Kitabı oku: «Liebst du um Schönheit»

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-89487-939-6

© 2015 by Henschel Verlag in der Seemann Henschel GmbH & Co. KG, Leipzig

Gemeinschaftsausgabe der Verlage Seemann Henschel GmbH & Co.KG, Leipzig, und Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co.KG, Kassel

Die Verwertung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Wir danken den Fotografen für die freundliche Überlassung ihrer Bilder zum Abdruck in diesem Buch. Nicht alle Rechteinhaber konnten trotz intensiver Recherchebemühungen ausfindig gemacht werden; in berechtigten Fällen bitten wir um Mitteilung an Catherine Pisaroni, c/o Lenny’s Studio (www.lennysstudio.com).

Redaktion: Felicitas Herberstein, Wien

Lektorat: Susanne Van Volxem, Frankfurt am Main

Bildredaktion: Catherine Pisaroni, Wien

Umschlaggestaltung: Catherine Pisaroni, Wien

Titelbild: Kristin Hoebermann

Gestaltung und Satz: Grafikbüro Scheffler, Berlin

E-Book: Carolin Scheffler

Inhalt

»Meine Stimme hat mich gefunden«

Macbeth, Sane Francisco Opera, 2007

© Terrence McCarthy

»Meine Stimme hat mich gefunden«
Vorwort

Mein Vater hat immer zu mir gesagt: »Mein Sohn, wenn du später mal dein Geld mit etwas verdienen kannst, was du auch noch gerne tust, dann bist du einer der glücklichsten Menschen dieser Erde.« Die Möglichkeit, meiner bis heute ungebrochenen Neugier freien Lauf lassen und mich mit der Literatur und Musik dieser Welt beschäftigen zu können, ist bestimmt ein großes »Glück« in meinem Leben. Ich bin mehr denn je davon überzeugt, dass die Künste und die Geisteswissenschaften wie eine Art unendliches Tagebuch davon zeugen, wer wir als Menschen sind. Daher möchte ich das Vorwort zu diesem Buch – eine Sammlung von Erfahrungen und Erinne­rungen sowie Reflexionen darüber – mit einem Dank an Sie, mein Publikum, beginnen. Mein Alltag ist geprägt von Worten und von jenen rätselhaften Phänomenen namens «musikalische Ideen«, ersonnen von sehr viel sprachgewaltigeren und tiefsinnigeren Menschen als mir. Meine Passion besteht darin, diese Gedanken, Ideen, Geschichten, ja auch Gefühle für wieder andere Menschen hörbar zu machen. Ihnen allen, die Sie einem Künstler ermöglichen, seiner Leidenschaft zu folgen und dabei sogar seinen Lebensunterhalt zu verdienen – Ihnen allen gebührt mein tiefer Dank.

Ich muss zugeben, die Vorstellung, mich an einem Biografie-Projekt über einen gewissen Thomas Hampson zu beteiligen, hat zunächst gemischte Gefühle, wenn nicht sogar ein wenig Unbehagen in mir ausgelöst. Seit ich erwachsen bin, habe ich die meiste Zeit mit Lesen verbracht, voller Bewunderung für Bücher und das Leben jener, die sie für uns schrieben. Ich hatte einfach nicht daran gedacht, selbst einmal meine Gedanken und Erfahrungen zu Papier zu bringen. Die Rückschau auf Vergangenes hat für mich auch etwas Statisches. Wahrscheinlich habe ich das von meinem Vater, der mich immer gelehrt hat, nach vorne zu blicken. Sein Lebensmotto war: »Gib niemals auf« oder auch »Steh auf, wenn du am Boden bist, und lass die Fehler hinter dir«. So ist dieses Buch für mich weniger ein Blick zurück als einer rundherum, um 360 Grad.

Schopenhauer sagte: »Die Erinnerung wirkt wie das Sammlungsglas in der Camera obscura: Sie zieht alles zusammen und bringt dadurch ein viel schöneres Bild hervor, als sein Original ist.« Das habe ich in diesem Buch versucht zu vermeiden. Ich möchte vielmehr einige Aspekte aus meinem Leben mit Ihnen teilen, die Sie hoffentlich noch nicht über mich wissen, Gedanken über bestimmte Entscheidungen und ihre Folgen äußern und vor allem aufzeigen, was so viele meiner Mentoren mir in ihrer unglaublichen Weitsicht mit auf den Weg gaben. Natürlich besteht keinerlei Hoffnung auf Vollständigkeit, aber dafür garantiere ich Ehrlichkeit.

