Kitabı oku: «Geschichten des Windes», sayfa 10

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Sechzehn

- 1697 -

Der übernächste Morgen brach an und die glühend-rote Sonne tauchte das Meer in ein sphärisches Orange. Gleichmäßig schlugen die Wellen bei gutem Wind an den Schiffsrumpf. Sean schaute sich das Schauspiel von der Reling aus an. Das Wort friedlich schoss ihm durch den Kopf und er nickte zufrieden.

Au! Seine Rippe wollte ihm die Ruhe nicht gönnen. Jede Bewegung des Oberkörpers tat weh. Vielleicht sollte ich doch einmal Aderito aufsuchen. Sean hatte sich nicht getraut, weil er nun wusste, dass er bei Piet falsch gehandelt hatte. Nach Aderitos kleiner Versammlung gestern wusste jeder auf dem Schiff, wie man sich in so einem Fall wie Piets richtig verhalten würde. Daraufhin ertappte Sean seine Mitmatrosen immer wieder dabei, wie sie über ihn redeten und dabei den Kopf schüttelten. Doch das würde vergehen, redete Sean sich ein.

Die Mannschaft hatte jetzt 37 Tage seit dem Auslaufen in Lissabon kein Land mehr gesehen und für Sean entwickelte sich dies als große Herausforderung. Er musste an den geheimnisvollen Autor denken, der berichtete, ganze 68 Tage ohne Land gewesen zu sein. Bisher war für Sean das Festland selten mehr als einen Tag außer Sichtweite gewesen. Denn auch im Mittelmeer folgte man meist den Küstenlinien. Bei so einem kleinen Meer konnten sich auch die Wellen nicht so hoch auftürmen wie im Ozean. Es war eine ganz andere Sache, auf dem Atlantik zu segeln, was Sean ja schmerzlich bei dem letzten Sturm gemerkt hatte. Wieder einmal bewunderte er Wilhelms Navigationskunst. Ihr nächstes Ziel war die Inselgruppe der Azoren. Würden sie diese Inseln überhaupt finden? Wenn nicht, wäre das ihr sicherer Tod, weil sie unbedingt ihre Vorräte wieder auffüllen mussten, wenn sie in die Neue Welt kommen wollten. Sean fühlte sich verloren, rings um ihn Wasser, und es überstieg seine Vorstellungskraft, wie viel Wasser es sein mochte. Die Zeeland war zu einer Ameise geschrumpft und es würde nicht auffallen, wenn das riesige Meer sie einfach verschluckte. Sean lief es kalt den Rücken hinunter und er versuchte, an etwas Erfreulicheres zu denken.

Sean und Arthur würden die nächste Wache gemeinsam Dienst haben und waren zum Kochen eingeteilt. Piet ging es zwar immer besser, aber er durfte sein Bein nicht belasten. Also war der Speiseplan alles andere als appetitlich, weil keiner aus der Mannschaft je einen Kochlöffel geschwungen hatte. Während sie mühsam eine Zwiebelsuppe vorbereiteten, konnten sich die Freunde ungestört unterhalten. Arthur stand treu zu Sean und schaute ihn nicht so vorwurfsvoll an wie die anderen. Weil es auf dem Schiff so viel zu tun gab und sie häufig unterschiedliche Wachen hatten, sahen sich die beiden oft eine ganze Weile nicht. Der gewohnte Austausch fehlte ihnen.

Sean hatte schon bemerkt, dass das Segeln für Arthur nicht so eine Erfüllung war wie für ihn. Aber sein Freund fügte sich der harten Arbeit und schien sich durch seine soziale Art mit den meisten Matrosen gut zu verstehen. Er war ein Mensch, den man einfach mögen musste.

Sean stand sich oft selbst im Weg, weil er über so vieles nachdenken musste und viel kritischer an die meisten Dinge heranging. Häufig war er unsicher im Umgang mit anderen Menschen. Vielleicht lag es an seiner Veranlagung - er ertappte sich immer häufiger dabei, ähnlich menschenscheu wie sein Vater zu reagieren - aber auch seine anfangs so isolierte Kindheit trug sicher dazu bei.

