Kitabı oku: «Leise Wut», sayfa 3
08
Die Kripo stand am nächsten Morgen vor ihrer Tür. Ein Mann und eine Frau, beide ungefähr in Lenas Alter. Sie wollten nicht die Sozialarbeiterin befragen, sondern die Person, die Angelika Kiewitz vor ihrem Tod angerufen hatte. Man hatte das Handy gefunden und inzwischen auswerten lassen.
»Es lag im Badezimmer, in einem Korb von Schmutzwäsche verborgen. Der letzte Anruf, den die Frau getätigt hatte, galt Ihnen. Worum ging es?«
Die Kripobeamtin hatte blasse Haut und fahlblondes Haar, das sie zum Pferdeschwanz gebunden trug. Ihre Stimme war kräftig, der Ton sachlich.
Lena schilderte, was vorgefallen war. Dass sie zunächst keinen Schimmer gehabt hatte, wer da am anderen Ende gewesen war. Dass sie, als es ihr klar wurde, hingefahren war, aber nach der Aussage der Nachbarn keinen Grund gesehen hatte, weitere Schritte einzuleiten.
»Im Nachhinein frage ich mich natürlich, ob das ein Fehler war. Leider habe ich nicht verstanden, was genau Frau Kiewitz wollte.« Noch einmal wiederholte sie das Gespräch und die wenigen Worte, die sie mitgehört hatte, als die Anruferin mit jemandem vor der Tür sprach.
Die Beamtin blickte sie aufmerksam an, ihr Kollege schrieb mit.
»Sie haben die Familie betreut?«
Ihr war, als wechselten die beiden einen kurzen Blick, als sie das richtigstellte. »Nicht mehr. Ich wurde vor rund neun Monaten vom Jugendamt in einen neu geschaffenen Querschnittsbereich versetzt.«
»Warum, glauben Sie, hat Frau Kiewitz Sie dennoch angerufen?«
Lena zuckte die Schultern. »Vielleicht, weil sie meine Nummer noch eingespeichert hatte. Weil mein Diensthandy erreichbar war und das der inzwischen zuständigen Kollegin womöglich nicht«, mutmaßte sie. »Sie müssten ja sehen können, ob noch andere Nummern der Kreisverwaltung in ihren Kontakten stehen.« Wieder wechselten die beiden Beamten einen Blick, ließen Lenas indirekte Frage jedoch unkommentiert. »Die Mutter wurde im Wohnzimmer auf der Couch gefunden. Offenbar hat sie sich mit Schlaftabletten und Alkohol das Leben genommen. Der Junge lag in seinem Bett, ordentlich gekämmt und zugedeckt.«
So, als wolle die Mutter im Nachhinein gutmachen, was sie ihrem Kind angetan hatte.
»Tobys Körper trug Anzeichen andauernder Misshandlungen. Gestorben ist er an einer schweren Kopfverletzung. Hat Frau Kiewitz ihren Sohn früher schon geschlagen?«
»Nein. Definitiv nicht. Das passt nicht zu ihr«, entgegnete Lena bestimmt. »Sie war labil, ja. Gefährdet, was Alkohol betraf. Sie hat Toby vernachlässigt, sich zu wenig um ihn gekümmert. Vielleicht ist ihr hin und wieder die Hand ausgerutscht. Aber sie hat ihr Kind nicht körperlich misshandelt.«
»Könnte es sein, dass sie das Kind als Hemmnis betrachtet hat, dass er ihr im Weg stand? Schließlich soll sie eine neue Beziehung gehabt haben.«
Lena dachte kurz nach, bevor sie antwortete. »Man weiß nie, was in einem anderen Menschen vorgeht. Aber so, wie ich sie kannte, würde ich das ausschließen.«
»Wie war sie in Beziehungen?«
»Sehr anlehnungsbedürftig. Sie war jemand, die sich schnell unterordnete, es ging da um Verlustängste. Ihre Kindheit war schwierig. Es fehlte ihr an Anerkennung und als Erwachsene an einem gesunden Selbstwertgefühl. Doch sie hat Toby geliebt, auch wenn sie als Mutter unzulänglich war.«
Lena schoss der Gedanke durch den Kopf, dass der neue Freund nach dem Streit alleine in Urlaub gefahren sein könnte. Hatte das Tobys Mutter derartig in Rage versetzt, dass sie ihr Kind verprügelt hatte? Oder hatte doch der Mann etwas mit Tobys Tod zu tun?