Ein Leben ohne Musik ist für mich etwas, das ich nicht kenne. Musik war immer da. Meine Mutter liebte Musik, mein Vater hatte nichts gegen Musik und mochte es auch, sie um sich zu haben, aber sie war für ihn nicht von primärer Bedeutung. Zu meinen frühesten Erinnerungen zählt, wie ich als kleiner Junge mit meinen Spielsachen unter der Orgelbank in unserer Kirche hockte, während meine Mutter übte oder sich ein musikalisches Programm für den Wochenendgottesdienst ausdachte. Etwas deutlicher erinnere ich mich daran, wie meine beiden älteren Schwestern Tonleitern rauf- und runterspielten – durchaus ahnend, dass diese Überei irgendwann auch einmal auf mich zukommen würde.

Sie sehen also, ich mochte Musik schon als Kind, auch wenn mir damals vermutlich noch nicht bewusst war, wie sehr. Aber ich mochte auch viele andere Dinge. Tatsächlich könnte man sagen, dass ich mich sehr leicht von allem ablenken ließ, was mir ad hoc interessanter erschien als das, was ich eigentlich tat. Das ist letztlich wohl symptomatisch für meine gesamte Kindheit. Aus der kritischen Distanz von heute heraus kann ich verstehen, dass meine Eltern so sehr auf Disziplin, auf rationales Denken, Verantwortung und so weiter bedacht waren. Doch ein etwas milderer Blick lässt mich erkennen, dass ich schon immer eine sehr aktive und lebhafte Fantasie hatte. Das ist eben jene »ungebrochene Neugier«, von der ich eingangs sprach. Keine Frage, ich interessierte mich schon früh für alles, was um mich herum passierte. Ich liebte die Naturwissenschaften, spielte gerne Baseball, engagierte mich bei den Pfadfindern und vieles mehr. Aber auch die Welt der Klänge, Musik oder Geräusche in der Natur, faszinierte mich sehr. Meine Intuition und meine Neugier haben mich, vor allem in meinem späteren Leben, dazu getrieben, mich auch intellektuell mit diesen Dingen zu beschäftigen.

Bruno Walter sagt in seinem Vorwort zu Lotte Lehmanns großartigem Lehrbuch More Than Singing. The Interpretation of Songs den klugen Satz: »Für dich kam immer zuerst das Singen und dann das Nachdenken darüber. Du bist befähigt zu lehren, weil du selbst aus deiner Intuition heraus lernst.« Ich liebe dieses Zitat. Ein älterer Arbeitstitel für das vorliegende Buch lautete denn auch ganz in diesem Sinne: Meine Stimme hat mich gefunden.


Liederabend, Wigmore Hall, 2013

© Minjas Zugik

Liebst du um Schönheit – Sie werden sich vielleicht fragen, wie es schließlich zu diesem Titel für mein Buch kam. Nun, meine Verehrung für Gustav Mahler und alle Aspekte seines Lebens ist hinlänglich bekannt. Und die Geschichte, die sich hinter diesem sanften Liebeslied mit dem genannten Titel verbirgt, hat mich immer sehr bewegt und fasziniert. Mahler hat es im Sommer 1902 geschrieben, für seine Frau Alma, mit der er erst fünf Monate verheiratet war. Er schrieb es höchstwahrscheinlich aus einer doppelten Absicht heraus: Ihr Geburtstag war am 31. August, und das eheliche Verhältnis in Erwartung des ersten Kindes, Maria, das im November 1902 auf die Welt kommen sollte, dürfte – wie soll man sagen – etwas unter Spannung gestanden haben. Was auch immer die Hintergründe waren, Mahler bezeichnete dieses Lied als ein »Privatissimum an Alma«, und man kann durchaus behaupten, dass es das persönlichste Liebeslied, wenn nicht gar das einzige ist, das er jemals geschrieben hat.

