Kitabı oku: «Deutschland oder Jerusalem»
Claus-Steffen Mahnkopf
Deutschland oder Jerusalem
Das kurze Leben der
Francesca Albertini
zu Klampen
© 2013 zu Klampen Verlag · Röse 21 · D-31832 Springe
info@zuklampen.de · www.zuklampen.de Umschlaggestaltung: michon, hofheim Satz: michon, hofheim 1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013 ISBN 9783866742871
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Vorwort
Villa Massimo
Vita
Naturell
Partnerin
Reisen
Politik
Verrat
Judentum
Deutschtum
Sprache
Bibliothek
Werdegang
Bücher
Forschung
Lehre
Projekte
Krankheit
Ende
Tod
Bilder
All denen, die Francesca mochten
Dieses Buch legt Zeugnis ab, es erzählt die lebenssatte, am Ende jedoch traurige Geschichte der Francesca Yardenit Albertini, einer römischen Jüdin, die in jungen Jahren nach Deutschland kam, um für die Idee eines anderen, besseren, jüngeren Verhältnisses zwischen Deutschen und Juden zu werben und zu kämpfen. Einer jungen Frau, die einen deutschen Avantgardekomponisten heiratete, der eine außergewöhnlich steile Karriere als Hochschullehrerin und Intellektuelle gelang, einer jungen Frau, die mit 36 Jahren viel zu früh starb.
Francesca stellt einen exemplarischen Fall unserer Zeitgeschichte da: eine Grenzgängerin zwischen Italien und Deutschland, zwischen Israel und den USA. Eine literarisch-sprachliche Hochbegabung mit einer in Deutschland unüblichen Renaissance-Bildung und einem Politikverständnis, das auch einem Pier Paolo Pasolini verpflichtet ist. Eine Frau mit einem Heißhunger auf Realität und Leben. Eine Denkerin mit einem messianischen Blick auf die Zukunft der Menschheit. Und zugleich eine Frühbegabung, die sich wie eine auf beiden Seiten brennende Kerze rasch verbrauchte. Eine ihrer Heldinnen in der Geschichte war Simone Weil, sie starb ähnlich jung.
Francesca ist eine ausgesprochen interessante Frau gewesen, die Biographie allein rechtfertigte ein Buch, trotzdem stehen das intellektuelle Porträt, die politische Mission, das geistige Profil im Vordergrund. Ein Mensch und seine Ideen werden gezeichnet. Und zwar zentriert auf die deutsch-jüdische Frage. Vielleicht kann nur ein jüngerer Vertreter des Judentums mit dem nötigen Abstand zum Holocaust uns einen anderen Blick auf das Judentum lehren. Nur wer aus einem anderen Land kommt und doch emphatisch Deutscher wird, vermag uns zu zeigen, daß Judentum mehr ist als der tragische Komplex aus Shoah, Zweitem Weltkrieg, Israel und der Schuldfrage.
Das war eines der vielen Anliegen meiner Frau. Ihr Erbe kann nur mit Erinnerung gelingen, dem einzigen Mittel, Verstorbenen den zweiten Tod, das Vergessen, zu ersparen.
VILLA MASSIMO
Der erste Eindruck prägt. Anfang April 1998 als neuer Stipendiat der Villa Massimo in Rom angekommen, fest entschlossen, die schöne italienische Sprache zu erlernen, und zwar richtig: mit einem privaten Lehrer, finde ich an der Pforte eine Notiz: »Italienischunterricht von examinierter Philosophin, günstige Preise«. Ich rufe an und vereinbare einen Termin für den kommenden Tag. Es klingelt, ich durchschreite das weiträumige Anwesen, öffne das Tor, und da steht sie: Francesca Albertini, keine 24 Jahre jung, aber doch so bestimmt auftretend, geradezu professionell, mit dem klaren Ethos der Lehrerin, daß ich sie auf dreißig schätze. Ich bin beeindruckt. Der erste Blick ihrer ausdrucksvollen Augen trifft mich.