Besonders große Schwierigkeiten hatte Sean mit Raul, dem 1. Steuermann. Der relativ kleine, äußerlich unscheinbare Mann spielte sich durch sein aufdringliches Verhalten in den Mittelpunkt und glich so seine fehlende Größe wieder aus. Seine laute, schnarrende Stimme konnte man schon von Weitem hören und sobald er in der Nähe war, erstarben alle Gespräche. Es war einfach unmöglich, sich vernünftig zu unterhalten, wenn er in der Nähe war. Raul hatte immer etwas zu erzählen. Oft vergaß er, englisch zu sprechen und redete einfach unaufhörlich in seiner Muttersprache Katalanisch. Raul kam aus Andorra, einem Land, von dem Sean noch nie zuvor gehört hatte. Als Sean Wilhelm am Anfang der Reise zu dessen 1. Steuermann befragte, erzählte er ihm, dass Andorra in einem Hochtal der Pyrenäen zwischen Spanien und Frankreich liege. Es wäre sehr einsam und gebirgig dort. Sean konnte sich vorstellen, dass sich bei Raul diese Einsamkeit aufgestaut hatte und nun hervorbrach. Aber trotzdem: Raul war ein anstrengender Zeitgenosse und Sean fragte sich, wie er zum Posten des 1. Steuermanns gekommen war.

„He! Du Träumer!“ Arthur stieß seinen Ellenbogen in Seans Seite.

„Au!“ Sean krümmte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht. „Wie oft soll ich dir noch sagen, dass meine Rippe gebrochen ist?“, presste er hervor.

„Oh, tut mir leid!“ Arthur legte das Messer hin und wollte Sean die Hand auf die Schulter legen. Dieser zog sich zurück und krümmte sich erneut.

„Diese verdammte Rippe!“

„Wie geht`s dir eigentlich? Piet wird schon wieder!“, wollte Arthur ihn aufmuntern.

„Geht so“, murmelte Sean. Er wollte an dieses Thema nicht denken. Er hatte sich schon genug den Kopf darüber zerbrochen. „Und dir?“

Arthur kämpfte immer noch mit sich. Eigentlich wollte er seinem Freund erzählen, dass er einen Brief an seine Eltern geschrieben hatte, aber er fürchtete sich vor Seans Reaktion.

„Prima! Ich wollte schon immer mal eine Suppe kochen“, versuchte er seine gedrückte Stimmung zu überspielen. Den beiden liefen schon die Tränen vom Zwiebel schneiden. Die Lebensmittel wurden langsam knapp und es gestaltete sich immer schwieriger, etwas Vernünftiges auf den Tisch zu bekommen. Sie konnten eigentlich nur hoffen, dass ihnen bis zu ihrem nächsten Ziel genug Fisch ins Netz ging und das Trinkwasser reichen würde. Die Tagesrationen schrumpften schon.

Sean hatte auch schon länger etwas auf dem Herzen.

„Wie findest du eigentlich diese Reise? Weg von Europa?“

„Hm, bis jetzt noch nicht so toll, aber ich hoffe, wir werden viele aufregende Dinge erleben“, sagte er diplomatisch. Auf ihren vorherigen Reisen hatte Arthur immer das Gefühl, nicht allzu weit von zu Hause entfernt zu sein und redete sich dann immer wieder ein, jederzeit wieder nach Dunnottar Castle zurückkehren zu können. Aber jetzt…. Ihr Ziel war nicht nur weit weg, sondern auch durch diesen riesigen Ozean von seiner Heimat getrennt. Arthur lag oft nachts in seiner Koje und hatte Angst um sein Leben. Und ebenso oft dachte er, es wäre ein riesiger Fehler, hier auf diesem winzigen Schiff über den erbarmungslosen Ozean zu segeln. Aber das konnte er Sean nicht sagen. Sean war jetzt seine Familie. Und auch ein paar von den Matrosen konnte er inzwischen als Freunde bezeichnen.