Mahlers Inspirationsquelle war ein Gedicht von Friedrich Rückert mit dem Titel »Sicilienne« aus der Gedichtsammlung Liebesfrühling. Eine Sicilienne ist ein langsamer Tanz, eine Art Pastorale oder Ländler. Metaphorisch verwendet bezeichnet »Sicilienne« auch einen sanft gehauchten Liebesgruß. Der Hintergrund von Rückert als Italienreisender und Orientexperte, welcher vielen seiner Gedichte jenen so einzigartigen Beiklang gibt, scheint hier, in dieser sehnsüchtigen Anrufung der Liebe um ihrer selbst willen, besonders prägend. Mahler hat in Rückerts schwärmerischer Abwendung von der Beschäftigung mit »Schönheit«, »Jugend« und »Schätzen«, um sich dem einzigen Sinn des Lebens – der »Liebe« – zu widmen, gewiss eine Entsprechung für seine Liebe zu Alma gefunden. Sie war schön, er nicht. Sie, die um fast 20 Jahre Jüngere, war jugendlich, er nicht. Und in seiner Welt gab es ganz andere Schätze als in jener, der sie vor ihrer Ehe angehörte. Aber – er liebte sie, verehrte sie, verstand sie auch oft nicht richtig und flehte sie an, das Vertrauen in ihre ewigliche innige Verbundenheit nie zu verlieren.

Man kann diese Liebesgeschichte einfach bewundern und sich daran freuen. Aber mich interessiert vor allem Mahlers lebenslange Beschäftigung mit den Worten »Schönheit« und »Liebe«. Seine und Rückerts »Schönheit« ist die Schönheit im Sinne von John Keats, der sagte: »Schönheit ist Wahrheit, Wahrheit ist Schönheit – das ist alles, was ihr auf Erden wisst, alles, was ihr zu wissen braucht.« Die »Liebe« dieser Männer ist die Liebe schlechthin, die aus Eros, Philia und Agape besteht.

Jenes mystische Ideal, das Mahler in seiner Musik für mich immer wieder aufzeigt, ist einer der zentralen Orientierungspunkte in meinem Leben gewesen. Genau wie Mahlers Credo, stets nach dem Eigentlichen zu suchen (und zwar unabhängig von persönlichen Eitelkeiten, geleitet von tiefer Aufrichtigkeit und im Hier und Jetzt lebend), für mich immer wieder ein Quell des Staunens und der Dankbarkeit ist. Um es mit Joseph Campbell, dem großen amerikanischen Denker, zu sagen: «The privilege of a lifetime is being who you are.«

Doch bevor wir nun in medias res gehen, möchte ich Sie noch einen Blick hinter die Kulissen werfen lassen, auf diejenigen, ohne die ich dieses Buchprojekt nicht hätte in Angriff nehmen können.

Da wäre zunächst der Henschel Verlag, vertreten durch seine Programmleiterin Susanne Van Volxem, der eine bemerkenswerte Reihe an biografischen Werken unterschiedlicher Art von darstellenden Künstlern unserer Zeit verlegt. Ich bin dankbar nicht allein dafür, mich mit meinem Buch in diese Reihe eingliedern zu dürfen, sondern vor allem für Susanne Van Volxems beharrliche Ermunterung und Geduld von Anfang an. Danken möchte ich auch Hans-Jürgen Linke, der mir eine Zeitlang bei diesem Unterfangen als mein »Boswell« sekundierte und dessen Arbeit einen nachhaltig positiven Einfluss auf die weitere Entwicklung hatte. Erwähnt sei an dieser Stelle ebenso Clemens Prokop, dessen vielfältige Karrieremöglichkeiten ihm eine außergewöhnliche Disziplin und Konzentration abverlangen; ihm möchte ich dafür danken, dass er die Herausforderung angenommen hat, sich den Gezeiten meiner Terminplanung anzupassen und mit mir zusammen nach den richtigen Worten zu suchen, während wir gemeinsam das Labyrinth meiner vergangenen Tage durchschritten und diese zu deuten versuchten.

Doch insbesondere meiner Familie und den gemeinsamen Fähigkeiten und individuellen Talenten ihrer Mitglieder ist es zu verdanken, dass dieses Buch am Ende tatsächlich Wirklichkeit geworden ist. Unterstützung habe ich von ihnen allen erfahren, in herausragender Weise aber von meinen geliebten Töchtern: Catherine Pisaroni, deren Blick für Schönheit und optische Klarheit mich immer wieder neu in Erstaunen versetzt und mich die Dinge in einem anderen Licht betrachten lässt, und Felicitas Herberstein, deren Einfühlungsvermögen in die komplexen Gedanken und Gefühle anderer Menschen generell, aber speziell in die besonderen Befindlichkeiten von Künstlern maßgeblich dazu beigetragen hat, dem Buch seine jetzige Struktur und Gestalt zu verleihen.

