Kitabı oku: «Ostprinzessinnen tragen keine Krone», sayfa 2

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1.1. Aufzeichnung: Kinderjahre, Mädchenjahre (1969 – 1988)

Samstag, 2. Juni 2018, Hotel Schweizerhof, Zürich

»Alles fängt ja immer lang vorher an.«

Du willst wissen, woher ich stamme? Geboren bin ich 1969 in Greifswald, das liegt zwischen den Inseln Rügen und Usedom in Mecklenburg-Vorpommern. Meine Eltern hießen Lotte-Lore, geborene Ewert, und Gustav H. Erst dachte man, meine Mutter leide an einem Geschwür; sie hatte vor mir schon zwei Kinder auf die Welt gebracht, man hatte mich nicht mehr erwartet. Die Schwangerschaft erwies sich denn auch als risikoreich, vielleicht hat das ja auf meinen Charakter abgefärbt. Aber um zu verstehen, wie das alles gekommen ist mit mir und meiner Familie, muss ich wohl noch etwas weiter ausholen. Alles fängt ja immer schon lang vorher an.

Mein Vater Gustav H. wurde 1931 in Bodenbach im Kreis Tetschen in der ehemaligen Tschechoslowakei in eine Familie von sogenannten Sudetendeutschen hineingeboren. Sein Vater, ein Fleischermeister, starb bereits 1933, im Jahr von Hitlers Machtergreifung. Meine Großmutter war also jung Witwe geworden und führte die Fleischerei bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs allein weiter. Als die dreiköpfige Familie – mein Vater hatte noch eine Schwester namens Traudel – im Zuge der Aussiedlung aus Tschechien 1945 in Magdeburg ankam, war sie gänzlich mittellos. An der ostdeutschen Grenze hatte meine Großmutter die wenigen Habseligkeiten ins Gebüsch geschmissen, weil es hieß, dass, wer Geld auf sich trage, auf der Stelle erschossen würde. Um zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen, durchlief der junge Gustav erst eine Bäckerlehre. Seine Mutter arbeitete in Magdeburg in einer Fleischerei, ihre Tochter Traudel half ihr dabei. Es war eine von Not und Entbehrung geprägte Zeit. Was sollte nur werden? Der siebzehn-, achtzehnjährige Gustav wusste nur eins: dass er aus seinem Leben etwas machen wollte. Das war kein diffuser Wunsch, sondern ein grimmiger Entschluss, und dass mein Vater seine Karriere später über alles – zeitweilig auch über seine Frau und seine Kinder – stellte, ist vor diesem Hintergrund zu verstehen.

So meldete sich der junge Bäckergeselle 1950, ein Jahr nach der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik, bei der Volkspolizei-See in Parow, einem kleinen Ort in der Nähe von Stralsund. Nach der Grundausbildung trieb Gustav H. seine Karriere zielstrebig voran: Er absolvierte einen Offizierslehrgang in Kaliningrad und wurde 1954 zum »Leutnant zur See« ernannt. Zwei Jahre später heiratete er die neunzehnjährige Lotte-Lore Ewert in Zinnowitz auf der Ostseeinsel Usedom, und noch im gleichen Jahr kam die gemeinsame Tochter Marina zur Welt.

Noch sechsundfünfzig Jahre nach Marinas Geburt sollte meine Mutter anlässlich deren Geburtstag 2012 in ihr Tagebuch schreiben, dass Gustav damals stark angetrunken ins Krankenhaus kam, während sie am Kindbett-Fieber litt, und dass sie ihm das lange nicht verzeihen konnte. Klar, die vielen Empfänge, an denen mitunter der Alkohol in Strömen floss, gehörten zum damaligen Berufsleben meines Vaters wie die langen Seereisen und fortwährenden Ausbildungen. Als ich meine Mutter einmal fragte, wie er denn mit ihren drei Schwangerschaften umgegangen sei, rief sie spontan: »Gar nicht, er war ja nie da!«

Tatsächlich, acht Monate nach Marinas Geburt, ließ mein Vater seine junge Frau und sein kleines Töchterchen im gemeinsamen ersten Heim in Peenemünde auf der Insel Usedom allein zurück, um an der Seekriegsakademie in Leningrad drei Jahre lang weiter zu studieren. Er kam bloß zweimal pro Jahr nach Hause, aber wenigstens konnte ihn meine Mutter in Russland besuchen. Nach Abschluss der langwierigen Ausbildung 1960 wurde mein Vater zurück in die Heimat abkommandiert – als Stabschef der Flottenbasis Ost in Peenemünde.