„Ja, das hoffe ich auch!“

Sean hatte die melancholische Stimmung seines Freundes nicht bemerkt. Ihm fehlte oft das nötige Feingefühl für die Gefühle seiner Mitmenschen.

„So, ich glaube, alle Zwiebeln sind jetzt geschnitten. Gott sei Dank!“, schniefte Arthur. Er wischte sich den Rotz mit dem Ärmel weg. „Was machen wir jetzt?“

„Hm, ich gehe nochmal zu Piet und frage ihn. Wartest du hier und bewachst sie?“, fragte Sean mit einem Schmunzeln.

„In Ordnung!“

Sean ging zur Kombüsentür und atmete erleichtert auf, als er sie öffnete. Der penetrante Zwiebelgeruch verflüchtigte sich etwas. Mit freier Nase und neuer Zuversicht im Herzen lief er zu der Kammer, in der Piets Koje war. Er öffnete leise die Tür mit dem Verdacht, dass Piet vielleicht schliefe. Doch als er zu Piets Koje ging, empfingen ihn wache strahlende Augen. Piet freute sich immer über Besuch, er durfte sogar schon ein paar Schritte laufen, war aber noch schwach vom Blutverlust.

Am Anfang war es für Sean sehr unangenehm gewesen, den Koch zu besuchen. Er hatte ein unendlich großes schlechtes Gewissen, wenn er ihn sah. Doch bald konnten sie sich aussprechen und Sean erkannte, dass Piet ihm nicht böse war.

„Hallo Piet. Was müssen wir machen, wenn wir die Zwiebeln geschnitten haben?“, wollte Sean wissen.

Piet erklärte die einzelnen Schritte für die Zubereitung der Suppe.

„Wie geht es dir eigentlich?“

Piet lächelte. „Es tut zwar noch höllisch weh, aber es wird besser. Ich kann mir immer noch nicht erklären, wie das eigentlich passiert ist. Wegen meiner Unvorsichtigkeit kriegt die ganze Mannschaft nichts Ordentliches zu essen.“ Piet schüttelte resigniert den Kopf.

„Daran bist nicht nur du Schuld. Wir haben einfach nicht mehr viele Lebensmittel. Da könntest selbst du nichts Gescheites mehr zubereiten“, entgegnete Sean.

„Da hast du Recht. Wenn wir nicht bald Land sehen, sieht es trübe aus.“

Wie auf Stichwort hörten sie plötzlich laut jemanden rufen:

„Land in Sicht! Land in Sicht!“

Sean hielt kurz inne, dann sprintete er an Deck und vergaß dabei ganz den armen Piet, der sich unbeholfen aus seiner Koje schälte. Sean rannte keuchend zur Reling. Und tatsächlich! Ganz hinten am Horizont konnte er etwas Schwarzes erkennen und er bildete sich ein, dass es größer wurde. Sein Herz machte einen Sprung. Sean musste unbedingt Arthur Bescheid sagen!

Siebzehn

- 1697 -

Keine fünf Minuten später hatten sich ohne Ausnahme alle 91 Seemänner an Deck der Zeeland versammelt. Piet wurde von einem Matrosen gestützt. Gespannte, erwartungsvolle Blicke wechselten immer wieder zwischen dem größer werdenden Land am Horizont und dem Kapitän. Dieser stand auf der Brücke und schaute erhaben auf seine Männer herab. Immer wieder ging seine Hand zum Bart und zwirbelte ihn hingebungsvoll. Als Wilhelm zum Sprechen ansetzte, verstummte die Menge ehrfurchtsvoll.

„Meine Lieben!“, eröffnete der Kapitän seine Rede mit lauter, klarer Stimme. „Ich bin sehr stolz, euch verkünden zu dürfen, dass wir die erste große Etappe unseres Abenteuers überstanden haben.“

Die Männer klatschten begeistert Beifall, der eine oder andere grölte oder pfiff dazu. Wilhelms Augen strahlten. Theatralisch streckte er beide Arme zur Seite und blickte auf seine Leute.