Last but not least geht mein Dank an die Mutter dieser Töchter, an meine geliebte Frau Andrea Herberstein, dank deren grenzenloser Energie, sprühender Intelligenz und innigem Vertrauen ich des Lebens »Schönheit« zu erkennen vermag und die mir immer wieder zeigt, was eine »ewigliche Liebe« bedeutet. Aus tiefstem Herzen widme ich ihr dieses Buch.

Thomas Hampson

Zürich, im Mai 2014

A Boy from Spokane

Autobiografische Notizen aus den ersten Sängerjahren

Meine Kindheit und Jugend habe ich in Washington State verbracht, einer wunderbaren Gegend mit Klimazonen aller Art im Nordwesten der Vereinigten Staaten von Amerika. Aufgewachsen bin ich in einer Wüstenregion an der Grenze zwischen Idaho und Oregon, da mein Vater damals als Chemiker an Projekten zur friedlichen Nutzung von Atomenergie gearbeitet hat. So zog die Familie im Herbst 1955 – ich war gerade ein paar Monate alt – nach Richland, Washington, denn in dieser Gegend der USA waren zahlreiche Unternehmen im Bereich der nuklearen Energiegewinnung tätig, darunter auch General Electric (GE). Als Teenager verließ ich dann die Metropolregion Tri-Cities, um in der Nähe von Spokane ein Internat zu besuchen. In Spokane habe ich mein erstes sinfonisches Konzert gehört, meinen ersten Stimmunterricht bekommen und mein Universitätsstudium beendet – Spokane ist also die Stadt, in der ich erwachsen wurde.

Ursprünglich stammt meine Familie aus dem Mittleren Westen, hauptsächlich aus den Bundesstaaten Missouri und Kansas. Meine beiden Großväter waren Farmer, der Vater meines Vaters besaß allerdings noch eine Baufirma, die sich auf Straßenbau spezialisiert hatte. Dort arbeitete auch mein Vater zunächst, mit der Folge, dass vor seinem Wechsel zum Hanford Nuclear Park einige Umzüge für ihn und meine Mutter zu bewältigen waren: Eine meiner beiden Schwestern ist in Missouri zur Welt gekommen, die andere in South Dakota und ich als der Jüngste von uns dreien in Indiana.


Familie Hampson Anfang der 1960er-Jahre

© Privatarchiv Thomas Hampson

Meine Familie hat die ganze Entstehungsphase der modernen amerikanischen Welt parallel zur Entwicklung der Atomindustrie in dieser Gegend miterlebt. Am Ende seiner Karriere leitete mein Vater die erste Herstellerfirma für kommerziell genutzte nukleare Heizstäbe und ging aus dieser Position dann in den Ruhestand. Ich habe in all den Jahren meinen Vater nur zwei- oder dreimal im Büro besucht – die Sicherheitsmaßnahmen in der Nuklearanlage waren einfach zu umständlich. Was ich deutlich in Erinnerung habe, sind die regelmäßigen Urinproben bei allen Hanford-Angestellten. Einmal in der Woche kam jemand mit einer Kiste vorbei, in der es leise klirrte: die Gläschen mit den Urinproben, anhand derer bei jedem Mitarbeiter die Intensität der Bestrahlung gemessen wurde. Ansonsten spielte sich die Arbeit meines Vaters hinter streng verschlossenen Türen ab. Es war alles sehr technisch und für mich damals fürchterlich kompliziert.

