Kitabı oku: «RESET»
Clemens Weis
RESET
ZURÜCK INS LEBEN
Impressum
1. Auflage
© egoth verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Rechteinhabers.
ISBN: 978-3-903183-38-4
ISBN E-Book: 978-3-903183-64-3
Lektorat: Dr. Rosemarie Konrad
Cover und alle weiteren Bilder: Privatarchiv Clemens Weis
Grafische Gestaltung und Satz: Dipl. Ing. (FH) Ing. Clemens Toscani
Printed in the EU
Gesamtherstellung:
egoth Verlag GmbH
Untere Weißgerberstr. 63/12
1030 Wien
Österreich
Inhalt
Vorwort
PROLOG – Der Gaisberg-Aufstieg
TEIL 1: Mein Weg in 19 Songs
Tanzen
Plattenepithelkarzinom
Roswitha
Schwimmtrainer
Hannah
Schmerzen
Der Untersberg
Heldentat
Vaterunser
Sprachlos
Cisplatin
Schwimmen
Die Gsengalm
Selbstversuch
Troponin
Aufwachen
Tiefschlaf
Marinos Laptop
Comeback
Die Bremse
EPILOG – Die Gaisberg-Abfahrt
TEIL 2: Grenzgänge
Ich
Clemens
Familie und Freunde
Vertrauen
Mut und Risikobereitschaft
Zuversicht
Neugierde und Ehrgeiz
Ausdauer
Geduld
Training
Wollen
Leistung
Einstellung
Beharrlichkeit
Resonanz
Glück
Danke
Kurzbiographie
Vorwort
Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor.
Johann Wolfgang Goethe, Faust
Ich bin ein zäher Brocken. Ich meine nicht einer jener Typen, die einmal all out gehen und denken, sie wären widerstandsfähiger als alle anderen. Diese Bluffer-Typen, die erst schwafeln und dann, wenn es um die Substanz geht, wie aus der Pistole geschossen Ausreden für alle Was-wäre-wenn-Situationen präsentieren können.
Nein, ich bin das, was man einen zachen Hund nennt.
Dennoch habe ich nie gedacht, dass mir das auf den folgenden Seiten Beschriebene tatsächlich einmal hätte passieren können. Der Tod gehört nicht zum Leben eines jungen Mannes.
Zu mir schon gar nicht.
Ich hatte einen Plan, einen Weg, den wollte ich gehen.
Also ging ich ihn.
Ich wurde einfach noch zäher.
Der Soundtrack zu meiner Geschichte begleitet Teil 1 dieses Buches, der von meinem Aufstieg und von meiner Abfahrt erzählt.
Teil 2 sucht nach Antworten, reflektiert, überlegt. Er ist eine Sammlung dessen, was mich beeinflusst und mir das Überleben ermöglicht hat.
Was immer noch bleibt: Kann ich das überhaupt?
Schreiben? Erzählen?
Es ist ein Versuch.
Für mich und meine Wegbegleiter. Meine Familie und Freunde.
Für meine Tochter Hannah, damit sie nicht dieselben Fehler begeht wie ihr Papa.
Für Lukas.
Die Personen in diesem Buch sind nicht fiktiv. Diese Geschichte ist nicht fiktiv, sie ist tatsächlich passiert. Sie muss erzählt werden. Sie kann nur von mir erzählt werden.
Prolog – Der Gaisberg-Aufstieg
Aufgeben ist das Letzte, was man sich erlauben darf.
Hannelore Kohl
Der Gaisberg. Mein Hausberg. Salzburgs Hausberg. Hier bist du nie allein. Wenn du auf der Suche nach einem Trainingspartner bist, zieh deine Sportsachen an und fahr zum Einstieg. Bergläufer, noch mehr Radfahrer und unzählige Wanderer zu jeder Tageszeit machen meinen Hausberg zum sportlichen Mittelpunkt unserer Stadt. Egal, ob ich Gesellschaft oder Mitstreiter für meine sportliche Besteigung des Berges suche, immer finde ich die passenden Menschen. Vom Gipfel aus hat man eine unfassbar erhabene Aussicht auf die Stadt. Ich erkenne jedes Mal wieder die einzigartige Perfektion, die unsere Stadt von oben betrachtet ausstrahlt. Im Norden glänzen die Seen des Alpenvorlandes, im Süden stauen sich die Gebirge der Nordalpen auf, die meist schneebedeckten Gipfel ruhen majestätisch vor den Toren unserer Stadt, die durch die drei Stadtberge geteilt und gleichzeitig vereint wirkt. Der Gipfel ist der Lohn für den meist mehr als einstündigen steilen Anstieg.