„Es war eine schwierige und teilweise qualvolle Reise für uns, die für manche große Opfer forderte.“

Unwillkürlich wanderte sein Blick zu Piet und dann zu Sean. Auch einige Matrosen drehten ihren Kopf zu den beiden. Sean wurde rot und schaute automatisch zu Boden. Zum Glück sprach der Kapitän schnell weiter.

„Ich muss mich bei jedem Einzelnen für seinen Einsatz bedanken und natürlich uns als Mannschaft im Ganzen. Wir haben Großartiges geleistet.“

Ein neuer Beifallsschwall wollte aufwogen, doch Wilhelm verlangte durch eine Geste nach Ruhe.

„In einigen Stunden werden wir durch die Navigationskunst meinerseits und Rauls die Inselgruppe der Azoren erreichen.“

Er machte eine bedeutsame Pause, doch als dieses Mal kein Beifall erklang, sprach er etwas irritiert weiter.

„Ähm… Also… Wir werden an der Insel Santa Maria vorbeisegeln, die Bernard als Erste im Ausguck gesehen hat, und auch an São Miguel, der Hauptinsel und größten Insel der Azoren. Dann lassen wir Terceira steuerbord liegen und segeln zwischen São Jorge und Pico hindurch. Erst dann werden wir in Horta, dem Hauptort der Insel Faial, vor Anker gehen. Dort befindet sich der Hauptanlaufpunkt für Atlantiküberquerer auf den Azoren. Ihr müsst euch also noch etwas gedulden, bis ihr euren Fuß wieder auf Land setzen könnt. Auf Faial werden wir eine Woche unsere Lebensmittel- und Wasservorräte auffüllen, alles Nötige ausbessern sowie uns selbst ausruhen und für die Weiterfahrt vorbereiten. Ich wünsche uns allen eine großartige Zeit und frohes Schaffen auf dieser Insel.“

Damit verließ Wilhelm mit einer Verbeugung die Brücke. Die Seeleute klatschten nochmals, redeten dann aufgeregt miteinander und gingen langsam wieder ihrer Arbeit nach.

Sean spürte ein erhabenes, einzigartiges Gefühl, als sie an den Inseln vorbeisegelten. Gnädiger, lauwarmer Wind trieb sie vorwärts. Noch nie hatte eine Küste so großen Eindruck auf ihn gemacht wie jetzt. Die Inseln waren größtenteils durch sanfte, grüne Hügel geprägt, konnten aber auch einige hohe Berge aufweisen. Sean musste seine Vorfreude im Zaum halten, selbst auf Erkundungstour gehen zu können und freute sich, dass sie eine ganze Woche hier verbringen würden.

Es wurde Abend, bis die Zeeland endlich die Insel Faial erreichte. Sean und seine Mitmatrosen standen am Bug des Schiffes und erfreuten sich an dem Anblick, der sich ihnen bot. Die grüne Insel mit den sanften Hügeln und dem Berg in der Mitte strahlte eine besondere Anziehung aus. Endlich Land! Dieser Gedanke drängte sich in allen Gehirnen in den Vordergrund.

Das Schiff fuhr durch das Hafentor von Porto Pim in die nahezu kreisrunde Hafenbucht der Inselhauptstadt Horta. Es legte an, die Ankerkette wurde ins Meer versenkt und die Vorder- und Achterleinen am Pier vertäut.

Sie waren angekommen.

Beim Einfahren registrierte Sean etliche Schiffe verschiedenster Bauart, auf denen reges Treiben herrschte. Die Mannschaft der Zeeland hatte für diesen Abend frei bekommen und sollte erst am nächsten Morgen zur Einteilung der Arbeiten für die nächste Woche wieder an Bord kommen. Einige blieben auf dem Schiff, um weiterhin in ihrer Koje zu schlafen.

„Komm, wir suchen uns eine Herberge“, forderte Sean seinen Freund auf.

Arthur nickte.