Mein Vater hat also viel und gut abgeschottet von uns gearbeitet, aber zu Hause war er mein »Dad«. Unser Familienleben in den 1950er- und 1960er-Jahren war ein Paradebeispiel für den Alltag einer amerikanischen Familie nach dem Zweiten Weltkrieg. Ich bin sehr behütet aufgewachsen, und mein Vater hat mich als Sohn und Jüngsten ganz anders als die beiden älteren Mädchen behandelt – er war mein engster und bester Freund. Es war eine Bilderbuchkindheit. Wir haben Golf und Baseball gespielt, er war Scout Leader bei den Pfadfindern – das musste immer ein Erwachsener sein –, und meine Freunde haben mich beneidet um diesen Vater. Damals war er uneingeschränkt mein Held. Er war ein großer Bauernjunge und sehr stark – ich meine, wirklich stark, zum Fürchten stark. Geprägt von einer männlichen Welt, wollte auch ich so ein Mannsbild ­werden.


Vater und Sohn, um 1968

© Privatarchiv Thomas Hampson

Einmal in der Woche hat mein Vater mit seinen Freunden Golf gespielt. Als sein »Caddy« war ich immer dabei. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich den Sport selbst gelernt habe, ich erinnere mich nur an mein erstes Golfset, mit gekürzten Schlägern. Wir sind auch oft mit Autoanhänger, Zelt und Hund campen gegangen. Im Unterschied zu mir war mein Vater ein leidenschaftlicher Angler. Aber die Liebe zur Natur verband uns beide von Anfang an. Meine Eltern verkörperten die klassischen Rollenbilder der damaligen oberen Mittelschicht in den USA: Vater war der Intellektuelle und der Outdoor-Mann, Mutter die Sensible und die Künstlerin.


Der junge Golfer

© Privatarchiv Thomas Hampson


Auf dem Golfplatz, 2012

© Suzanne Schwiertz, Opernhaus Zürich


Der junge Angler

© Privatarchiv Thomas Hampson

Ich habe nur zwei Jahre lang eine öffentliche Schule besucht. Mein Vater gehörte der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten an, die in Pasco eine Schule gegründet hatten: Klar, dass ich dorthin wechselte. Musik spielte an dieser Schule nicht nur im Unterricht, sondern ebenso bei Veranstaltungen und Aufführungen für die Eltern eine große Rolle. Ständig war etwas los. Die Musik an der Schule war naturgemäß eng verknüpft mit Kirchenmusik: viele Gospels und Hymnen, auch patriotische Lieder, besinnliche Lieder. Das hat mich sehr geprägt. Meine Stimme und meine Lust zum Gesang haben gewissermaßen mich gefunden – und nicht umgekehrt. Ich habe immer gerne gesungen, das gehörte in unserer Familie einfach dazu. Meine Mutter, die ein richtiges Naturtalent war, und meine Schwestern gaben den Weg vor. Die ältere Schwester hatte möglicherweise sogar früher als ich Ambitionen, Profimusikerin zu werden; sie war eine beachtliche Pianistin und hatte obendrein eine sehr schöne lyrische Sopranstimme. Meine Mutter war Organistin an unserer Kirche und hat in einer Light Opera Company gesungen. Für sie stand außer Frage, dass ihre Kinder alle drei in den Kirchen- und Schulchor gingen. Daher waren unsere Wochenenden stets musikalisch gefüllt; jeder hatte da seine Aufgabe. Nur für meinen Vater war die Musik nicht so wichtig, obwohl er sie dennoch genossen hat.


Weihnachten 1965 mit den Schwestern Linda und Lana

© Privatarchiv Thomas Hampson

Musik zu lesen oder nach Noten zu spielen habe ich erst relativ spät gelernt. Begonnen habe ich mit Klavierunterricht, und einige Zeit danach bin ich Schlagzeuger in der Schulband geworden. Später lernte ich Trompete und wollte dieses Instrument dann ebenfalls in der Schulband spielen, doch der Bandleader meinte nur: »Ich brauche keine Trompete. Wenn du aber Tuba spielen willst – das ist recht ähnlich –, bringe ich es dir bei.« Also habe ich auch noch Tuba gespielt – immerhin fünf Jahre lang als Solist. Die Wände zu Hause haben gewackelt. Meine Eltern fanden das wohl lustig bis grauenhaft, aber wahrscheinlich immer noch besser als Schlagzeug.

Und damit nicht genug: Eigentlich hätte ich am liebsten auch noch Saxofon gespielt, weil mich der Klang so faszinierte. Aber es gab an der Schule nur ein einziges Instrument, das immer von einem zum nächsten Schüler weitergereicht wurde. Diese Vorstellung war für mich so abstoßend, dass sich mein Wunsch, Saxofon zu spielen, von selbst erledigte.