Wir haben immer zweistündige Sitzungen angesetzt. Als die erste zu Ende ist, gehe ich zu meiner Komponistenkollegin, die zum Abendessen eingeladen hat. Etwas benommen von den ersten Eindrücken, erzähle ich von der neuen Lehrerin. »Francesca? Die ist klasse, nicht?«, bekomme ich zur Antwort, Francesca unterrichtet auch sie. Am nächsten Tag wird der Unterricht fortgesetzt, wie immer unternimmt Francesca die mühevolle Fahrt durch den unberechenbaren Straßenverkehr Roms. Sie hat gleich beim ersten Mal, als sie das großzügige Atelier betrat, im Bücherregal die Adornobände und ein Buch über mittelalterliche Ritualmordprozesse entdeckt, auf dessen Umschlag hebräische Schriftzeichen stehen. Sie spürt sofort, daß etwas in der Luft liegt. Nachdem ich sie auf ihre universitäre, auf ihre philosophische Arbeit anspreche, beginnt sie mit einem langen Vortrag in einem mir unverständlichen Italienisch über das Thema ihrer Abschlußarbeit. Ich verstehe nichts, im doppelten Sinne nichts. Aber hier spricht eine Person so bestimmt, so konzentriert, so mit der Sache eins, daß ich sie nicht zu unterbrechen wage. Es ist eine Faszination, ihr zuzuhören, dem Klang der Stimme, der Rhythmik ihrer Sätze.
Francesca wurde zur persönlichen Führerin, einer Art Vergilius, der mich durch die verschlungene, immer auch chaotische Stadt und Kultur geleiten wird. Zweimal die Woche kommt sie für eine Doppelstunde, aber man sieht sich häufiger, denn sie unterrichtet auch andere Stipendiaten. Diesen Job macht sie seit längerem. Sie hat in der Villa Mirafiori, dem Sitz der Philosophie der Universität La Sapienza, studiert, die ein paar hundert Meter von der Villa Massimo entfernt liegt. Francesca suchte immer die Nähe zu Deutschen, der deutschen Kultur und vor allem der deutschen Sprache. Sie unterrichtet privat auch in der Stadt und übersetzt, wenn es sich anbietet. Sie hat sogar einen Didaktikkurs für den Italienischunterricht besucht. Und ihre Stunden sind streng – sie duldet keine Nachlässigkeiten –, aber begeisternd zugleich. Man spürt, daß sie ihre italienische Sprache mit der rationalen Grammatik und dem musikalischen Klang liebt. Ihre Aussprache ist perfekt und vor allem nicht schnell, was uns Ausländern zupaß kommt.
Francesca zeigt sich als unkomplizierte junge Frau, ohne Attitüde, ohne intellektuelle Arroganz. Es gibt Photos aus dieser Zeit, sie sitzt im Garten der Villa Massimo und hält den kleinen Felix, Sohn der Stipendiaten Carola Bauckholt und Caspar Johannes Walter, auf dem Schoß. Sie strahlt in die Kamera mit einer Kraft, mit einer Lebensfreude und einer Energie, die noch heute den Betrachter umhauen – eine junge Frau mit einem hellwachen Blick, der zwar Intelligenz ausdrückt, dem man aber das Philosophische, Hochgeistige gerade nicht anmerkt. Das wird eines der faszinierendsten und zugleich anmutigsten Züge von Francesca sein: Sie, die geisteswissenschaftliche Sonderbegabung, strahlt das zunächst überhaupt nicht aus. Sie ist immer ein Mensch wie du und ich gewesen.
Francesca, die Lehrerin, umwirbt ihren neuen Schüler. Es ist leicht, wir haben regelmäßig Kontakt, face-to-face, wir gehen zusammen aus, ins Restaurant, durch die Stadt, durch das jüdische Viertel, das Ghetto di Roma, das zu zeigen für sie, die Jüdin, eine besondere Ehre bedeutet. Alles ist so unkompliziert, südländische Mentalität. Auch kommen die Massimo-Partys gelegen. In kurzen Abständen präsentieren im warmen, ja heißen Sommer die Stipendiaten ihre Arbeiten und stellen sie zur Diskussion, woran sich opulente Abendessen für alle und die Gäste anschließen, ein geselliges Zusammensein, das meist bis tief in die Nacht geht. Es ist meine Anfangsphase, ich denke zuweilen, hier werde überhaupt nicht gearbeitet. Aber wir sind in Italien, es ist auch meine Italienische Reise. Francesca gehört fest zum »Personal« der Akademie, fühlt sich pudelwohl im Hin und Her zwischen der italienischen und deutschen Sprache und ist mit den Stipendiaten freundschaftlich verbunden. Sie ist für uns Deutsche wie eine Botschafterin der italienischen Kultur.