»Wir suchen mit Hochdruck nach dem Mann. Im Moment ist er jedoch lediglich ein wichtiger Zeuge«, versicherten ihr die Polizisten.
»Der Vater des Kindes ist unbekannt?«
»Laut Aktenlage. Ja. Ich hatte immer das Gefühl, dass Frau Kiewitz weiß, von wem Toby war. Aber sie hat es mir nie gesagt.«
Oder war es ein Eifersuchtsdrama? War Tobys Vater zurückgekommen und hatte die Befürchtung, sein Sohn würde demnächst zu einem anderen Mann Papa sagen?
Am Ende überreichten die Polizisten ihr eine Visitenkarte.
»Wenn Ihnen noch etwas einfällt, zögern Sie nicht, uns zu verständigen. Wir werden Sie womöglich auch noch einmal befragen müssen.« Als die beiden gegangen waren, fühlte Lena sich unendlich müde. Im Badezimmer schaufelte sie sich kühles Wasser ins Gesicht. Der Blick in den Spiegel sorgte nicht gerade ür Freude. Sie sah fertig aus. Dunkle Schatten ließen ihre Augen aussehen wie grüne Tümpel inmitten von Schlamm. Das dunkle, kurz geschnittene Haar wirkte nicht gewohnt fluffig, sondern klebte regelrecht am Kopf. Ein unangenehmes Kribbeln durchlief ihren Körper, als sie im Geist wieder die Stimme der Anruferin hörte. »Holen Sie Toby. Gleich jetzt. Bitte.« Angelika Kiewitz hatte gewusst, dass ihr Kind in Gefahr war. Nur, warum hatte sie bei Lena nicht insistiert, sondern gleich darauf alles zurückgenommen? Wenn es stimmte, was die Polizei annahm, hatte sie ihr Kind in einem Wutanfall getötet und danach sich selbst das Leben genommen.
Lena kehrte ins Wohnzimmer zurück. Nahm an ihrem kleinen Schreibtisch Platz, zog einen Block aus der Schublade und schrieb systematisch auf, woran sie sich noch erinnern konnte.
»Nicht Toby. Kannst ihn … Azul … überlegt … nicht mehr.«
Azul. Das spanische Wort für Blau.
Mallorca, hatte Herr Buckpesch gesagt.
So ähnlich, seine Frau.
Lena musste keinen Atlas konsultieren. Mallorcas Nachbarinsel hieß Menorca. War sie gemeint? Oder hatten die beiden älteren Herrschaften etwas völlig missverstanden? Waren Madeira, Malta oder ganz was anderes das Ziel? Sie rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. Ob die Kripo den Mann bereits anhand seines auffälligen Wagens identifiziert hatte?
Der Freund, er hatte auch ein Kind. Ein kleiner Junge, ungefähr in Tobys Alter, geisterte Frau Buckpeschs Stimme durch ihren Kopf.
Sie konnte nicht stillsitzen, sprang auf und tigerte durch die Wohnung.
Ich muss etwas tun. Bloß was?
Die Suspendierung nagte an ihr, das Gefühl, ihr seien die Hände gebunden, setzte ihr zu.
Als seine Mutter mich anrief, lebte er noch.
Sie wusste, dass sie keine andere Chance hatte, als die Sache rational und professionell anzugehen. Dennoch schmerzte sie die Vorstellung, sie habe womöglich versagt. Um ihre Unruhe zu bekämpfen, beschloss sie, joggen zu gehen. Ein probates Mittel, um den Kopf frei zu bekommen. Danach würde sie klarer denken können.
Eine Viertelstunde später trabte sie am Mainufer entlang. Die Luft war mild, alles Grün wirkte hell und frisch, die Enten am Wasser schnatterten lebhaft. Sie fand schnell ihren Rhythmus und lief schon nach kurzer Zeit gleichmäßig und im richtigen Tempo. Erst als ihr Blick auf die Schlagzeile einer bekannten überregionalen Zeitung fiel, geriet sie aus dem Tritt.
»Schlamperei im Jugendamt! Warum musste der kleine Toby (4) sterben?« Daneben ein verwaschenes Foto des Jungen.