Interessanterweise gab es in unserer Umgebung kaum ein Streichinstrument. Amerikanische Provinz eben: Streichinstrumente waren etwas für Großstädter, wir hatten kaum Berührungspunkte damit. Erst als Teenager erlebte ich zum ersten Mal ein richtiges Orchester: das Spokane Symphony Orchestra. Das war eine Belohnung für schulische Erfolge; wir fuhren mit dem Bus ins Sinfoniekonzert und wieder zurück. Das eigentliche Highlight dieses Ausflugs war zugegebenermaßen die abendliche Rückfahrt, bei der wir den Mädchen ein bisschen näherkommen konnten.


Um 1970

© Privatarchiv Thomas Hampson

Im Internat stand ich irgendwann vor der Entscheidung, ob ich weiter in der Band spielen oder lieber singen sollte. Chor und Band probten nämlich zur selben Zeit. Der Chorleiter Lynn Wickham war eine echte Autorität. Er war sehr streng, und wenn er jemanden in seinen Chor aufnahm, kam das einer Auszeichnung gleich. Ich habe mir keine allzu großen Hoffnungen gemacht. Aber ich habe ihm vorgesungen – weil ich unbedingt singen wollte. Eine berufliche Überlegung spielte damals freilich noch überhaupt keine Rolle.

Beim Vorsingen wurde ich also das erste Mal »entdeckt«: Ich wurde sofort in den Chor aufgenommen, erhielt Privatunterricht und durfte in den Reisechor. Zu diesen choraliers zu gehören bedeutete, dass man auf jeden Fall ein gewisses Talent besaß. Die choraliers waren in der Region und an anderen Schulen bekannt, wenn nicht gar berühmt. Als Gruppe waren wir eine eingeschworene Gemeinschaft. Im Mittelpunkt stand Lynn Wickham – Erzieher, Chor­meister und Herr über den Gesang in Personalunion. Er hat diese Position durchaus genossen. Aber das machte nichts, denn er hat eine Disziplin eingefordert, die berechtigt und notwendig war. Ich komme ohnehin aus einer sehr disziplinierten Familie, aber als Teenager will man natürlich alles andere, als sich einem strengen Regiment zu unterwerfen. Trotzdem habe ich erkannt, worum es geht. Ich habe gelernt, wie man zielstrebig arbeitet und Texte wie Noten auswendig lernt. Auch das ist ja ein wichtiger Prozess.

Lynn Wickham hat mich auch das erste Mal auf ein Festival geschickt, bei dem man von einer Jury beurteilt wurde: dem ­Spokane Music and Allied Arts Festival, dem Vorläufer des heutigen Musicfest Northwest. Meine Lieder hatte ich ordentlich »präsentiert«, und dass ich bei diesem ersten Versuch 90 von 100 Jurypunkten bekam, war durchaus beachtlich. Allerdings diskutierte er danach mit mir mehr über die fehlenden 10 Prozent als über meinen Erfolg. Das war eben typisch Lynn.


Choraufführung 1966 – Thomas ist der Erste von links in der

vorderen Reihe

© Privatarchiv Thomas Hampson

Meinen ersten professionellen Zugang zur klassischen Musik hatte ich übrigens auch in einem Chor – im 1974 gegründeten »Choral«. Irgendwann kam die Seattle Opera zu einem Gastspiel nach Spokane. Das Ensemble hat immer mit lokalen Chören gearbeitet, und so kam ich in den Chor bei Così fan tutte und beim Barbier von Sevilla. Mein größtes Erlebnis in dieser Zeit war aber die Weltausstellung, die Expo ’74, in Spokane. Damals kam Richard Tucker, der weltberühmte New Yorker Tenor, und ich durfte im Chor mitsingen. Aufgeführt wurde I pagliacci. Der Bariton Kari ­Nurmela, der damals in Stuttgart an der Oper und später in Zürich enga­giert war, verkörperte den Tonio. Diese Art von Gesang aus nächster Nähe zu erleben hat mich sehr beeindruckt.

