegebenen Instanzen, sondern in die Fähigkeiten und Möglichkeiten der Wissenschaften. Ihnen wird ihr bisheriger Glaube in dem Moment in tausende kleine Enttäuschungsscherben zerschmettert, in dem die Diagnose »austherapiert« im Raum angekommen ist. Die Enttäuschung darüber kann ins Gegenteil umschlagen und in tiefes und bitteres Misstrauen gegenüber jeder Medizin münden.
B. erzählt vom Tod ihres Vaters: »Die Ärzte haben etwas falsch gemacht! Als er ins Krankenhaus kam, hätten die doch etwas tun müssen! Und in der letzten Operation ist er dann gestorben. Er hätte nicht sterben müssen! Ich werde die Ärzte verklagen!« Leider war der Vater von B. ins Krankenhaus gekommen, weil seine metastasierenden Krebserkrankung ihm akute Schmerzen bereitet hatte.
Für Wunderheilungen fragen Sie nicht Ihren Arzt oder Apotheker ...
Kaum etwas bringt die Betroffenen von dem Gedanken ab, auf irgendeine Weise ihre eigene Lebenszeit zu verlängern. Und wenn es nicht die Naturwissenschaft ist, dann ist es jede andere Sparte, die Heilung bringen soll.
Auf der verzweifelten Suche nach einem Wundermittel ist oftmals auch jedes Mittel recht. Hier ist Tür und Tor offen für alle, die mit Wundern heilen wollen. Das geht oft nach dem Motto: je exotischer, desto besser.
Der Padparadscha
Hierbei handelt es sich um einen Saphir in einer leicht rosa Farbe, die Lotusblüten ähnelt. Es ist ein ebenso wertvoller, wie seltener Stein und entsprechend teuer. Ein Edelsteinhändler I. berichtet. Er hat folgende Begebenheit erlebt: ein Mann in einem ziemlich ausgemergelten Zustand kam zu seinem Messestand. Er zeigte I. einen schönen Padparadscha, den er von einem Heiler erstanden hatte. »Dieser Stein wird mein Leben retten«, sagte er zu I. und nannte den Preis, den er für den Heilstein bezahlt hatte. I. kennt sich mit Steinen aus. Er sah den Stein an, sah, dass er schön war und wusste gleichzeitig, dass der kranke Mann etwa einen doppelt so hohen Preis für ihn bezahlt hatte, als er auf dem Markt wert war.
Viele von den Substanzen, die in der Naturheilkunde verwendet werden, können durchaus ihren Sinn haben und wahrscheinlich sind etliche unter den Heiler*innen, die guten Willens und grundehrlich und in ihrem Gebiet echte Könner sind. Doch meist kommen Betroffene erst dann, wenn bereits alle Anzeichen auf »Abschied« stehen und ein Krankheitsprozess schon sehr weit fortgeschritten ist. Dann können auch so gesunde Mittel, wie z.B. Himbeeren, Brokkoli, Yoga, Heilpilze, Kurkuma oder Vitamin C usw. das Ruder auch nicht mehr herumreißen.
»Hilft Chaga bei Krebs?«
»Wenn an deinem Auto der Rückspiegel kaputt ist, dann wahrscheinlich ›Ja‹. Sollte jedoch die Bodenplatte kaputt sein, dann wird Chaga dir nicht mehr helfen können.«
Estnische Erklärung von Verkäufern eines Heilpilzes Chaga
Palliative Begleitmöglichkeiten
Wer übers Wasser gehen will, braucht ein Wunder
oder etwas Unterstützung.
Brigitte Fuchs
Gestorben wird immer – der Abschied vom Leben in Utopie und Realität
In Deutschland starben im Jahr 2017 etwa 930.000 Menschen. Und etwa diese Anzahl verstirbt jedes Jahr aufs Neue. Umgeben sind die Betroffenen meist von einem ganzem Umfeld an Menschen, die auf ihre ganz eigene Weise den Weg durch ihre Trauer finden. Und zu denken, ein Trauerprozess, sei nach einem Jahr abgeschlossen, ist fehl gedacht. Trauer ist ein Langzeitprogramm. Und jedes Jahr kommen Tausende hinzu, deren Leben einen Einschnitt durchgemacht hat, der bleibende Spuren und manchmal Narben hinterlässt.
Es gibt viele verschiedene Ansätze für die Begleitung von Menschen, die sich in einer Lebenslage befinden, die eine palliative Begleitung erfordert. Selbstverständlich sollen körperliche Schmerzen durch jede Möglichkeit, die sich in der palliativen Medizin finden lässt, genutzt werden. Erst dann ist die Voraussetzung dafür gegeben, aus der Lebenszeit eine gute Zeit zu gestalten und diese ebenso wertvoll zu nutzen.