Der Gaisberg ist 1287 Meter hoch, liegt am nördlichen Stadtrand Salzburgs und ist mit dem Rad, zu Fuß, auf Skiern, mit dem Auto, Bus oder mit Rollerskates von allen Seiten zu besteigen. Es gibt unzählige Wege, Pfade, Straßen oder Routen. Um von der Stadt aus auf den Gipfel zu kommen, muss man 863 Höhenmeter überwinden. Ein Naherholungsort für viele Salzburger, für mich jedoch immer mein idealer Trainingsberg. Ich wandere an regnerischen Tagen mit meiner Frau zum Luftschnappen und Durchbewegen meiner Knochen über den Büffelpfad zum Gipfel, laufe häufig mit meinen Freunden und Sportlern aus Parsch kommend bis zur Zistelalm, die auf gut 1000 Metern liegt, oder fahre den Gaisberg mit dem Rennrad auf und ab, oft mehrmals hintereinander.
Für einen Rennradfahrer zeichnet sich der Gaisberg ab der Zistelalm durch seine finale Steilheit auf den beiden letzten Geraden aus, die rund 250 Höhenmeter bis zum Gipfel ausmachen. Diese beiden Geraden sind meist der Scharfrichter für alle ehrgeizigen Rennradfahrer. Tief über den Lenker gebeugt, schwer atmend, versuche ich immer, auf diesen beiden letzten Geraden den Anschluss an meinen Vordermann herzustellen. Den Blick starr auf sein Hinterrad gerichtet, nehme ich die Welt um mich nicht mehr wahr. Schweißtropfen laufen mir über die Stirn in die Augen, der Rücken schmerzt von der Steilheit des Anstiegs, meine Atemfrequenz ist so hoch, dass ich nicht einmal einen – dringend benötigten – Schluck aus meiner Wasserflasche trinken kann. Die einzige Rettung ist der Vordermann.
Nur nicht abreißen lassen!
Nur nicht zurückfallen!
Koste es, was es wolle!
Die beiden Geraden werden von einer Kehre unterbrochen, für 20 Meter flacht die Steigung hier ab, um sich einem anschließend nochmals für 100 Höhenmeter entgegenzustemmen. Genau in dieser Kehre, die alle zum kurzen Durchschnaufen nutzen, forciere ich meine Attacke. Dort, wo alle eine kurze Pause einlegen, langsamer werden, die Beine kurz durchschütteln, genau dort schalte ich zwei Gänge höher und beschleunige aus der Kehre hinaus in den letzten Anstieg. Das Laktat schmecke ich auf dem Gaumen, selbst meine Nasenhaare schmerzen durch die gierige Atmung, meine Füße folgen nur mehr dem Kommando meines Ziels, bloß nicht eingeholt zu werden. Meist halte ich meinen Vorsprung aus der Kehre hinauf bis zum Gipfel, selten breche ich ein, doch immer finde ich wieder Anschluss an einen Vordermann oder halte an schlechten Tagen Kontakt zum Hinterrad eines mich überholenden Kameraden.
Der Gaisberg stellt meinen Willen jedes Mal wieder auf die Probe.
Der Gaisberg ist meine Lebensschule: Er hat mich gelehrt, nie aufzugeben.
Nie!
TEIL 1
Tanzen
Do you remember, when we were kings,
Float like a butterfly, sting like a bee.
Brian McKnight, Diana King, When We Were Kings
In der Leidenschaft der Bewegung voll und ganz aufzugehen, tief in die Selbstverständlichkeit des Handelns einzutauchen und dabei die Leichtigkeit zu leben, alles rundherum auszublenden, den Moment zu genießen – ein gutes Gefühl.
Früh begann ich, diesem Drang nachzugeben. Als eines von drei Kindern, meine Schwester Monika war die Älteste, mein Bruder Philipp der Jüngste, faszinierte mich immer schon das Außergewöhnliche. Das fand ich rasch im Sport. Fußball, Tennis, Turnen, Tischtennis, Handball, zunehmend auch Ausdauersportarten wie Laufen und Schwimmen – ich wollte alles ausprobieren. Ich liebte das Gefühl der Schwerelosigkeit während einer Bewegung, ich tanzte wie von meinem Innersten gesteuert in dem Rhythmus einer Bewegung und genoss dabei das Ergebnis, das ich selbst produzieren konnte. Es passierte einfach, es fühlte sich in dem Moment nach meiner Bestimmung an, ich war ich, und das zu 100 Prozent. Bewegungen zu durchleben, Bewegungen zu beobachten, faszinierte mich.