Lena blieb keuchend stehen. Der Mann, der auf einer Bank am Ufer sitzend die Zeitung las, blätterte um und die Schlagzeile verschwand aus ihrem Blickfeld. Lena drehte um. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Schlamperei, was sollte das denn heißen? Jugendämter gerieten jedes Mal, wenn ein Kind auf gewaltsame Weise innerhalb der Familie zu Tode kam, in den Fokus der Medien. Reflexartig wurde die Schuld dort gesucht. Sie hatte schon öfter solche Berichterstattungen aus anderen Kommunen verfolgt. Dieses Mal war die Angelegenheit ganz nah an ihr dran. Und das auf mehr als eine Weise. Bevor sie nach Hause zurückfuhr, kaufte sie am Aliceplatz sämtliche regionalen Zeitungen. Überall war der tote Junge erwähnt. Jedoch nicht so reißerisch wie in Brandheiß, dem Blatt, das für seine krassen Schlagzeilen bekannt war.
Trotzdem reichte die Berichterstattung aus, in Lena Übelkeit aufsteigen zu lassen. Woher hatten die Journalisten so viele Informationen? Dass Angelika Kiewitz Selbstmord verübt hatte, wurde genauso erwähnt wie die Tatsache, dass Tobys Vater unbekannt war. Angeekelt legte Lena die Zeitungen zur Seite. Das Ausschlachten menschlicher Tragödien war nicht ihr Fall.
09
Der Notar las mit kräftiger Stimme den letzten Absatz des umfangreichen Schriftstücks vor, das vor ihm auf dem Tisch lag und schob es anschließend den Männern zu, die ihm in seinem Büro gegenübersaßen. Beide unterschrieben, wenige Minuten später brachte die Vorzimmerdame ein Tablett mit drei Gläsern Sekt. Es wurden Hände geschüttelt und die Vertragspartner verließen kurze Zeit später gemeinsam die Kanzlei im Frankfurter Westend. Sie verabschiedeten sich vor dem Jugendstilbau und strebten in entgegengesetzte Richtungen.
Es war kurz nach fünf Uhr am Nachmittag, der Tag war ungewöhnlich warm gewesen, in den Straßencafés saßen gut gelaunte Menschen, um den Feierabend mit einem Kaffee oder einem Apérol Sprizz einzuläuten.
Gerd Rohloff bestieg zwei Straßenecken weiter seinen Jaguar und fuhr in Richtung Bahnhofsviertel, wo er eine Viertelstunde später den Kinky-Club betrat. Zum letzten Mal, denn er hatte ihn soeben verkauft. Es war das letzte seiner Etablissements, von dem er sich trennte. Alles andere, darunter das wenige Schritte entfernt liegende Stundenhotel und ein Stripteaselokal, waren bereits in andere Hände übergegangen. Bei jedem Verkauf hatte er genau überlegt, wem er das anvertraute, was er über viele Jahre hinweg aufgebaut und geleitet hatte. Anders als die meisten seiner Konkurrenten im Bahnhofsviertel, hatte er sich in erster Linie als Geschäftsmann gesehen. Der gut verdiente, aber eben Grenzen hatte. Weder mit Drogen noch mit Prostitution hatte er sein Geld gemacht. Einen altmodisch anmutenden Ehrenkodex besaß er. »Stundenhotel ja, Bordell nein«, hatte er einmal auf eine entsprechende Frage geantwortet. Und dass seine Barfrauen auch nur das waren und er in keinem seiner Läden Animiermädchen beschäftigte. »Tabledance, Striptease und wer jemanden kennenlernt, kann stundenweise ein Zimmer mieten. Ich bin kein Zuhälter, verkaufe keine Drogen und habe mich schon immer erfolgreich aus allen anderen Arten von Kriminalität herausgehalten«, lautete seine offizielle Devise. Streng genommen stimmte das Letztere nicht, aber außer ihm wusste das kaum jemand. Gerd Rohloff hatte durchaus seine eigenen Grenzen, Regeln und Gesetze.
»Chef!« Die Barfrau war bereits da. »Wollen Sie es sich nicht doch noch mal überlegen?« Ihre kajalumrandeten Augen schwammen.