Wer Menschen befragt, wie sie reagiert haben, als sie selbst einmal dem Tod ins Auge gesehen haben und vielleicht haarscharf an ihrem eigenen Tod vorbei gekommen sind, kann Erstaunliches vernehmen: sie berichten davon, dass die Situation ihnen erschien wie ein Film, den sie selbst angeschaut haben, innerlich seltsam distanziert und dennoch beobachtend. Die Betroffenen waren gleichzeitig plötzlich in großer Klarheit dazu in der Lage, Wichtiges und Unwichtiges voneinander zu unterscheiden. Und viele Menschen antworten dann, wie sie liebevoll an ihre nahen Menschen in der Umgebung gedacht haben oder auf die Knie gefallen sind, um zu beten.
Die Macht von Katastrophen
Zeugnisse des schrecklichen Ereignisses 9/11 von New York geben Zeugnis davon, was ein Menschen zu tun vermag, wenn die Aussichtslosigkeit des Weiterlebens Realität wird und der Tod einem vor den Augen steht. Viele der betroffenen Menschen, die ihre Ausweglosigkeit begriffen hatten, riefen ihre Lieben an und sagten ihnen ihre letzten Worte, die voller Liebe und Dankbarkeit waren. Weshalb tun wir das nicht zu unseren Lebzeiten, sondern immer nur dann, wenn tatsächliche große Gefahren auf uns einstürmen? Dies könnte eine Inspiration sein, sofort damit anzufangen, liebevoll, aufmerksam und freundlich zu unseren Mitmenschen zu sein.
Die Frage, was angesichts unseres Sterbens wichtig ist und was unwichtig ist, stellt sich jedoch letztlich allen, die sich in irgendeiner Form mit ihrem Abschied von der Erde auseinandersetzen müssen und sich der palliativen Begleitung nähern.
Es betrifft alle ...
Das Wissen und die Klarheit und die Bewusstheit über das eigene Ende sind große Herausforderungen. Es ist deshalb auch nur allzu verständlich, dass viele Menschen jede Auseinandersetzung mit dem Thema vermeiden. Zu dicht käme einem die Tatsache der eigenen Endlichkeit nahe. Doch diese Herausforderung benötigt Unterstützung von außen. Betroffene sind dem »Spiel von Himmel und Hölle«, also »Hoffen und Bangen« ebenso ausgesetzt, wie ihre ganze Umgebung. Und die Umgebung besteht nicht nur aus Verwandten, sondern auch aus dem Freundes- und Bekanntenkreis, Nachbarn, Kolleg*innen usw. Diese verfolgen alles, was an Schritten auf diesem Weg geschieht mit banger Aufmerksamkeit. Gleichzeitig wissen die Betroffenen oftmals nicht, wie sie dieser Herausforderung begegnen sollen. Wahrscheinlich sind deshalb Floskeln, die niemandem wirklich hilfreich sind, an der Tagesordnung. Nur wenige Menschen im Umkreis schaffen es, die Betroffenen offen zu fragen, wie es ihnen geht, offen ihre eigenen Gedanken zu teilen und den Betroffenen ebenso offen Unterstützung anzubieten.
»Habt ihr gesehen? Else hat zwei Stück Kuchen gegessen. Gottseidank!«
Eine Bekannte von Else in der Küche zu anderen, die gemeinsam beim Kaffeetrinken zusammen gesessen haben. Else befand sich mitten in der zytostatischen Behandlung.
Mut kämpft ohne Degen.
Sprichwort
In der Begleitung von Menschen, die austherapiert sind und sich den »letzten« Fragen – wie es so schön heißt – stellen müssen, braucht es Individuen, die bereit sind, sich dem Unaussprechlichen zu nähern und ebenso bereit sind, tagtäglich mit Leid und mit den begleitenden Fragen konfrontiert zu werden. Und es gibt tatsächlich nicht wenige Personen, die diesen Mut aufbringen.
Verschiedene Disziplinen und Fachgebiete haben sich entwickelt – und entwickeln sich noch – um die vom Abschied betroffenen Menschen einzubinden, ihnen Unterstützung anzubieten, auch wenn fast jede Fachrichtung – auch die der Medizin mit Ausnahme der Palliativmedizin – »die Schultern hängen lässt« und ohnmächtig mit ansehen muss, wie ein ganz und gar natürliches Geschehen, der Abschied vom Leben, seinen Lauf nehmen wird.
Wie lange lebt der Mensch?