Ich fühlte mich wie ein König in seinem Reich.
Als Kind konnte ich meine Leidenschaft nur selten mit meiner Familie teilen. Mein Bruder Philipp schielte, sein linkes Auge war oft zugeklebt, bevor er im Alter von wenigen Jahren eine dicke Brille bekam. Sport war für ihn eine echte Herausforderung, er konnte nicht Ball spielen, da er schlicht nicht sah, wann der Ball zu fangen war, ihm fehlte das dreidimensionale Sehen. Philipp faszinierte alles Handwerkliche, er liebte seine Modelleisenbahn und war unser Bob, der Baumeister. Auch wenn ich als kleines Kind immer meiner Schwester nacheiferte, so blieb ich mit meiner Sportfaszination rasch allein in meiner Familie. Meine Mutter lehnte jede Form von Leistungssport ab, verstand auch meine Begeisterung nicht. Nur mein Vater, ein erfolgreicher Handballer, später auch Trainer, nahm mich immer wieder zu seinen Handballspielen mit. Ich liebte es, am Spielfeldrand zu sitzen, das teils aggressive Treiben des Spiels zu beobachten, die Stärken und Schwächen einer Mannschaft zu entdecken. Am meisten jedoch inspirierte mich das Talent mancher Spieler, die Begabung, die sie von anderen unterschied. Unorthodoxe – jedoch erfolgreiche – Wurfmanöver, die über Sieg und Niederlage entschieden, fingen meinen Blick. Sofort erkannte ich die Leitfiguren eines Spiels, war begeistert von ihrem Auftreten und ihrer Präsenz. Ich träumte in jungen Jahren selbst davon, mitzuspielen, die Leidenschaft, mit der sich die Sportler engagierten, faszinierte mich. Doch ich sprach nicht über meine Begeisterung, auch nicht mit meinem Vater, der die Welt des Sports ebenso sehr liebte wie ich. Als Geschäftsführer und Eigentümer unserer Rupertus Buchhandlung hatte er wenig Zeit, war zudem ein introvertierter Mensch – auch das ein Grund, warum wir der gemeinsamen Faszination für Sport wenig nachgingen.
Also beobachtete ich allein.
Beobachten bedurfte der Ruhe und Zeit. Ich konzentrierte mich mit all meinen Sinnen auf ein Geschehen, versank darin und nahm nichts um mich herum wahr. Ich liebte den Zustand der Beobachtung, er stellte für mich den Beginn eines spannenden Lernprozesses dar, den Start in eine Reise, die ich am Ende des Weges immer selbst durchlebte. Nahm mich mein Vater nicht zum Handball mit, verfolgte ich an einem Sonntagnachmittag ein Fußballspiel der lokalen Mannschaften in unserem Stadtteil Nonntal. Das Ergebnis war sekundär, die Namen der Teams ebenso, ich war kein Fan einer Mannschaft, ich war Fan des Spiels. Der Spielverlauf, die Kommunikation, die taktische Umsetzung faszinierten mich mehr als das Warten auf Tore, die Zeit verflog während meiner Beobachtung wie von selbst. Wieder zu Hause, konnte ich das Spiel detailgetreu nacherzählen, Gesichter, Spielzüge und natürlich auch das finale Ergebnis blieben mir lange im Gedächtnis.
Als junger Mensch wollte ich alle Beobachtungen nachmachen, selbst ausprobieren. Ich wollte alles wissen, selbst Bewegungen spüren, erst dann war ich mir sicher, ob und wie eine Bewegung funktioniert, wie ein Erlebnis sich anfühlt oder wie meine Reaktion auf diese bestimmte Situation war. Ich lernte wesentlich mehr aus der Beobachtung menschlichen Verhaltens und der körperlichen Fähigkeiten der Spieler als über die singuläre Anweisung eines außenstehenden Trainers, Lehrers oder Übungsleiters. Immer wollte ich wissen, welche Wege ich zur Perfektion eines Freistoßes aus 20 Metern oder zur präzisen Durchführung eines Asses beim Tennisaufschlag gehen musste, um danach schelmisch und stolz mein Können meinem Gegenüber zu demonstrieren. Die Tricks der besten Tennisspieler, die sie ohne sichtbare Anstrengung in extremer Bedrängnis auf dem Tennisplatz vollführten, veranlassten mich dazu, den Tennisball stundenlang gegen eine Hausmauer zu spielen, in der Hoffnung, einen ähnlichen Schlag ausführen zu können wie meine Vorbilder.