„Gute Idee. Ich bin hundemüde, und Hunger habe ich auch.“

Die beiden holten ihre Habseligkeiten und gingen von Bord. Sie mussten vom fast letzten Ankerplatz aus die befestigte Kaimauer entlang in den Ort laufen.

„Schau mal, die Steine der Häuser sind ja schwarz! Alle Steine sind hier schwarz! Das sieht irgendwie eigenartig aus“, bemerkte Sean.

„Aber mit den bunten Tür- und Fensterrahmen sieht es eigentlich ganz schön aus, finde ich“, erwiderte Arthur.

„Gewöhnungsbedürftig.“

Sie gingen weiter durch den Ort und suchten nach Hinweisen auf eine Unterkunft.

„Hier kann man übernachten!“, rief Arthur erfreut. Er stürmte in das schwarze Haus mit dem Schild in Form eines Bettes über dem roten Türrahmen und fragte nach einer Unterkunft. Sean wartete draußen mit ihren Säcken. Nach zwei Minuten schon kam sein Freund wieder heraus, allerdings mit enttäuschtem Gesicht.

„Leider schon voll.“

„Macht nichts, gehen wir weiter.“

Nach einer Stunde hatten sie ein Dutzend Herbergen gefunden, die alle ausgebucht waren.

„Die ganzen Seeleute von den Schiffen müssen ja irgendwo schlafen. Wir sind zu spät! Was machen wir denn jetzt? Ich will nicht auf dem Schiff schlafen“, jammerte Arthur.

Sie liefen weiter in Richtung nordwestlichem Ortsrand. Die Häuser wurden immer ärmlicher und die Hoffnung der erschöpften Männer immer kleiner. Ganz hinten beim letzten Haus blieben sie verzweifelt stehen, um zu überlegen, was sie nun machen sollten.

„He, braucht ihr ein Bett?“

Erschrocken suchten die Freunde die Quelle dieser Stimme. Vor dem letzten Haus, was eher eine Hütte war, saß ein älterer Mann in seinem winzigen Gemüsegarten und schaute sie erwartungsvoll an. Sean schluckte seine Überraschung hinunter und rief: „Ja, wir brauchen ein Bett.“

„Dann kommt her!“

Der Mann konnte ganz gut Englisch, mit einem ähnlichen Akzent wie Aderito. Sean nickte Arthur zu und sie liefen zu dem Mann hinüber. Er hatte kurzes, schwarzgraues, strubbeliges Haar und ein faltiges Gesicht. Die Statur des Mannes war gebeugt, er wirkte wie ein Mensch, der vom Leben gezeichnet war. Aber als Sean seine tiefen, braunen Augen betrachtete, erkannte er etwas Verschmitztes, Fröhliches in ihnen. Der Mann wirkte dadurch ungewöhnlich agil.

„Ich bin Lino.“

Er reichte ihnen seine sehnige Hand und überraschte die beiden mit einem kräftigen Händedruck. Lino deutete mit einer ausschweifenden Geste auf seine Hütte:

„Und das ist meine Villa.“

Verblüfft von der Erscheinung des alten Mannes stotterten die beiden:

„Sean…“ „Arthur…“

„Ihr seid herzlich eingeladen.“

„Wir würden uns sehr freuen. Der Ort scheint ausgebucht.“

Lino nickte.

„Ja, im Moment ist hier viel los, zu viele Schiffe sind in letzter Zeit angekommen. Na, dann zeige ich euch mal meinen Palast.“

Lino zwinkerte den jungen Männern zu und ging zuerst durch die Tür, die nur angelehnt war. Als Sean in die Hütte trat, stach ihm ein muffiger Fischgeruch in die Nase. Er schluckte die Übelkeit herunter. Arthur war auch stehengeblieben. In dem Raum herrschte ein einziges Chaos. Der kleine Holztisch in der Mitte war voll mit allerlei Kram, darunter schmutziges Geschirr und dreckige Kleidung. In der Kochecke befand sich ein alter Ofen, auf dem ein dampfender Topf stand. Vier Stühle waren im Raum verteilt, auf denen sich undefinierbares Zeug stapelte. Ein relativ breites Bett mit zerwühlten, schäbigen Decken zeichnete sich in einer anderen Ecke ab. Und überall: Staub, viel Staub. Arthur musste niesen.