Bei meiner eigenen Präsentation kommt es, wie so häufig, wenn Künstler und Kunstliebhaber, aber auch Möchtegern-Intellektuelle zusammensitzen, zu begrifflichem Durcheinander. Auf der Treppe zur Küche meine ich zu Francesca, es lohne sich, Philosophie zu betreiben, man sei vor solchen Wirrungen gefeit. Ein unglaublich warmes Gesicht bedeutet mir: Endlich jemand, der mich versteht. Einige Zeit später kommen wir uns näher. In diese Zeit fällt Francescas erster Auftritt im Wissenschaftsbetrieb. Sie ist für eine Woche nach Toledo bei Madrid für eine jüdische Konferenz eingeladen, um dort einen Vortrag zu halten. Am Ende der Woche, nachdem sie zurückgekehrt ist, werden wir ein Paar. Am nächsten Morgen frühstücken wir im Garten, hinter meinem Studio, bei bestem Sommer- und Sonnenwetter. Das Leben ist schön – auf Italienisch: »La vita è bella« (übrigens der Titel eines Filmes, der zu dieser Zeit weltweit für Furore sorgt und über den Francesca sich maßlos ärgert). Ach ja, wir diskutieren auch darüber, welcher Philosoph bedeutender sei – Lévinas oder Derrida. Francesca hat sehr früh schon ihre festen Ansichten. Ich bin sehr froh, jemanden getroffen zu haben, der mir, bestimmt, aber nicht aufdringlich, widerspricht. Francesca ihrerseits hatte ihren »Deutschen« gefunden, hier in Rom, inmitten der Stadt der Machos. Eine neuer Lebensabschnitt beginnt.
Die nächsten Wochen sind Ferien in einem emphatischen Sinne. Es ist Ferienzeit, Juli, August, September, Sommer, ja Hochsommer. Wir unternehmen viele Ausflüge, Francesca führt durch die Stadt, die an Dokumenten und Sehenswürdigkeiten bekanntlich nur so platzt, vor allem wenn eine Insiderin sie zeigt. Wir machen drei Reisen. Die erste führt nach Neapel, von dort auf die Insel Ischia und natürlich nach Pompeji, einer der sicherlich tiefsten Eindrücke, die ich in Italien erhalte. Francesca, mit ihrem »operatore turistico«-Abitur, ist eine perfekte Reiseleiterin. Wir verbringen einige Tage in den Abruzzen und genießen die Sonne, das luftige Wetter, die beeindruckenden Bergformationen und natürlich die mit Deutschland in keiner Weise vergleichbare Cuisine. Schließlich fahren wir nach Venedig, just an dem Wochenende, da Gerhard Schröder die Bundestagswahl gewinnt. Die Serenissima ist von Anfang an für uns beide ein »sogno«, ein Traum. Eine weitere Reise nach Florenz müssen wir wegen Geldmangels absagen, holen sie aber im Jahr darauf nach. Dafür lädt mich Francesca zum Geburtstag auf ein Landgut am Lago di Bracciano ein, mit einem derart üppigen Abendessen, daß ich kaum mehr von meinem Lieblingsdolce, der großen Profiteroltorte, naschen kann.
Francesca ist seit längerem als Privatlehrerin in der Villa Massimo bekannt. Ihr häufiges Erscheinen wird als normal empfunden. Nicht einmal der Akademiedirektor, der sich stets bemüht, alles zu wissen, ahnt etwas von unserer Beziehung, die wir nicht öffentlich machen. Monate später, ich komme von einer Konzertreise zurück, ruft er mich an, er müsse mich belehren, während meiner Abwesenheit habe im Studio Licht gebrannt, der Hausmeister habe Frau Albertini vorgefunden. »Ich muß Ihnen von Amts wegen sagen, daß Sie, wenn Sie nicht da sind, keinen Besuch beherbergen dürfen.« Ich nehme Francesca an die Hand und gehe ins Büro. Da sitzen wir dem vermeintlich allwissenden Chef gegenüber. »Lieber Herr Schilling«, sage ich, »Frau Albertini kennen Sie ja. Sie ist seit Monaten meine Lebensgefährtin.« Er ist sichtlich überrascht, doch hocherfreut und gibt uns seinen Segen. Weihnachtsgrüße in den folgenden Jahren werden liebevoll überschrieben mit »An die Mahnköpfe«. Wir besuchten ihn viele Jahre später in Berlin; es war ein sehr herzliches Wiedersehen.