Unmittelbar neben dem Eingang zu unserem Wohnblock, auf der Wiese davor, stand eine Klopfstange, zwei Meter hoch, drei Meter breit. Auf dem Absatz der Haustür, der durch drei Stufen leicht erhöht eine ideale Abschussposition bot, versuchte ich 100-fach Freistöße in das zehn Meter entfernte Klopfstangen-Tor zu schießen. Im Idealfall traf ich unter die linke obere Stange oder in die Kreuzecke. Der normale Schuss ins Tor ärgerte mich, es musste ein außergewöhnlicher Freistoß sein, erst dieser stellte mich zufrieden. Während des Spiels war ich völlig zeitbefreit, ich ging in meinem eigenen Wettkampf auf. So war ich in ein und derselben Person Mannschaft A und Mannschaft B oder spielte Tennis gegen mich selbst. Ich schoss Freistöße, einmal als FC Bayern München, das nächste Mal als SK Rapid Wien. Ich wollte mich fühlen wie Ivan Lendl, John McEnroe, Diego Maradona oder Antonín Panenka. Das schaffte ich nur, wenn ich den Ball annähernd auch in derselben Eleganz wie meine Idole ins Tor zwirbelte oder den Tennisaufschlag gegen die Hauswand mit derselben Raffinesse wie bei großen Tennisstars aussehen lassen konnte.
Probiere alles aus.
Wenn es nach dem zehnten Mal nicht funktioniert, dann vielleicht beim hundertsten Mal.
Auf diese Weise verbrachte ich fast alle Abende unter der Woche und die Nachmittage an den Wochenenden, ich liebte es, spielerisch vor mich hin zu träumen und lebte in meiner eigenen Welt.
Warum ich beim Schwimmsport hängen geblieben bin, kann ich nicht sagen. Wahrscheinlich wegen Herwig. Im Alter von zehn Jahren turnte ich zweimal wöchentlich in der Sportunion – mit mäßigem Erfolg. Dazu schwamm ich jeden Donnerstag bei der Schwimm Union Salzburg, und dort ich traf zum ersten Mal auf einen Menschen mit derselben spielerischen Leidenschaft. Herwig war ein Jahr jünger, kräftiger gebaut als ich, etwas kleiner, extrovertierter. Er war ebenso ehrgeizig, jedoch anders als ich oft auch jähzornig. Sein rundes Gesicht, sein hellblondes, kurzgeschorenes Haar und seine Liebe zum Spiel eroberten sofort mein Herz. Er wurde mein Freund. Mit ihm teilte ich rasch die Leidenschaft für alle möglichen Sportarten. Wir liebten es, uns in Wettkämpfen zu vergleichen, das verband uns nicht nur beim wöchentlichen Schwimmtraining, sondern auch an den schul- und trainingsfreien Tagen. An den Wochenenden trafen wir uns im Donnenbergpark und spielten Fußball. Wir versuchten, außergewöhnliche Tore zu schießen, Jubelposen einzuüben, Tricks zu perfektionieren und – wenn es möglich war – auch mit einer Gruppe fremder Fußballspieler ein Match zu spielen.
Eines Tages bot mir meine damalige Schwimmtrainerin an, ein zweites wöchentliches Training zu belegen, sie meinte, ich hätte Talent und würde gut in die nächsthöhere Trainingsgruppe passen. Das zweite Training fand jedoch am selben Nachmittag wie mein Turntraining statt, also musste ich mich entscheiden. Das Lob der Schwimmtrainerin und die Aussicht, mehr Zeit mit Herwig zu verbringen, erleichterten mir die Entscheidung. Aus anfänglich zweimal Schwimmen pro Woche wurde rasch eine tägliche Selbstverpflichtung. Nun war jeder Nachmittag ab 16 Uhr fürs Schwimmen reserviert. Um das Training regelmäßig absolvieren zu können, zwang ich mich, die Schule zur Zufriedenheit meiner Eltern zu erledigen; ich besuchte das Akademische Gymnasium am Rainberg. Meine Klassenkollegen nahmen mich kaum wahr, oft stand ich außerhalb der Klassengemeinschaft, gegenüber den Lehrern verhielt ich mich zurückhaltend. Ich war für sie nur anwesend, mehr nicht – das reichte, um Durchschnitt zu sein. Im Sportunterricht genoss ich Ansehen, mein vielseitiges Können, meine spürbare Leidenschaft für das Spiel und den Wettkampf sorgten für den nötigen Respekt meiner Altersgenossen.