Rohloff strich ihr mit der Hand über den Arm. »Anita, Ihr habt alle eine Übernahmegarantie vom neuen Besitzer.« Zusätzlich hatte jeder, je nach Dauer der Betriebszugehörigkeit, vor einigen Tagen einen Umschlag mit ein paar persönlichen Worten, handschriftlich und individuell, ausgehändigt bekommen. Das, was sich darüber hinaus im Umschlag befand, war bei Anita besonders üppig ausgefallen. Sie hatte vor ihrer Zeit hier bereits in einem anderen Club für Rohloff gearbeitet, anschließend war sie vom Eröffnungstag der Kinky-Bar an hinter der Theke gestanden. Sie biss sich auf die Lippen, und als sie den Kopf senkte, liefen ihr die Tränen übers Gesicht.
Rohloff betrat sein Büro, das bereits weitgehend leer geräumt war. Noch ein paar letzte Dinge verstaute er in einem Pappkarton. Dann sah er sich ein letztes Mal um. Wehmut ergriff ihn. Der Entschluss, sich aus dem Milieu und all den Geschäften hier zurückzuziehen, war nicht von heute auf morgen gereift. Es war ein schleichender Prozess gewesen, der vor einigen Monaten in Gang gekommen war. Lange hatte er das Für und Wider abgewogen. Dabei war ihm schnell klar geworden, dass seine Entscheidung rein aus dem Bauch heraus kam. Es gab keinen greifbaren Anlass dafür. Lediglich ein immer stärker werdendes Gefühl, das ihm signalisierte, diese Phase seines Lebens sei vorbei. Es war Zeit für etwas anderes.
Mit einem leichten Seufzen nahm er den Pappkarton auf. Als er durch die Tür trat, hielt er inne. Natürlich hatte er sich von jedem einzelnen seiner Mitarbeiter bereits verabschiedet. Doch nun standen sie alle vor seiner Tür Spalier. Keiner sprach, ihre Mienen sagten genug. Stumm, mit einem Lächeln auf dem Gesicht, ging er zwischen ihnen durch, nickte jedem zu. Zuletzt dem Türsteher, zu dessen martialischen Tattoos, Piercings und Brandings die feuchten Augen so gar nicht passen wollten. Marek verneigte sich leicht und hielt Rohloff die Tür auf, begleitete ihn zum Wagen und half ihm, den Karton auf dem Beifahrersitz des Jaguar zu verstauen. Er würde den Club in der Zwischenzeit so lange führen, bis der neue Besitzer einzog. Rohloff selbst zog es vor, die Tage bis dahin nicht mehr hier zu sein. Es fühlte sich besser an, jetzt zu gehen. Das Tagesgeschäft hatte ihn sowieso nicht gebraucht, das handelten seine Leute.
»Alles Gute Chef. Und wenn Sie mal was brauchen, wir sind immer für Sie da.«
Rohloff nickte gerührt, als der Zwei-Meter-Hüne ihn plötzlich in den Arm nahm.
»Ihr wisst, dass das umgekehrt ebenfalls gilt.« Damit stieg er in den Wagen und fädelte sich, ohne noch einmal zurückzublicken, in den inzwischen dicht gewordenen Verkehr ein.
Eine halbe Stunde später betrat er das Haus in Bad Homburg, das er schon mit seiner verstorbenen Frau bewohnt hatte. Zu groß für ihn alleine, dennoch ein Teil seines Lebens, von dem er sich noch nicht trennen wollte.
Er stellte den Pappkarton in seinem Arbeitszimmer auf den massiven Schreibtisch aus dunklem Holz und packte ihn aus. Zwei handgeschliffene Whiskytumbler, ein paar Fotos, ein Montblanc-Füller, ein Brieföffner. Jetzt war alles erledigt. Der Moment, auf den er so lange gewartet hatte. Nur eines blieb noch zu tun. Das Schwierigste überhaupt. Er dachte an die Frau, für die er gerade sein Leben änderte. Ohne dass sie das Geringste davon ahnte.