Daß ich so schnell Anschluß an die Bevölkerung der Stadt finde, ist natürlich ein Glücksfall. Es ist eben »bella estate«, um den Titel eines Romans von Cesare Pavese zu zitieren, den ich zu dieser Zeit lese. Ich spreche auch im Alltag italienisch, Francesca zeigt die Stadt, wir machen Ausflüge, nicht nur ans Meer, und reisen durch das ganze Land. Auch wenn wir uns immer wieder über die Unzuverlässigkeiten des römischen Betriebs aufregen, rückblickend kann ich sagen, daß dieses Jahr vielleicht das schönste meines Lebens gewesen ist. Es kommt selten alles zusammen: Italien, Rom, das Klima, der Sommer, die Freiheit des Arbeitens, die großzügige Wohnsituation – und die Frau fürs Leben. Kann man mehr verlangen? Eine gute Freundin zu Hause meinte spontan, als sie hörte, ich hätte das Massimo-Stipendium gewonnen, »Du wirst Dich verlieben«. Sie, die Lateinlehrerin, meinte die Ewige Stadt, sie konnte nicht ahnen, wie sehr ihre Prophezeiung Wirklichkeit werden sollte.
Francesca hat ihren Universitätsabschluß bereits ein Jahr hinter sich und studiert in einem Zweitstudium Theologie, leidet aber darunter, in Philosophie nicht promovieren zu können. Anders als in Deutschland, wo die Promotion allen offensteht, sofern sich ein Betreuer findet, durchläuft der italienische Kandidat einen »concorso«, den Francesca mit einem Projekt zur jüdischen Philosophie aber nicht gewinnt. Ich bin irritiert. Sie erklärt, daß man, wie so häufig in Italien, guter Beziehungen und einer Lobby bedürfe und es daran gemangelt habe. Sie ist nicht einfach frustriert, sie ist in ihrer Würde als Intellektuelle, als Wissenschaftlerin – und vermutlich auch als Jüdin – zutiefst verletzt und gedemütigt. Ich spüre etwas von ihrer Verachtung des eigenen Landes und seiner Gebräuche. Aber noch sind ihr die Hände gebunden. Sie muß sich durchschlagen und versuchen, so gut es geht Geld zu verdienen, was allerdings mit Unterricht und Übersetzungen nur vorübergehend möglich ist. Als ihr ein versprochener Job verwehrt wird, kommt sie völlig aufgelöst zu mir. Sie heult, ihre Existenzangst ist offensichtlich.
Im Herbst erhält Francesca auf Vermittlung eines römischen Professors – an der Universität genießt sie einen hervorragenden Ruf – ein Promotionsangebot aus Deutschland. Das ist natürlich ein großes Glück, und zwar ein dreifaches. Sie kann wissenschaftlich weiterarbeiten; die Pläne liegen ja bereits in der Schublade. Francesca wollte schon als Teenager Italien verlassen, ein Wunsch, der mit den Jahren kaum an Dringlichkeit verloren hatte. Schließlich kommt das Angebot aus Freiburg, mithin jener Stadt, in der ich lebe. Ich traue meinen Ohren nicht. Freiburg! Da hat das Schicksal es gut mit uns gemeint. Dieser Tag ist der Beginn von Francescas deutscher Laufbahn, sie wird in den nächsten Jahren einen beispiellosen Arbeitseifer an den Tag legen und sich selber übertreffen.
Francesca bereitet sich langsam, aber zielstrebig auf ihre Emigration vor. Bernhard Casper, der Freiburger Religionsphilosoph, bietet ihr eine kleine Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität ab Januar 1999 an. Damit ist ihr Einstieg in das neue Land abgesichert. Obwohl ich beteuere, daß ihrer Immatrikulation in Freiburg nichts im Wege stehe, ist Francesca skeptisch und geht davon aus, daß sie zuerst einen Sprachtest für Deutsch bestehen müsse. In der Angst, bei diesem zu scheitern, besucht sie einen Fortgeschrittenenkurs am Goetheinstitut und arbeitet wie eine Wahnsinnige, die um ihr Leben fürchten muß. Einmal, bei einem scheußlichen Wetter, gerät sie in Panik, weil sie des typisch römischen, mithin undurchdringlichen Verkehrs auf den Straßen wegen zu spät kommen sollte. Francesca ist überpünktlich und extrem gewissenhaft.