Schon nach kurzer Zeit wollte ich noch mehr Sport machen, ein tägliches Training schien mir mit 15 Jahren zu wenig. Der Wechsel vom Akademischen Gymnasium in das Schulsportmodell Salzburg, das den Schülern ab der neunten Schulstufe zusätzlich Trainingseinheiten an zwei Vormittagen erlaubte, war mein Wunsch. Meine Eltern waren jedoch dagegen. Auch Herwig wechselte nicht in das Sportmodell, er besuchte ein normales Gymnasium, und irgendwann erlaubte der Schulalltag ihm kein tägliches Training mehr. Er beendete seine aktive Schwimmkarriere noch während seiner Schulzeit. Wir sahen uns nun unter der Woche kaum mehr, auf einmal fehlte mir ein Stück meiner Leidenschaft. Irgendetwas an der Leichtigkeit war verloren gegangen, das Training wurde mehr und mehr zu einer Aufgabe, die es bestmöglich zu erledigen galt. Ich konzentrierte mich auf die punktgenaue Umsetzung meines Trainingsplans, auf das Ergebnis meiner Trainingsaufgaben, versteifte mich auf geschwommene Zeiten, ich wollte schneller werden. Das unbeschwerte Spiel, das Herwig und ich in jeder Lebenssituation intuitiv gemeinsam zelebriert hatten, wich mehr und mehr aus meinem Alltag.
Nun konnte ich nicht mehr tanzen, ich begann zu leisten.
Ich verlor Herwig Schritt für Schritt aus meinem Alltag, dennoch trafen wir uns immer noch an den Wochenenden. Unsere Freundschaft blieb besonders für mich bestehen, auch abseits des Sports. Herwig stand immer an meiner Seite, ein gutes Gefühl.
Ein gleichaltriger Schwimmerkollege wechselte hingegen in die Schule mit dem Sportschwerpunkt und erkämpfte sich dadurch einen Trainingsvorsprung. Fehlende Trainingshäufigkeit versuchte ich nun durch verbesserte Qualität wettzumachen. Ich wollte immer das Maximum aus jedem einzelnen Training herausholen. Ich konnte regional den Anschluss halten, die Ergebnisse spiegelten mein Talent und meinen Einsatz wider, die geschwommenen Zeiten ebenso. Unabhängig von der sportlichen Weiterentwicklung fühlte ich mich in meinem Sport geborgen, er schenkte mir Selbstvertrauen, gab mir Halt und eröffnete mir die Möglichkeit, Erfolg und Anerkennung zu erlangen. In mir entwickelte sich der Gedanke, dass Sport auch meine Profession werden sollte, ich fühlte mich magisch angezogen von der Faszination des Wettkampfes, der Bühne, die der Sport den Sportlern schenkte, und der Geborgenheit, die mir mein Trainingsumfeld gab.
Ich hatte meinen Platz gefunden.
Nach der Matura – ich war zwar ein begabter, aber noch wenig erfolgreicher Schwimmer – setzte ich alles daran, nun endlich meine Grenzen auszuloten. Erst danach, so dachte ich, könnte ich wissen, ob ich genügend Kraft, Willen und vor allem Belastbarkeit hätte, um ein Spitzenschwimmer zu werden. Ich war gewillt, ein ganzes Jahr lang alles andere dem Leistungsschwimmen unterzuordnen. Aus diesem Grund zog ich nach Wien und begann umgehend, mein Trainingspensum zu verdoppeln.
Alles oder nichts.
Jetzt wollte ich es wissen.
Plattenepithelkarzinom
It’s a town full of losers and I’m pulling out of here to win.
Bruce Springsteen, Thunder Road
Nur über meine Leiche. Mit mir hast du dir den falschen Gegner ausgesucht. Ich werde sicher nicht nachgeben. Ich bin nicht wie jeder. Ich bin Clemens. Was andere darüber denken, interessiert mich nicht. Was für andere gilt, muss noch lange nicht für mich gelten. Geht nicht, gibt es nicht. Wenn ich einmal scheitere, probiere ich es noch einmal. Und scheitere besser! Noch bin ich jung, wenn nicht jetzt, wann dann? Ich bin der Baumeister meines eigenen Glücks. Meiner Zukunft. Sei einfach geduldig, deine Chance wird kommen. Pause brauche ich keine. Ich bin da. Und bleibe da.