„Gesundheit! Wirst du krank, Arthur?“, fragte Sean scherzhaft.

„Nein, geht schon.“

„Das ist mein bescheidenes Reich. Ich zeige euch euer Zimmer.“

Widerwillig folgten ihm die Beiden die schmale, ächzende Treppe hinauf. Lino führte sie in den Raum, der das ganze obere Stockwerk ausfüllte. Hier war es etwas ordentlicher, aber genauso staubig. Arthur nieste wieder, aber diesmal reagierte niemand.

Sean zeigte neugierig auf die beiden an der Wand stehenden Betten: „Wer wohnt hier?“

„Wohnte. Meine Töchter Gabriella und Laurinda.“

„Was ist mit ihnen passiert?“, wollte Arthur wissen.

Lino sagte traurig: „Sie sind vor einem Jahr nach Brasilien ausgewandert. Portugiesische Händler haben sie mitgenommen, es war ihnen zu einsam hier. Seitdem bin ich allein und freue mich immer über Besuch. Habt ihr Hunger?“

Sean war unsicher, ob er in dieser heruntergekommenen Hütte etwas essen wollte, aber Arthur sagte schon:

„Ja gerne.“

Sean verdrehte die Augen.

Lino ging wieder hinunter und die beiden machten sich mit ihrem Schlafplatz bekannt. Nachdem sie die staubigen Decken begleitet durch Arthurs Husten ausgeschüttelt hatten, wagten sie es und legten sich auf die Strohsäcke. Es war bequemer, als sie gedacht hatten. Als sie vergnügter die Treppe herunterstiegen, als sie heraufgekommen waren, wurden sie von einem relativ aufgeräumten Zimmer überrascht. Der Tisch war frei geräumt und die Stühle standen auf ihrem Platz. Auf dem Tisch befanden sich nun der dampfende Topf, zwei Teller mit Löffeln und zwei Becher Wasser. Lino verteilte gerade die Suppe.

„Ich hoffe, ihr mögt Kabeljau. Den habe ich heute frisch gefangen, gibt`s hier in rauen Mengen. Ich bin Fischer, müsst ihr wissen. Alle Männer aus meiner Familie waren Fischer. Wollt ihr Brot?“

Sean, der plötzlich durch einen Stich im Magen bemerkte, wie hungrig er eigentlich war, sagte gierig: „Gerne. Ich bin am Verhungern.“

Damit setzte er sich an den Tisch und kostete die Fischsuppe. Und wieder wurde er überrascht. Er löffelte beherzt.

„Das schmeckt ja köstlich! Danke, Lino.“

Arthur nickte nur. Er konnte nichts sagen, weil er so mit dem Essen beschäftigt war. Lino setzte sich zu ihnen.

„Was hat euch hier auf die Azoren verschlagen?“

Sean kaute kurz und schluckte dann.

„Wir kommen von Lissabon und wollen nach New York, mit der Zeeland.“

Linos Augen begannen zu leuchten. „Lissabon! Portugal! Die Heimat meiner Vorfahren! Ich war noch nie dort, aber es soll wunderschön sein.“

„Es ist in Ordnung“, sagte Arthur schmatzend. „Schottland ist viel schöner. Kann ich noch mehr Suppe haben?“

Etwas irritiert schöpfte ihm Lino noch einmal nach. Betretene Stille breitete sich aus. In Gedanken verfluchte Sean seinen Freund. Lino ließ schweigend die beiden Männer zu Ende essen. Als er den Tisch abräumte fragte schließlich Sean: „Kannst du uns etwas über die Insel erzählen?“

Lino freute sich über das Interesse und fand zu seiner vorherigen guten Laune zurück.