Gedankenverloren faltete er den Karton zusammen und brachte ihn zum Altpapier. Als er die Tonne öffnete, lag obenauf das Krawallblatt, das seine Haushälterin immer las. Die Schlagzeile schrie ihm nur halb entgegen, er hätte sie, wie üblich ignoriert. Doch in diesem Fall ging das nicht. Was ihn elektrisierte, war das Foto. Darauf eine schlanke Frau mit kurzem, fast schwarzem Haar, die gerade durch eine gläserne Tür trat. Es war verschwommen und vermutlich aus weiter Entfernung aufgenommen. Dennoch erkannte er sie sofort. Der Karton fiel zu Boden. Rohloff griff nach der Zeitung, schlug sie auf und starrte Sekunden später verständnislos auf die Schlagzeile der Titelseite.
Lesbische Sozialarbeiterin: Trägt sie die Schuld am Tod des kleinen Toby (4)?
»Lena«, flüsterte er entsetzt.
Die Zeitung flatterte zurück, er war mit wenigen Schritten im Haus, am Telefon, tippte einen dort gespeicherten Kontakt an. Nur, um zu erfahren, der gewünschte Teilnehmer sei momentan nicht erreichbar. Keine Möglichkeit, eine Nachricht zu hinterlassen.
10
Sie fragte sich, woher die Reporter ihre Adresse hatten. Schon seit dem frühen Morgen klingelte ein besonders aggressiver Schmierfink. Da sie nicht öffnete, versuchte er es bei den Nachbarn. Frau Kasulke schien nicht da zu sein, die anderen waren bei der Arbeit. Dennoch war es dem Kerl gelungen, bis zu Lenas Wohnungstür vorzudringen. Sie hatte den Fehler begangen, die Tür zu öffnen, um ihn mit klaren Worten zusammenzufalten. Doch gleich merkte sie, dass das dumm gewesen war. Er hob eine Kamera, bereit loszuknipsen. Sie schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Sie hätte wie eine Furie ausgesehen auf den Bildern. Passend zu dem, was man über sie schrieb.
Sie hatte durch die geschlossene Tür hindurch mit der Polizei gedroht und die Klingel ausgestellt. Seither herrschte Ruhe.
»Reden Sie mit niemandem!«, hatte der Leiter des Rechtsamtes ihr kurz darauf am Telefon gesagt, bevor sie auch das ausgestellt hatte. Vorsichtshalber. »Die ganze Angelegenheit betrifft, falls überhaupt, zunächst die Kreisverwaltung, nicht Sie als Mitarbeiterin.« Er redete denselben Stuss wie Sieglinde, der Leiß oder die Maibaum. Wenn es jemanden betraf, dann doch sie! Oder wie war das zu verstehen, dass immer mehr Details über sie an die Öffentlichkeit gelangten? Ein Foto! Der Hinweis, dass sie lesbisch war, gezielt als Wortwaffe eingesetzt. Wie die Reporter überhaupt ihren Namen erfahren hatten, war dem obersten Juristen der Kreisverwaltung genauso ein Rätsel wie ihr.
»Wir prüfen das«, versicherte er ihr. Sie fragte sich, wie lange das wohl dauern würde. Als gälten für eine Behörde die Gesetze viraler Beiträge im Internet nicht. Irgendwann wäre die Lawine aus Unwahrheiten, Unterstellungen und Vermutungen so groß, dass sie überhaupt nicht mehr zu stoppen war.
Nun stand sie am Fenster und blickte zur Straße hinunter. Vor dem Haus war niemand mehr zu sehen. Es war bereits Nachmittag, sie hatte noch keinen Fuß nach draußen gesetzt. Die ganze Angelegenheit drohte, ihr über den Kopf zu wachsen. Sie ging zu ihrem Schreibtisch, klappte den Laptop auf und loggte sich ein. Seit gestern versuchte sie, das, was sie bei dem Telefonat gehört und von den Buckpeschs erfahren hatte, in irgendeinen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Erneut gab sie die Worte »Azul« und »Mallorca« ein, was zu einer atemberaubenden Menge an Einträgen führte, die sie alle nicht weiterbrachten. Doch wenn sie gar nichts tat, würde sie verrückt werden. Nachdem sie sich zum x-ten Mal durch die Suchergebnisse geklickt hatte, versuchte sie es mit dem Stichwort »Menorca«. Auch hier war alles Mögliche dabei. Was konnte Angelika Kiewitz gemeint haben?
Ein Piepton verkündete, dass jemand sie anskypte. Tamae war es, ihre ehemalige Geliebte. In Neuseeland hatten sie beide beschlossen, ihre Beziehung, die im Grunde ein jahrelanges lockeres Verhältnis gewesen war, zu beenden. Als Freundinnen verstanden sie sich nun womöglich besser als jemals zuvor.