Während meines letzten Highschool-Jahres begegnete ich der wohl außergewöhnlichsten Gesangspädagogin von ganz Spokane: der katholischen Nonne Sister Marietta Coyle. Sie hatte bei der legendären Sopranistin Lotte Lehmann Gesang studiert, die während der NS-Zeit nach Amerika emigriert war. Die Kirche hat Schwester Marietta sehr unterstützt, sowohl als Sängerin – sie hatte bis zum Schluss einen gesunden und vollen lyrischen Sopran – als auch als Gesangslehrerin.

Eines Tages kam Schwester Marietta auf mich zu und fragte: »Was hast du eigentlich vor, wenn du deinen Highschool-Abschluss gemacht hast?« – »Ich gehe an die Eastern Washington University und werde Rechtsanwalt«, sagte ich – was man eben so sagt als 17-Jähriger. »Das ist toll«, entgegnete sie. »Du bist intelligent, du hast einen wachen Verstand, der trainiert werden muss.« Und dann fügte sie hinzu, ihr sei während der letzten Jahre klar geworden, dass ich auch eine künstlerische Seite hätte, die ich nicht vernachlässigen sollte. »Deine Stimme, junger Mann, ist sehr schön«, sagte sie, »aber was mich auch interessieren würde, ist deine künstlerische Persönlichkeit, die ich zu erkennen glaube. Wenn du mehr darüber wissen willst, ruf mich an.«

Natürlich habe ich sie angerufen, und wir haben danach oft lange Gespräche geführt. Allerdings begriff ich längst nicht alles, was sie mir sagte. Sie wollte wissen, was ich an der Highschool gelernt hätte. Ich erzählte ihr von meinen Schulfächern: Geschichte, Literatur, Englisch. Und dass ich mich für eine Fremdsprache entschieden hätte – Deutsch. Meine Englischlehrerin war eine gebürtige Deutsche, die auch in ihrer Muttersprache unterrichtete. Sie war ziemlich streng und gefürchtet, aber ich war einer ihrer Lieblingsschüler. Für kaum einen anderen Lehrer habe ich so viel Hausaufgaben gemacht. Unter ihrer Anleitung haben wir eine »deutsche« Sternsinger-Gruppe gebildet und jede Menge deutsche Lieder gesungen, die sogar aufgenommen wurden.

Als ich Sister Marietta von den Sternsingern erzählte, meinte sie: »Du weißt, dass es viele deutsche Gedichte gibt, die vertont wurden? Von Franz Schubert zum Beispiel. Hast du je von Schubert gehört?« Ich kannte Schubert nur vage. Sie sagte, er habe über 500 Lieder geschrieben – was mich erstaunte. Dann fragte sie nach Schumann. Ich hatte eine Etüde von ihm auf dem Klavier gespielt, aber mehr kannte ich nicht. »Ich hätte da eine Idee, vielleicht ist das was für dich«, sagte sie. Sie ging mit mir in die Bibliothek und gab mir von der Schumann- und von der Schubert-Ausgabe der Edition Peters jeweils den ersten Band. Dann gingen wir in die Hörbibliothek, einen kleinen Raum, in dem man in Ruhe Schallplatten hören konnte. Sie drückte mir unter anderem eine Fischer-Dieskau- und eine Hermann-Prey-Platte mit Liedern von Schubert, Schumann in die Hand – was genau es war, weiß ich nicht mehr. Und sie sagte: »Hör dir das mal an, vielleicht gefällt es dir ja. Wenn du etwas findest, was dich interessiert, können wir gerne daran arbeiten. Ich fände es jedenfalls gut, wenn du ein Schubert-Lied lernen würdest.«

Nun, das Ergebnis war: Ich war wie besessen. Stundenlang habe ich in den Schubert- und Schumann-Bänden gelesen, habe mir die Platten angehört, die Noten verfolgt und war vollkommen hin und weg. Die Idee, ein Gedicht in eine musikalische Sprache zu übersetzen, fand ich umwerfend, und ich habe von nichts anderem mehr gesprochen. Die erste Schallplatte, die ich mir selbst gekauft habe, war von Dietrich Fischer-Dieskau, mit Goethe-Liedern von Schubert und anderen. Fischer-Dieskau hat mich schon sehr früh ungemein beeindruckt und beeinflusst. Diese Platte war für mich der Heilige Gral. Ich bin dann häufig in öffentliche Bibliotheken gegangen, um Kassetten oder Nachschlagewerke auszuleihen, und sehr rasch hat sich mir eine neue Welt erschlossen.