Francesca hat sich sehr früh als Jüdin zu erkennen gegeben, und zwar auf eine Weise, als sei das das Normalste der Welt. Dabei lebt sie gänzlich unorthodox. Zu keinem Zeitpunkt ist etwas unmöglich, nur weil ein jüdisches Gebot dies unterbunden hätte. Sie geht zur Synagoge, gewiß, erwartet aber von mir keine Änderung der Gepflogenheiten. Ich erfahre, daß Francesca in der römischen jüdischen Gemeinde sehr aktiv und für ihr junges Alter bereits ausgesprochen angesehen ist. Sie könnte sich dort entfalten, will aber ihre Leidenschaft für das Jüdische mit dem Beruf verbinden, und das sollte erst in Deutschland möglich sein.
Als Lebensgefährte von Francesca, die immer häufiger in der Villa Massimo als bei ihren Eltern anzutreffen ist, werde ich in ihre Familie integriert. Gemeinsame Ausflüge, Treffen und Mahlzeiten werden regelmäßig. Vater und Mutter haben kein Problem mit mir, dem Deutschen und dem Nichtjuden. Sie sind liberale, aufgeklärte Menschen mit dem politisch linken Hintergrund der 1970er Jahre, im Alter meiner älteren Geschwister. Auch ihre zwei Jahre jüngere Schwester mag mich; sie frotzelt ab und an mit den schweren deutschen Sprüchen aus der Sprache der Hundeerziehung, auf die sie sich spezialisiert hat (»Sitz«, »Platz«), hat mich aber von Anfang an akzeptiert. Als wir zum ersten Mal zu den Großeltern, die im Krieg Schlimmes durchmachen mußten, gehen, werde ich um Umsicht gebeten. Doch vor allem die Großmutter, mit der Francesca eine große Liebe verbindet, akzeptiert mich – zumindest spüre ich keine Ablehnung –, weil sie Vertrauen in die richtigen Entscheidungen ihrer Enkelin setzt. Francesca ihrerseits konfrontiert mich niemals, zu keinem Augenblick, mit einer möglichen Schuld oder Verantwortung für das, was »mein« Volk der Welt, Europa und vor allem den Juden antat. Natürlich ist die Shoah für uns ein zentrales Thema, aber von Rancune, Ressentiment, gar Rache ist Francesca gänzlich frei.
Sylvester 98/99 feiern wir auf der Villa Massimo mit den anderen – ein großes heiteres Fest, wie ein lieto fine in der Oper, mit allen Protagonisten. Ein paar Tage später packt Francesca die Koffer, darunter einiges Übergepäck für die vielen Bücher, die sie benötigt. Ihre Eltern und ich fahren sie zum Flughafen, meine Neffe holt sie in Basel ab. Drei Monate später werden alle ihre Habseligkeiten, darunter kistenweise Bücher, nach Freiburg transportiert. Francesca hat Italien verlassen, sie ist nach Deutschland gezogen, ihre Zeit auf der Villa Massimo ist zu Ende.
VITA
Anfang 1999 zieht Francesca nach Deutschland und wohnt in Freiburg in meiner kleinen Wohnung, während ich noch drei Monate Stipendiat auf der Villa Massimo bleibe. Sie muß sich einleben, sich mit der Universität vertraut machen. Und mit dem extremen Winter zurechtkommen. Trotz meiner Schwester und ihrer Familie ein paar Fußminuten entfernt, fühlt sie sich verständlicherweise einsam. Ihr Piccolo ist in Rom; sie faxt Hunderte von Briefseiten. Ende März kommt sie nach Rom und berichtet von ihren ersten universitären Erfahrungen. Man habe ihr bedeutet, sagt Francesca, daß für eine universitäre Laufbahn bis zum höchsten Punkt (schon damals wollte sie sich alle Türen offen halten) eine deutsche Staatsangehörigkeit von großem Vorteil sei. Diese erhält man nach acht Jahren Residenz in Deutschland oder nach dreien, wenn man verheiratet ist. Spontan mache ich ihr einen Heiratsantrag. In meinem Inneren gibt nicht den geringsten Zweifel, daß Francesca die Frau meines Lebens ist. Francesca stimmt sofort zu. Uns verbindet, wie so häufig, eine tiefe Syntonie. Die Heirat in Deutschland wird Francesca in fast allen Belangen helfen, nicht zuletzt bei den Ärzten, die sie teilweise zurückweisen, weil die Honorare aus Italien nicht überwiesen werden. Nach meiner Rückkehr aus Rom betreiben wir zielstrebig die Planung für die – standesamtliche – Hochzeit, die am 3. September im kleineren Familienkreis stattfindet. In der Familie herrscht anfänglich Skepsis, da man unseren Schritt für übereilt hält. Aber sie ist unbegründet. Als wir nach unserer Hochzeit in die gemeinsame, für unsere damaligen Verhältnisse großzügige Wohnung ziehen, funktioniert das Zusammenleben wunderbar.