Die Japanerin hatte heute ihre übliche, fast schon kühl zu nennende, pragmatische Art abgelegt, sie schien völlig von der Rolle. Auch sie hatte die Schlagzeilen gelesen.
»Was ist da los? Wie kommen die dazu, dir derartig nahe zu treten?«, wollte sie wissen. Lena schilderte ihr, was gerade ablief. Die Japanerin schüttelte dabei mehrmals unwillig den Kopf. »Du brauchst einen Rechtsanwalt, der der Presse Einhalt gebietet!«, fand sie.
Vermutlich hatte sie recht. Doch inzwischen hatte die ganze Geschichte das Internet erreicht, was noch viel schlimmer war.
»Gib mir mal die Informationen aus dem Gespräch«, forderte Tamae Lena nun auf. »Vielleicht finde ich etwas heraus.«
Lena gab ihr, was sie wollte. Tamae war wesentlich besser als Lena darin, Informationen aus den Tiefen des www hervorzuholen.
»Ich melde mich«, verabschiedete sie sich knapp.
Seufzend klappte Lena ihren Laptop zu. Ob sie es wagen konnte, ein paar Schritte an die frische Luft zu gehen? Sie schlüpfte in Sportschuhe, warf sich eine Jacke über. Als sie ihren Wagen gestartet hatte, änderte sie ihre Meinung. Statt zum nahe gelegenen Maunzenweiher, wie ursprünglich geplant, fuhr sie nach Dietzenbach.
Man hatte ihr untersagt, Kollegen und Kolleginnen anzusprechen. Man hatte denen untersagt, mit ihr zu sprechen. Aber eine Person kannte sie, die sie als integer kennengelernt hatte. Der sie zutraute, Marianne Maibaums Verbot zu umgehen. Die würde sie fragen. Mehr als Nein sagen konnte diejenige nicht.
11
Carola Bergmanns Wagen stand im Parkhaus des Rathaus Center. Lena hatte sich daran erinnert, dass Marianne Maibaums Referentin dort einen reservierten Parkplatz hatte. Sie wartete schon eine ganze Weile und konnte nur hoffen, dass die Bergmann an diesem Tag einigermaßen pünktlich ihr Büro verließ.
Gerade, als Lena daran zweifelte, stieg sie aus dem Aufzug. Den Blick auf das Display ihres Handys gerichtet, sah sie Lena erst, als sie ihr fast schon gegenüberstand.
»Frau Borowski.« Sie wirkte keineswegs überrascht und musterte Lena mit interessiertem Blick.
»Sie müssen mir helfen.«
»Das geht nicht, das wissen Sie doch.«
Lena trat einen Schritt auf die Referentin zu, die jetzt ihr Handy wegsteckte.
»Ich habe seit Monaten nichts mehr mit der Familie zu tun. Aber mir liegt selbst viel daran, herauszufinden, was geschehen ist. Dazu brauche ich die Fallakte.«
Carola Bergmann musterte sie lange. »Die Akte liegt bei Frau Maibaum unter Verschluss. Selbst wenn ich wollte, könnte ich sie Ihnen nicht geben. Noch nicht einmal ich habe einen Blick hineingeworfen. Chefsache. Lediglich das Rechtsamt ist einbezogen.« Sie verschränkte die Arme und lehnte sich gegen den hinteren Kotflügel ihres Wagens, sodass sie Lena nun ihr Profil zuwandte. Lena sah, dass Carola Bergmanns Kiefer arbeitete.
»Ich kann mir vorstellen, wie es in Ihnen aussieht«, fuhr sie nun fort. »Es ist mir unbegreiflich, woher die Sensationspresse Ihren Namen hat.«
»Das ist doch einfach. Jemand aus dem Amt muss mich in die Schusslinie gebracht haben.« Lena unterstrich ihre Worte durch eine vage Handbewegung in Richtung des Kreishauses.