„Bevor die Portugiesen die Azoren Anfang des 15. Jahrhunderts in Besitz nahmen, waren die Inseln unbewohnt. Es kamen auch Flamen aus den Niederlanden her, daher gibt es an vielen Orten Windmühlen und auf unserer Insel heißt sogar ein Ort Flamengos.“

„Oh, Windmühlen kennen wir von Amsterdam! Da müssen wir unbedingt hin, Arthur!“ Sean konnte gar nicht glauben, dass so weit weg von Europa Windmühlen stehen sollten.

„Ja, die sind lustig anzuschauen. Es kamen immer mehr Siedler hierher und 1493 machte sogar Christoph Kolumbus auf dem Rückweg seiner ersten Atlantiküberquerung hier Halt. Später wurden die Azoren zum Ausgangspunkt für die europäischen Entdeckungsreisen nach Neufundland“, erzählte Lino.

Sean wunderte sich, warum Lino so gut über die Geschichte der Inselgruppe Bescheid wusste. Bevor er fragen konnte, hörte er Arthur:

„Neufundland? Da wollen wir auch hin, oder Sean?“ Arthur hatte die Reiseroute nicht so genau im Kopf wie Sean. Dieser nickte.

„Oh, da habt ihr noch eine weite Reise vor euch.“

Wieder nickte Sean. Er hatte sich mit Wilhelm die Karten angeschaut und wusste, dass sie noch nicht einmal die Hälfte bis dahin geschafft hatten. Er schob diesen Gedanken beiseite und fragte: „Wann sind deine Vorfahren hierhergekommen, Lino?“

„Mein Vater meinte, unsere Ahnen wären vor 150 Jahren aus Portugal ausgewandert.“

„Interessant. Lebt dein Vater noch?“, wollte Arthur wissen.

„Nein. Er ist beim letzten Vulkanausbruch ums Leben gekommen.“

„Das tut mir leid. Das muss schrecklich gewesen sein“, sagte Arthur unbehaglich. Er wollte eigentlich noch nach Linos Frau fragen, ließ es aber lieber bleiben.

„Ja, 1672 war ein schlimmes Jahr.“

Lino schaute traurig in die Ferne, erzählte aber nicht weiter. Betretene Stille erfüllte den Raum.

„Ähm, was ist das für eine Ruine am Meer?“

Sean wollte die Stimmung wieder aufheitern.

„Das ist die verfallene Festung Santa Cruz. Sie wurde Ende des 16. Jahrhunderts zum Schutz der Stadt vor Piratenüberfällen erbaut.“ Lino war Sean aufgrund des Themawechsels sehr dankbar.

„Also gab es hier tatsächlich auch Piraten! Diese Plage ist wohl überall.“ Arthur mochte Menschen nicht, die anderen etwas wegnahmen.

„Ja, es war wirklich nicht einfach damals. Vor den Inseln ereigneten sich viele Seeschlachten und einige Schiffe sind gesunken. Aber die Überfälle haben zum Glück wieder nachgelassen.“

„Lino?“

„Ja, Sean?“

„Warum kennst du dich so gut mit Geschichte aus?“

Lino lachte. „Das habe ich alles von meinem Vater gelernt. Er war nicht nur ein guter Fischer, sondern interessierte sich für zahlreiche Themen, vor allem die Entdeckung und Besiedlung der Azoren. Er hat alles zu diesem Thema gesammelt, was er finden konnte“, entgegnete Lino stolz.

Sean nickte anerkennend.

Die drei Männer unterhielten sich noch eine Weile nett miteinander und bemerkten gar nicht, wie spät es geworden war.

„Also ich gehe jetzt schlafen. Wir müssen morgen wieder arbeiten und die Vorräte auffüllen.“ Gähnend erhob sich Sean von seinem Stuhl.

„Ich komme mit. Gute Nacht und vielen Dank, Lino!“ Auch Arthur stand auf und klopfte dem alten Mann auf die Schulter.

„Gute Nacht! Ich muss morgen auch wieder rausfahren.“

Lino nahm die Kerze vom Tisch und verriegelte die Tür. Dann löschte er die Flamme und legte sich auch schlafen, sehr glücklich über diesen geselligen Abend. Oben krochen die jungen Männer in ihre Betten und schliefen sofort ein. Der Schlaf in den alten Betten war besser als in der nur drei Fuß23 breiten Koje, tief und herrlich, nur etwas zu kurz.