Lebt er 1000 Jahre oder nur ein einziges?
Lebt er eine Woche oder mehrere Jahrhunderte?
Wie lange stirbt der Mensch?
Was heißt eigentlich für immer?
Unbekannt
Das Lebenserhaltende ist die Vielfalt.
Richard Freiherr von Weizsäcker
Monokulturen zeigen nicht nur in der Natur ihre Schattenseiten. Monokulturen bergen immer die Gefahr in sich, dass nach festgefahrenen Schemata gehandelt wird und jede individuelle Erscheinung sich dem Gesamtkontext anpassen muss. In Monokulturen stirbt jede Vielfalt. Das geschieht sowohl auf unseren Feldern, wie auch in jeder anderen Sparte, die sich mit verschiedensten Themen beschäftigen kann. Auch die Kunst und die Naturwissenschaften sind in der Lage Monokulturen zu züchten.
Aus diesem Grunde gibt es auch in der Begleitung von Menschen, die eine palliative Behandlung benötigen – neben allen medizinischen Behandlungen – eine Vielzahl an Angeboten, die den Betroffenen und ihrem gesamten Umfeld eine weiterreichende und ihrer persönlichen Fragestellung entsprechende Unterstützung geben können. Im besten Falle arbeiten die verschiedenen Instanzen, die hier Beistand leisten können, gemeinsam und Hand in Hand.
Dann könnte, ganz im Sinne aller Beteiligten, jedes Fachgebiet die eigenen Kenntnisse mit einbringen und gemeinsam, an einem Strang ziehend und arbeitend, Betroffenen mit ihren offenen Fragen und Zweifeln eine Unterstützung aus dem bedenklich-schweren Problem bieten.
Die Finger sind der Stolz der Hand.
Sprichwort aus dem Senegal
Es wird angenommen, dass – auch durch zunehmendes Älterwerden – die Zahl der Neuerkrankungen an Krebs in den nächsten Jahren ansteigen wird. Das erfordert auch in der individuellen Begleitung Fachbereiche, die sich – über jede medizinische Behandlung hinaus – den vielfältigen Problemen und Fragestellungen der Betroffenen und ihres Umfeldes widmen.
Die Unterstützung
Beistand in einer Krankheitssituation, in denen keine Heilung in Aussicht steht, kann durch folgende Teams und Dienste gefunden und durch sie geleistet werden:
Soziale Dienste / Krankenkassen / MDK der Krankenkassen
Palliativmedizin
Palliativ-Care / Spiritual-Care
AAPV (Allgemeine ambulante Palliativversorgung)
SAPV (Spezialisierte ambulante Palliativversorgung)
SAPPV (Spezialisierte ambulante pädiatrische Palliativ-versorgung)
SAGPV (Spezialisierte ambulante geriatrische Palliativversorgung)
Hospizbewegung (ambulante/ stationäre)
Onkolots*innen
Psychoonkolog*innen
Sterbeammen / Sterbegefährten
Kapitel 2
Was ist Palliative Begleitung?
Das Wort »palliativ« stammt aus dem lateinischen Wortschatz und beinhaltet »pallium« = »der Mantel«, bzw. »palliare« = »mit dem Mantel bedecken«, »umhüllen«.
Palliativmedizin, die Definition:
Behandlung von Patienten mit einer nicht heilbaren, [weit] fortgeschrittenen Erkrankung mit begrenzter Lebenserwartung mit dem Ziel, die Lebensqualität des Kranken zu erhalten oder zu verbessern
Wenn man friert, passt jeder Mantel.
Unbekannt
In der Medizin werden verschiedene Behandlungsansätze unterschieden. Wird eine »kurative« Behandlung angesetzt, wird davon ausgegangen, dass die Erkrankten wieder vollständig gesund werden. Anders ist es bei einer »palliativen« Behandlung. Hier wird nicht mehr davon ausgegangen, dass die Betroffenen wieder gesund werden. Sie werden dahingehend behandelt, dass ihnen Schmerzen und Ängste so weit gelindert werden, dass ihre Lebensqualität erhalten bzw. verbessert werden kann. Eine palliative Behandlung geht also von einem chronischen Verlauf bis zum Tode aus. Häufig findet auch eine »supportive«, also eine unterstützende medizinische Behandlung statt. Das bedeutet, dass z.B. durch Bluttransfusionen eine Unterstützung gegeben werden kann. Auch dann, wenn eine weitere Tumortherapie eher schaden, als nutzen würde, die Behandlung abgesetzt wird und gleichzeitig Symptome gelindert werden, handelt es sich um eine supportive Behandlung.