Nur über meine Leiche!
Dass ich so weit gehen würde können, dachte ich damals noch nicht.
Mit 18 Jahren fokussierte ich nichts anderes als das nächste Training. Zehn Trainingseinheiten in der Woche waren die Regel, in intensiven Vorbereitungszeiten oftmals mehr, selten – zwecks Erholung – auch weniger. Das erste Training früh am Morgen, ich kroch um 5 Uhr aus dem Bett, um 6 Uhr sprang ich ins einsame Wasser des Wiener Stadthallenbades. Meist zwei Stunden lang. Das frühe Aufstehen kostete mich mehr Überwindung, als mir lieb war. Dennoch ließ ich niemals ein Training aus. Um 8 Uhr stieg ich wieder aus dem Wasser und freute mich auf ein ausgiebiges Frühstück. Am späten Nachmittag schuftete ich eine Stunde in der Kraftkammer und wiederum zwei Stunden im Wasser, um ausgelaugt, erschöpft, aber zufrieden um 20.30 Uhr wieder in meinem kleinen Zimmer im 15. Wiener Gemeindebezirk zur Ruhe zu kommen. Mein Zimmer lag in einem katholischen Wohnheim, das von Schulbrüdern geleitet wurde und mir von Anfang an gespenstisch vorkam. Allein in meinem Zimmer sitzend, schaufelte ich mir abends so viele Kalorien, wie ich nur aufnehmen konnte, hinein. An den Abenden lag ich erledigt vor dem Fernseher in einem dauerhaft menschenleeren Gemeinschaftsraum und ließ mich von dem immer gleichen Fernsehangebot berieseln. Außer den etwas eigenartigen Gestalten der Schulbrüder begegnete ich niemandem in diesem seelenleeren Haus in der Nähe des Westbahnhofs. Es roch nach Einsamkeit. Ich sprach kein Wort an diesen Abenden. Vordergründig kümmerte es mich nicht weiter. Ich war mit meinem Sport beschäftigt, das allein füllte meinen Alltag aus.
Ich kochte selbst, aß allein, hatte einen eintönigen Tagesrhythmus, ging früh schlafen, um in den Morgenstunden halb verschlafen wieder zum Training zu gehen – über den Westbahnhof in die Stadthalle. Das Trainingsbecken befand sich im Keller. Es war dunkel, die Atmosphäre feuchtschwül und anonym. Ich empfand meine Trainingsstätte als bedrückend.
Alleingelassen mit meinen Träumen in einer fremden Stadt.
Um 6 Uhr morgens sprechen Menschen nicht – sie wachen auf. Sie ordnen ihre Gedanken und stellen sich auf den anstehenden Tag ein. Ich sprang ins Wasser. Man sah seine Trainingskollegen, grüßte sich, sprach aber nicht miteinander. Nach dem Training hetzten alle Sportler davon. Das Frühstück, die Arbeit, das Studium, der Beruf warteten. Zeit für Kommunikation blieb keine. Ich stand als Einziger in der Dusche, genoss die Wärme des Wassers auf meinen müden Schultern und blieb oft so lange, bis die Haut runzelig und aufgeweicht war. Ich liebte es. Das Duschen jedoch spülte die Einsamkeit auch nicht weg. Nach dem Frühstück fuhr ich zur Universität, war aber zu müde, um den Professoren zuzuhören. Die Vorlesungen in Politik und Geschichte waren anonym, sie konnten die Trägheit meines Geistes nicht vertreiben. Nach einigen Wochen scheiterte mein Versuch, sowohl den Körper als auch meinen Geist gleichermaßen zu fordern. Der Schlaf mit vollem Magen nach einem ausgiebigen Frühstück war weitaus verlockender als das Studium. Ich fuhr fortan nur mehr zum Mittagessen zur Universität, besuchte die Mensa, mied jedoch alle Hörsäle. Die Zeit bis zum Training am frühen Abend vertrieb ich mir mit Musikhören und dem Lesen von Fachbüchern und Journalen über Schwimmsport. Ich wollte meine sportliche Leistung verbessern. Das war der Grund für meinen Aufenthalt in Wien. Der Johnny Walker, den mir Herwig eines Morgens nach einer feuchtfröhlichen gemeinsamen Feier geschenkt hatte, stand unberührt, einsam und staubig auf meinem Fensterbrett. Der Whisky blickte traurig aus dem Fenster. Er hatte nichts zu tun.