Carola Bergmann drehte blitzschnell den Kopf und musterte Lena aufmerksam. »Wer sollte das sein? Meine Chefin steht hinter Ihnen. Sie lässt keinen Zweifel daran, dass die Sache intern geklärt werden muss und wir nach außen hin ein geschlossenes Bild präsentieren.«
Die beiden Frauen sahen sich schweigend an. Lena hatte keine Ahnung, ob die Bergmann wusste, dass sie hinter dem geplatzten Vorhaben steckte, das von der Maibaum als soziales Prestigeprojekt geplant gewesen war. Ob sie wusste, wer ihr und der Presse die Unterlagen zugespielt hatte, die deutlich machten, wie faul der Apfel war, den die Politikerin ihren Wählern als äußerst appetitlich hatte anpreisen wollen? Die Sache war sang- und klanglos gestoppt worden, jetzt fehlte der Sozialdezernentin ein wichtiges Pfund, mit dem sie in der Öffentlichkeit wuchern konnte. Hans-Joachim Söder war keiner, der sich so leicht vom Landratssessel schubsen ließ. Er verstand sich nämlich noch besser als seine Konkurrentin auf eine perfekte Außendarstellung. Kurz nach deren peinlichem Rückzug in der fraglichen Sache hatte er seine Konkurrentin mit einem genialen Schachzug düpiert. Indem er ein neues Arbeitszeitmodell präsentierte, das einerseits modern war und andererseits für Einsparungen im Haushalt sorgte. Ganz nebenbei floss in die Pressekonferenz auch noch ein, dass sich bereits andere Kommunalverwaltungen dafür interessierten. Der Landkreis Offenbach als Blaupause eines Erfolgsmodells, signiert von Hans-Joachim Söder. Die Maibaum hatte erwartungsgemäß geschäumt vor Wut, dem nichts entgegensetzen zu können. Lena wusste, dass die ehrgeizige Politikerin sie für den Schlag ins Wasser verantwortlich machte. Nur beweisen konnte sie es nicht.
»Das glauben Sie doch nicht wirklich«, brachte Lena schließlich ihre Gedanken auf den Punkt. »Selbst wenn sie im Moment so tut, als ob sie mich stützt, wird sie mir bei der ersten besten Gelegenheit in den Rücken fallen.«
Die Bergmann nickte unwillkürlich, seufzte und stieß sich vom Wagen ab. »Wie gesagt, ich kann das alles gut verstehen. Nur tun kann ich für Sie momentan nichts.«
»Sprechen Sie mit Sieglinde Brohm«, sagte Lena hastig. »Sie muss doch in ihrer Abteilung wissen, wer die Familie zuletzt betreut hat. Selbst wenn sie das, wie sie behauptet, nicht aus dem Gedächtnis heraus sagen kann, muss die entsprechende Person es wissen. Man kennt doch seine aktuellen Fälle! Und Frau Maibaum braucht nur in die Akte zu schauen, um genau das zu sehen.«
»Verstehen Sie denn nicht, dass es uns genau darum nicht geht? Wir wollen keine Schuldzuweisung an eine einzelne Mitarbeiterin oder einen einzelnen Mitarbeiter. Solange keine grobe Fahrlässigkeit vorliegt, kein Verschulden im dienstrechtlichen Sinn, stehen wir das als Behörde durch. Falls es stimmt, was Sie sagen, müssen wir im Rahmen der Fürsorgepflicht die Person schützen, die die Betreuung übernommen und nichts von den Misshandlungen bemerkt hat. Genau das tun wir, das schließt aber auch ein, dass weder Sie noch sonst jemand über den engen Kreis hinaus, den ich bereits genannt habe, an Informationen gelangt.«
»Mich schützen Sie aber nicht vor der Sensationspresse!«, erwiderte Lena empört.
Carola Bergmanns Gesicht verschloss sich. »Damit haben wir nichts zu tun«, befand sie knapp. »Womöglich stammen diese Informationen ja aus Ihrem privaten Umfeld. Das ist jedenfalls Frau Maibaums Meinung.«
Danach ging sie um Lena herum zur Tür ihres Wagens. Bevor sie einstieg, drehte sie noch einmal den Kopf. »Sie wissen, dass ich Sie schätze. Aber leider sind mir in dieser Angelegenheit zurzeit die Hände gebunden.«
Noch eine Weile, nachdem Carola Bergmann abgefahren war, stand Lena im Parkhaus und starrte die Wände an. So unnachgiebig wie der graue Beton kam ihr die ganze Angelegenheit vor.