Francesca wurde am 20. Mai 1974 in Rom geboren. Sie war das erste Kind. Ihre Eltern sind assimilierte Juden mit sephardischem Hintergrund. Im Übergang von den Urgroßeltern zu den Großeltern paßten sich die Familien an den in Italien üblichen Katholizismus an, ohne diesen gläubig zu leben. Die Eltern, die bald noch eine zweite Tochter bekamen, kauften in diesen Jahren eine Wohnung, die sowohl in der Nähe des Monte Mario als auch der Vatikanstadt, also ausgesprochen zentral liegt. Die Großeltern mütterlicherseits wohnten in der Nähe. Das zu erwähnen, ist nicht unerheblich. Später, als die Immobilienpreise in der italienischen Hauptstadt anzogen, wäre es für Francescas Familie gänzlich unmöglich gewesen, im Zentrum zu leben. Sie hätte, wie ihre Tante in der Peripherie, sich der dortigen öden Kulturlosigkeit und den sozialen Spannungen aussetzen müssen. So aber wuchs Francesca inmitten des Geschehens auf: einer städtischen Kultur mit allen historischen Bezügen, politischen Aktivitäten und Kulturangeboten. Sie durchlief für dreizehn Jahre die Schule, erst die Grund-, dann die Mittelschule, schließlich das Gymnasium, so, wie es in Italien üblich ist. Anstelle des Liceo classico, das sich die Familie nicht leisten konnte, wurde eine auf Wirtschaft und Tourismus spezialisierte Schule gewählt, der Francesca nicht nur drei lebende Fremdsprachen, sondern auch gründliche Kenntnisse in der Landeskunde, mithin auch in Kunstgeschichte verdankt.
Francesca wurde zwar, ganz nach Landessitte, katholisch getauft und zur Kommunion geschickt, nicht aber religiös erzogen und hielt ihrerseits auch wenig von Religion. Statt dessen zeigten sich sehr früh ihre sprachliche Begabung und ihre Leidenschaft für das Lesen. Francesca durchlief das Drama des hochbegabten Kindes in der falschen Umgebung. Sie war in allen Fächern (von Sport abgesehen) die Klassenbeste, dabei bemüht, den anderen zu helfen (teilweise bot sie einen Telephonservice für die Hausaufgaben an), konnte aber keinen richtigen Kontakt zu den Gleichaltrigen aufbauen. Sie fühlte sich häufig allein und einsam. Sie flüchtete sich in die Bücher und die verschiedenen Wissensgebiete, was diesen Abstand natürlich nicht eben verringerte. Francesca überfiel das Gefühl existentieller Einsamkeit auch später immer wieder schubweise. Sie war mitunter regelrecht verzweifelt. Ich versuchte ihr zu helfen, soweit es ging. Aber letztlich litt sie bis zu ihrem Lebensende darunter. Ihre allseits bewunderte und genossene kommunikative Art war auch dieser tiefsitzenden, inneren Einsamkeit geschuldet.