Nie nahm ich mir einen Tag trainingsfrei, auch den Sonntag nutzte ich zur aktiven Regeneration. Gymnastik, Entspannung und oftmals ein ruhiger Lauf sollten meiner besseren Erholung dienen. Das Wasser war mein Element, die Schwimmhalle mein Zuhause – seit meinem achten Lebensjahr. Ich trainierte mehrmals täglich, um mich sportlich zu entwickeln, um mir meinen Kindheitstraum zu erfüllen:
Ich wollte zu den Olympischen Spielen.
Dennoch ging mir etwas ab. Ich nahm es nicht wahr, spürte nur sehr oft ein dumpfes Gefühl der Leere während meines monotonen Alltags in mir. Ich vermisste die spielerische Leichtigkeit meiner Trainingsjahre mit Herwig, das Lachen während unserer Wochenenden, den kindlichen Ehrgeiz in der intensiven, aber doch immer freundschaftlichen Austragung unserer Wettkämpfe. Mir fehlte mein Partner, der mich daran erinnerte, dass es jenseits des Leistens auch noch etwas anderes gab. Ich war in Wien, Herwig in Salzburg. Er fehlte mir.
Meine Leistungen verbesserten sich vor allem im Training, die Wettkampfergebnisse jedoch entsprachen nicht meinen Erwartungen. Nachdem ich ein halbes Jahr lang fünf bis sechs Stunden täglich trainiert hatte, bekam ich zudem Überlastungserscheinungen im Schultergürtel. Zur ständigen körperlichen Müdigkeit kamen nun auch Schmerzen und der Frust, meinen Trainingsplan abändern zu müssen. Eine Pause machen zu müssen. Training, der monotone Tagesablauf, Einsamkeit und der sture Wille, den eigenen ehrgeizigen Vorstellungen nachzulaufen, kulminierten in einem umfassenden Übertraining, dem ich mit noch verbissenerer Arbeit an meinem Körper begegnete. Obwohl meine geschwommenen Zeiten in den nächsten Monaten die besten meiner Laufbahn waren, waren sie dennoch weit davon entfernt, einen Profisportler aus mir zu machen. Ich war nicht nur enttäuscht, ich empfand mich als Verlierer. Als Versager. Ich war jung, ehrgeizig, jedoch hilflos und nun auch noch frustriert. Niemand stand mir zur Seite, hatte einen guten Rat oder einfach nur ein offenes Ohr.
Ich begann, mir auf die Zunge zu beißen. Zu Beginn nur selten, ab dem Frühjahr 1994 immer häufiger, immer auf dieselbe Stelle. Anfangs ignorierte ich die Wunde an der linken hinteren Zungenseite. Nach Wochen der immer gleichen Leiden fühlte sich der Schmerz zunehmend leichter an, ich gewöhnte mich an ihn. Ich biss weiterhin auf die größer werdende Wunde, die sich nun auch langsam von der Mundoberfläche absonderte. Sie erhob sich als weißes Geschwür, das sich jedoch nur bei genauem Hinsehen als abnormal darstellte. Also schaute ich nicht genauer hin. Ich verbiss mich in der Idee, mir selbst zu beweisen, dass sich die investierte Zeit und meine harte Arbeit auszahlen würden, und trainierte einfach weiter. Die Wettkampfergebnisse am Ende meines Schwimmjahres blieben bescheiden:
Mein Projekt war gescheitert, mein Wien-Aufenthalt eine Niederlage.
Ich kehrte nach Salzburg zurück mit der Absicht, nun ernsthaft zu studieren. Sportwissenschaft und Politikwissenschaft. Das rieten mir meine Vernunft und meine Eltern. In mir drinnen jedoch brodelte der gescheiterte Versuch, ein professioneller Sportler zu werden. Aufgeben war nicht meine Sache, war es noch nie gewesen. Auch wenn ich vorgab, nun Student zu sein, blieb ich im Training, arbeitete gemeinsam mit dem damaligen Salzburger Landestrainer weiter an der Verbesserung meiner schwimmspezifischen Fähigkeiten. Just for fun lautete meine Rechtfertigung nach außen, um weiterhin das umfangreiche Schwimmtraining zu absolvieren, in mir drinnen wollte ich aber nach wie vor Profi werden. Die Ergebnisse sprachen eine andere Sprache. Mein Körper verarbeitete all die Belastungen des Hochleistungssports nicht, er war der Summe der Reize nicht gewachsen, litt an dem Druck, den ich mir selbst aufbaute, das gesamte Wien-Projekt hatte Spuren hinterlassen. Doch ich merkte es zu spät.