Als Sean am nächsten Morgen leise die Treppe hinunterschlich, weil er dachte, dass Lino noch schlief, fand er das Zimmer leer vor.

Eine kurze Verwirrung stellte sich bei ihm ein, doch dann erinnerte er sich daran, dass Lino gestern erwähnt hatte, dass er vor dem Morgengrauen mit seinem kleinen Boot hinausfuhr, um zu fischen. Etwas enttäuscht ging Sean zum Tisch und bemerkte zu seiner großen Freude, dass ihr Gastgeber ihnen ein Frühstück hergerichtet hatte. Auf dem Tisch standen ein Teller mit Brot und eine Schüssel mit etwas, das er aus Lissabon kannte: Stockfisch. Sean erinnerte sich, dass das Nationalgericht Portugals – bacalhau - meistens aus gesalzenem und getrocknetem Kabeljau hergestellt wird.

Arthur kam kurz danach die Treppe herunter und setzte sich zu Sean. Er fand es inzwischen recht gemütlich in dieser Hütte, ihm und Sean schmeckte das Essen.

Frisch erholt und gestärkt traten Sean und Arthur kurz darauf ihren Dienst wieder an. Sie versuchten, bei der Einteilung ähnliche Arbeitszeiten zu bekommen und es funktionierte ziemlich oft. Sie freuten sich schon sehr darauf, gemeinsam die Insel zu erkunden und bekamen dazu bald die Möglichkeit, denn sie sollten Feuerholz zusammensuchen.

Als sie aus dem Ort liefen, erfreuten sich ihre Augen an dem saftigen Grün, das überall die Landschaft umspielte. Es war ein willkommener Kontrast zu dem ewigen Blau oder Grau der letzten Wochen.

„Ist dir schon mal aufgefallen, wie warm es hier ist? Wir haben doch eigentlich schon fast Winter! Und auch die Luft und der Wind sind nicht so eisig“, staunte Arthur.

„Das kommt vom Floridastrom24. Dabei handelt es sich um einen warmen Meeresstrom. Den habe ich auf Wilhelms Seekarte gesehen und er hat es mir erklärt“, erläuterte Sean.

Arthur nickte erstaunt und sie gingen weiter. Anfangs liefen sie durch kurze, immergrüne, gebüschartige Macchia, bis sie schließlich zu dem für sie brauchbaren immergrünen Lorbeerwäldern kamen. Diese erstreckten sich überall an den Hängen des größten Vulkans der Insel, dem Cabeço do Gordo. Es war sehr anstrengend, immer wieder Holz zu schlagen, zu entblättern, mit der Axt zu zerkleinern, zu bündeln und mit ihren Rückentragen zum Schiff zu bringen. Bald schon hatten sie Schwielen und Schrammen an den Händen und schwere Beine.

Nach dem letzten Gang für diesen Tag setzten sich Sean und Arthur erschöpft an den Hafen und wurden durch einen atemberaubenden Sonnenuntergang entschädigt. Der gesamte Himmel schien zu leuchten, in der Mitte ein Glutrot, dann flammendes Orange, das in kräftiges Gelb überging. Daran schlossen sich zauberhafte Farbverläufe von Grün, Violett bis Blau an. Kleine dünne Wolkenstreifen hatten dieses Farbspiel übernommen und das Meer spiegelte das gesamte Kunstwerk bezaubernd schön zurück. Es war berauschend.

Ganz von dieser Erscheinung in den Bann gezogen bemerkten die jungen Männer nicht, dass sich eine zwielichtige Gestalt in ihrer Nähe herumdrückte. Der Mann in dem langen schwarzen Mantel und der großen Kapuze über dem Kopf beobachtete hinter einer Häuserecke verstohlen die Zeeland und deren Besatzung. Ein gehässiges Grinsen breitete sich auf seinem Mund aus.

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