Als junger Teenager setzte ihr Interesse für Politik ein; sie trat in die Jugendorganisation der Kommunistischen Partei ein. Daß sie nach einem Jahr die Partei wieder verließ, lag weniger an der Politik, sie konnte vielmehr wenig mit den Gleichaltrigen anfangen. Dann wurde sie Mitglied der Linksdemokraten (»Partito Democratico della Sinistra«, die Nachfolgepartei der Kommunisten), aber eher aus Solidarität ihrem väterlichen Freund Sergio gegenüber; aktiv war sie nicht. Der Marxismus und seine Theorien, zumindest in der flexiblen italienischen Fassung, waren ihr früh vertraut. Der deutsche Leser möge wissen, daß Kommunismus in Italien nicht das Furchterregende wie in Deutschland zur gleichen Zeit hatte; im Gegenteil: Kultur und Intellektualität, kritisches Denken und avantgardistische Kunst waren hier zu Hause. Luigi Nono oder Pier Paolo Pasolini waren wie selbstverständlich Kommunisten. So auch Francesca in jenen Jahren. Während der Schulzeit setzten ein umfangreiches gesellschaftliches und politisches Engagement sowie eine rege Schreibtätigkeit ein, über die noch zu berichten ist.
Direkt an das Abitur, das Francesca mit der höchstmöglichen Punktzahl absolvierte, schloß ihr Universitätsstudium an. Francesca wählte die Philosophie als zentrales Fach, weil diese in der Tat die Universaldisziplin der Geisteswissenschaften ist, von der aus alle anderen Gebiete der Geschichte, der Kultur und der menschlichen Existenz erreicht werden. Darin war sie klassisch. Die 18jährige schrieb in ihr Tagebuch mit der bezeichnenden Ortsangabe »irgendwo«: »An der Philosophie liebe ich ihr kontinuierliches In-die-Krise-Setzen (auch von den solidesten Alltäglichkeiten ausgehend) und ihre kraftvolle imaginative Vision. Daß ich mich in allen meinen heiklen Interessen der Philosophie widme, ist eines unter den höchsten Idealen.« Für die Philosophie brauchte sie die alten und die modernen Sprachen, die sie bereits fleißig gelernt hatte; sie konnte das Fach ergänzen mit Geschichte, Kunstgeschichte und Orientalistik mit zwei Schwerpunkten, die in den Nahen Osten weisen: Ägyptologie und Judaistik; sie konnte die Philosophie verbinden mit dem, was ihr zweiter Fokus werden sollte: die Religion. So studierte sie vier Jahre und hielt die Regelstudienzeit ein. Für ihren Abschluß (»Tesi di Laurea«) spezialisierte sie sich auf Jüdische Philosophie.
In diesen jungen Jahren setzte sie ihre Interessen und Fertigkeiten ein, um nebenbei Geld zu verdienen. Während der gymnasialen Oberstufe arbeitete sie für Rezensionen, Veranstaltungen und Beratungen mit der Galleria d’Arte Moderna e Contemporanea »Il Logogramma« und der Kulturzeitschrift »Quadri e Sculture« zusammen, im Studium an der Biblioteca di Filosofia »Villa Mirafiori«, unterrichtete von 1996 bis 1999 Italienisch an der Accademia Tedesca »Villa Massimo«, wurde nach ihrem Abschluß kurzzeitig Philosophiedozentin am Centro Universitario »Universitalia« und arbeitete als Lektorin und Übersetzerin bei dem jüdischen Verlag »Giuntina« in Florenz. Außerdem unterrichtete sie privat einige Deutsche in der Stadt.
Von 1997 bis 2001 studierte sie Evangelische Theologie an der Facoltà Teologica Valdese in Rom, mit dem Schwerpunkt auf Theologie und Exegese des Alten Testaments, und schloß mit dem Diplom ab. Dieses Studium verdankte sie einer Sondergenehmigung für nicht-christliche Studenten. Dies war nötig, weil Francesca während ihres Universitätsstudiums sich zum Judentum bekannte. An der Gregoriana, der päpstlichen Universität, wäre sie nur als Gasthörerin zugelassen worden.
Als Francesca im Januar 1999 nach Deutschland ging, lebte sie sich relativ schnell ein, natürlich auch dank der Tatsache, daß sie einen Mann hatte, der eine ganze Infrastruktur mitbrachte. Sie knüpfte nicht nur rasch Kontakt mit der Universitätswelt, sondern auch mit der jüdischen Gemeinde – sie ging damals regelmäßig in die Synagoge –, baute systematisch Freundschaften auf, so zu einigen Italienischschülern, zur Dermatologin, zu ihrem Rechtsanwalt und natürlich zu etlichen italienischen Kommilitonen; sie spendete, wie zuvor in Rom, Blut beim Roten Kreuz. Sie etablierte sich peu à peu und wurde – man kann es so sagen – eine richtige Deutsche. Am 6. Februar 2002 wurde sie schließlich eingebürgert.