Mein Geschwür auf der linken Zungenseite wuchs, es schmerzte zwar kaum, behinderte mich aber zunehmend beim Beißen und Kauen. Zu lange, gute sechs Monate lang, wucherte es bereits in meinem Mund. Es wurde Zeit, es von Experten überprüfen zu lassen. Am 5. Dezember 1994 ging ich deshalb zum ersten Mal in die Ambulanz der Mund-, Gesichts- und Kieferchirurgie des Landeskrankenhauses Salzburg. Die Diagnose konnte ich nicht fassen: ein bösartiger Tumor auf der Zunge! Ein Plattenepithelkarzinom.
Ich war 19 Jahre alt, hatte noch nie geraucht, mein Leben lang Sport betrieben – und hatte einen Krebs, der üblicherweise Kettenraucher im hohen Alter befällt. Die Ärzte grübelten ungläubig, konnten keine Antworten geben.
Der Krebs trat in mein Leben.
Einfach so.
Ich war mit der Verarbeitung dieser Diagnose überfordert, konnte die Tragweite nicht einschätzen. Was tun? Wie sollte ich mich verhalten? Hatte ich Fehler gemacht? Warum? Schnell realisierte ich, dass das Suchen nach einem Grund nichts brachte – es gab keine Erklärung. Die Beschäftigung mit dem Krebs empfand ich als ausschließlich negativ. Also konzentrierte ich mich auf das Positive. Der Tumor wurde sofort operativ entfernt, sie schnitten mir das Geschwür aus meiner linken Zungenhälfte. Ich blieb nur eine Woche im Krankenhaus. Die Wundschmerzen vergingen rasch, zu Weihnachten 1994 war der Krebs Geschichte. Danach beschloss ich, meinen Leistungssport endgültig zu beenden. Musste ihn beenden – auf Anraten meiner Ärzte und Eltern.
Zum ersten Mal stellte mich mein Körper vor eine vollendete Tatsache: kein Leistungssport. Ich musste schwer schlucken, aber es schmerzte weniger, als ich gedacht hatte, ich war sogar irgendwie dankbar, dass ich nun einen Grund für mein Scheitern hatte. Ich hatte nicht versagt. Mein Scheitern hatte einem externen Grund, nicht ich war schuld an meiner Niederlage: Ich hatte Krebs. Kaum löste sich mein Lebenswunsch, Schwimmprofi zu werden, in Luft auf, spürte ich eine öffnende Erleichterung.
Befreiung.
Ich bekam wieder Luft.
Ich spürte, wie der Krebs mich vom Druck des Leistens befreit hatte. Montag bis Donnerstag war ich nun der zielstrebige, gewissenhafte Student, ab Freitag jedoch ein junger Lebemann, der lachte, liebte und genoss. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Zeit. Viel Zeit! Zeit für meine Freunde, für das Studium, Zeit für das Nachtleben. Meine Krebserkrankung beendete im Alter von 19 Jahren meine aktive Schwimmkarriere und meinen Traum vom Profisport, nicht jedoch meinen Drang nach Einzigartigkeit, meine Lust am Leben und Ausprobieren.
Ich traf Herwig wieder öfter, jedoch nicht mehr in der Schwimmhalle. Wir hatten beide den aktiven Wettkampfsport beendet, spielten wieder Fußball und genossen an den gemeinsamen Wochenenden oft mehr Bier, als uns guttat. Ich war endlich wieder zu Hause. Ich lebte unbekümmert in den Tag hinein, trieb Sport nur nach Lust und Laune und gab mein Geld am Wochenende großzügig in Nachtlokalen aus. Ohne Verpflichtungen auf unseren Schultern, frei von allen Trainingszwängen sangen wir gemeinsam oft bis zum Sonnenaufgang „Those were the best days in my life“ und fühlten uns dabei unsterblich. Ich konnte schlafen, so lange ich wollte, essen, was mir schmeckte, und studieren, wie es mir passte. Jung, unbekümmert und ohne Verantwortung genoss ich die neu gewonnene Freiheit.