Das war gerade in der Zeit, als ich mich, nicht eben voller Enthusiasmus, dem Anwaltsberuf zuwenden wollte. Nach meinem Highschool-Abschluss verließ ich die Welt der Adventisten und schrieb mich an einem Public College ein, der Eastern Washington University. Ich wollte dort mein Grundstudium absolvieren, um danach an die Law School gehen zu können. Schwester Marietta aber ließ nicht locker. Sie stellte mich dem Musikdirektor des Sinfonieorchesters von Spokane vor, Donald Thulean. Er wollte die Johannes-Passion von Bach aufführen, und sie meinte, er könnte mich dabei gebrauchen. Er ließ mich vorsingen, gab mir Noten und wollte wissen, ob ich in der Lage sei, danach zu singen. Ich konnte zwar vom Blatt lesen, aber ich hatte Gesangspartien bis dahin immer auswendig gelernt und fühlte mich etwas unsicher. Doch er war offenbar von meiner Stimme angetan, und ich durfte tatsächlich den Pilatus und die Bass-Arien singen.

Schwester Marietta Coyle war auch diejenige, die mir von der Music Academy of the West im südkalifornischen Santa Barbara erzählte. Sie hatte diese achtwöchige Sommerakademie, die 1947 von Lotte Lehmann gemeinsam mit dem ebenfalls in die USA emigrierten Dirigenten Otto Klemperer und einigen anderen Musikern und Kunstmäzenen gegründet wurde, einst selbst besucht. Obwohl Lotte Lehmann bereits 1976 gestorben war, wollte Schwester Marietta unbedingt, dass auch ich die Erfahrung einer solchen Ausbildung machte. »Wir müssen dich an einen Ort schicken, an dem du dich weiterentwickeln kannst«, erklärte sie. »Du bist bereit für die nächste Etappe.« Mit 22 Jahren hatte ich schon einige Preise gewonnen und mir als Sänger in Spokane einen gewissen Namen gemacht. Mit meinem Politologie- und Jurastudium war ich fast fertig und sehr aktiv als gewählter Studentenvertreter, aber schon recht fokussiert auf die Musik. Kurz: Ich ließ mich auf das Abenteuer ein.

Lotte Lehmanns Erbe hatte Martial Singher übernommen, ein sehr angesehener französischer Bariton. Ein Künstler von seltenem Rang und eine wahre Instanz. Er war es auch, der Maurice Ravels drei Don Quichotte-Lieder uraufgeführt hatte. Neben Singher prägte Gwendolyn Koldovsky, die ehemalige Klavierbegleiterin Lotte Lehmanns, in ihrer Funktion als Leiterin der Abteilung Liedbegleitung an der Music Academy of the West maßgeblich die Sommerakademie. Und diese beiden Koryphäen, Lotte Lehmanns Pianistin und einer von Ravels bevorzugten Sängern, sollten nun meine Geschicke beeinflussen!

Bei der Sommerakademie kam ich zum ersten Mal in meinem Leben mit gleichaltrigen angehenden Sängern in Berührung, die jedoch wesentlich ehrgeiziger und zielgerichteter eine professionelle Karriere anstrebten als ich. Ich hatte einiges an deutschem Lied­repertoire zugewiesen bekommen, was allein auf musikalischer Ebene schon schwierig genug für mich zu lernen war. Und dann auch noch auf Deutsch! Immerhin hatte ich dank meiner früheren Lehrerin ja schon begonnen, mich ein wenig mit dieser Sprache zu beschäftigen. Ich liebte dieses Repertoire innig. Für mich war das die Vollendung im Gesang. Dieser Drang, Schönheit zu gestalten!

Wir Musikstudenten hatten glücklicherweise Zugang zur Uni­Bibliothek von Santa Barbara. Dort stand ich zum ersten Mal vor einer Wand mit Langspielplatten. Ich war überwältigt und verbrachte von nun an Stunden um Stunden dort. Ich saß einfach da und verschlang die Musik. Es war so aufregend und beeindruckend, diese Noten in der Hand zu halten, Nachschlagewerke zu studieren und Wörterbücher zu konsultieren! Das war schlicht und einfach toll. Ich habe diese Art von Selbststudium geliebt und akribisch meine Aufzeichnungen gemacht.

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