Hier, in Deutschland, macht sie eine elementare Lebenserfahrung: Sie braucht keine Angst mehr zu haben. Angst, die alltägliche, ist durchaus ein Markenzeichen in Italien. Man kann dort nie wissen, ob nicht im nächsten Augenblick etwas Irrationales, Gesetzloses, Chaotisches, Abgefeimtes passiert. Man ist sich nie sicher. In Deutschland hingegen, auch wenn die Deutschen gerne jammern und stöhnen, kann man im Regelfall davon ausgehen, daß es mit rechten Dingen zugeht. Ein Beispiel: Gingen wir ins Kino, war Francesca viel zu früh fertig und drängte mich zum Aufbrechen. Ich sagte ihr, der Verkehr, die Straßenbahn, der Kartenverkauf, die Sitzverteilung, all das würde hier funktionieren. Das sei in Italien anders, deswegen müsse man sich auf die Eventualitäten einstellen, wobei natürlich viel Zeit verschwendet wird. Francesca weiß es zu schätzen, daß auf die deutschen Verhältnisse, zumindest im Vergleich zu ihrem Heimatland, Verlaß ist. Sie kann sich auf ihre Arbeit konzentrieren und ansonsten das Leben genießen.
Ihr Promotionsstudium in Freiburg – mit dem Vorlauf sind es drei Jahre – war extrem arbeitsintensiv. Man muß bedenken, daß Francesca sich zuallererst in der deutsche Sprache zurechtfinden mußte; immerhin war diese neue Sprache das Medium ihrer schriftlichen Arbeit an der Universität. Ihre Dissertation schrieb sie auf Italienisch und übersetzte sie dann eigenständig ins Deutsche, wonach ich als Lektor eingriff. In dieser Zeit mußte sie aber auch noch »ordentlich« studieren, denn offiziell befand sie sich im Hauptstudium eines altehrwürdigen, heute meist abgeschafften Studiengangs der Direktpromotion ohne Abschluß. Dafür besuchte sie philosophische Seminare und solche der Katholischen Theologie, für die sie neun Hausarbeiten schrieb. Parallel dazu absolvierte sie ihr Studium der Evangelischen Theologie in Rom. Zwischendurch perfektionierte sie ihr Englisch mit dem Zertifikat »very good« des höchsten Levels des »Cambridge Institute« und gab, um ihre Finanzen aufzubessern, fleißig privaten Italienischunterricht. Damit aber nicht genug: In diesen Jahren übersetzte sie zwei Bücher von Martin Buber ins Italienische für den Florentiner Verlag Giuntina, eine Art Hobby und Ferienbeschäftigung.
Francescas finanzielle Situation verbesserte sich von Jahr zu Jahr. Vom Wintersemester 1999/2000 bis Wintersemester 2001/02 erhielt sie ein Promotionsstipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung. Die erste Zeit davor in Deutschland bestritt sie mit Ersparnissen, Sprachunterricht und einem kleinen Unijob. Das Sommersemester 2002 wurde auf ähnliche Weise überbrückt. Auch hier hatte Francesca Ersparnisse, weil sie auch während des Promotionsstipendiums weiterhin Italienischunterricht gab. Außerdem war sie ab diesem Semester Lehrbeauftragte an der Universität Freiburg, eine Tätigkeit, die sie mit Blockseminaren auch dann ausübte, als sie in Israel wohnte. Für das Wintersemester 2002/03 erhielt sie ein großzügiges, zweijähriges Auslandsstipendium der Minerva-Stiftung. Im akademischen Jahr 2003/04 hatte sie eine kleine Dozentur in der Schweiz, einem Land, das bekanntlich seine Lehrkräfte ausnehmend gut bezahlt, und einen Lehrauftrag an der Universität Frankfurt (am Main). Im Wintersemester 2004/05 wurde es wieder enger. Dafür hatte sie ab dem Sommersemester 2005 bis zu ihrer Ernennung zur Professorin in Potsdam Festanstellungen als Lehrstuhlvertreterin in Heidelberg und Frankfurt, außerdem eine Gastprofessur in Graz. Auch wenn Francesca zuweilen panische Angst befiel, sie könne, so wörtlich, verhungern, hatte sie immer ausreichend Geld, um das Leben zu führen, das sie führen wollte. Luxus war ihr ohnehin völlig gleichgültig.