Meine Schwester Marina wuchs die ersten drei Jahre ohne Vater auf. Als mein Vater in dieser Zeit einmal auf Heimaturlaub war und das Kind zurechtwies, wandte sich Marina an die Mutti und fragte: »Du, muss ich machen, was der Mann da sagt?«

Meine Mutter hat in der ersten Zeit ihrer Ehe viel geweint, trotz der vielen Privilegien, die sie als Gattin eines hochrangigen Offiziers genoss. Sie war halt ein richtiger Lebemensch, impulsiv und sprühend. Lotte-Lore oder »Püppi«, wie sie auch genannt wurde, kam 1936 im Seebad Swinemünde zur Welt. Das liegt auf der polnischen Seite der Insel Usedom. Nach dem Krieg wurde die Familie Ewert ins nahe Ostseebad Zinnowitz auf der deutschen Seite derselben Insel ausgesiedelt. Püppi verlebte, wie sie in ihren Erinnerungen schreibt, trotz der schweren Kriegs- und Nachkriegsjahre dank der Geborgenheit innerhalb ihrer Familie eine recht unbeschwerte Kindheit. Als junge Frau hatte sie wohl viele Verehrer und wenn man Fotos von ihr aus jener Zeit betrachtet, kann man das gut verstehen. Püppi absolvierte eine Lehre als Krankenschwester, arbeitete aber nicht lange in dem Beruf, da sie meinen Vater ja mit neunzehn heiratete und kurz darauf ihr erstes Kind bekam. Erst mit über vierzig – da war ich zehn oder elf – hat sie in Rostock wieder im Krankenhaus zu arbeiten angefangen, sie hat ihren Beruf geliebt. »Du musst nicht arbeiten«, hat mein Vater oft zu ihr gesagt, »du hast doch alles!« Und tatsächlich, an Geld hat es ihr nicht gefehlt. Zudem hat mein Vater sie gern mit teuren Kleiderstoffen beschenkt und ihr aus Russland Schmuck mitgebracht. Einmal ließ er für sie einen Ring aus der Koralle anfertigen, die sie während des Kriegs im Zahn versteckt hatte. Ja, mein Vater hat seine Frau verwöhnt, wo er nur konnte.

Trotzdem vermochten all diese materiellen Wohltaten meine junge Mutter nicht über das Alleinsein hinwegzutrösten. Da dort, wo mein Vater arbeitete, höchste Geheimhaltungsstufe herrschte, wusste meine Mutter oft nicht, wo er war und wann er heimkommen würde. Denn eins war klar: Ein Offizier der Armee war in erster Linie mit seinem Beruf verheiratet, und dem hatte sich eine Ehefrau bedingungslos unterzuordnen, so wie dem ganzen System. »In unserer Stellung kannst du keinem vertrauen«, hat uns unsere Mutter oft eingebläut. Das war wohl auch der Grund, warum sie ihr ganzes Leben lang nur zwei enge Freundinnen hatte, obwohl sie natürlich auch Kontakt zu den Frauen anderer hochrangiger Funktionäre unterhielt. Sie war ja ein geselliger Mensch. Später hat sie einmal gesagt, dass sie viele falsche Freunde und nur wenige echte in ihrem Leben gehabt habe, aber zum Glück habe sie die guten von den schlechten stets zu unterscheiden gewusst. Später, nach dem Fall der Mauer, hat sie auch ihre ehemaligen Schulfreundinnen aus ihrer Kindheit im Osten von Usedom wieder regelmäßig getroffen. Die »Mädels« haben bis ins hohe Alter was zusammen unternommen, Reisen, Geburtstagskränzchen, Shoppingtouren. Aber bei all dem Spaß, den die sechs Frauen miteinander hatten, haben sie schon auch über sehr persönliche Dinge gesprochen. Ich bin mir sicher, dass ich und mein verrücktes Leben in der Runde mehr als nur einmal zur Sprache kamen.

1961, als in Berlin die Mauer gebaut wurde, kam mein Bruder Ralf in Greifswald zur Welt. Mein Vater arbeitete weiter an seiner Karriere. 1963 wurde er als Stabschef der 6. Flottille nach Dranske auf Rügen versetzt, wo er bald zum Fregattenkapitän befördert wurde. Die Familie zog also von Peenemünde nach Dranske, in ein von der Armee zur Verfügung gestelltes Einfamilienhaus direkt am Wasser, wo ich heute noch manchmal hingehe. Es war sehr idyllisch dort. In Dranske wurden meine Schwester und vier Jahre später auch mein Bruder eingeschult. Im Gegensatz zu Marina, die eine ausgezeichnete Schülerin war, hatte mein Bruder oft mit schulischen Problemen zu kämpfen. Er war ein schwieriges Kind, das seinen Vater jedoch geradezu vergötterte. Das war wohl auch das Tragische an Ralfs Leben, dass er seinem Vater stets vergeblich nachzueifern suchte, die beiden waren ja grundverschieden. Irgendwie hat es einfach nie ganz gereicht, und das muss Ralf sehr wehgetan haben, zumal mein Vater sich ihm gegenüber mit seiner Meinung genauso wenig zurückgehalten hat, wie uns allen und vor allem sich selbst gegenüber. Ich glaube auch, dass Ralfs spätere Alkoholprobleme damit zu tun hatten, dass er mit dem Druck und der Bürde, unseres Vaters Sohn zu sein, nie ganz klargekommen ist.

Meine Geschwister waren ja um einiges älter als ich, und als ich 1969 als »Nesthäkchen« geboren wurde, war Marina mit ihren dreizehn Jahren bereits ein Teenager. Sie hat später oft die Rolle einer Ersatzmutter für mich übernehmen müssen, vor allem, als meine Mutter im Krankenhaus zu arbeiten anfing und ich aufgrund ihrer Schichtarbeit oft allein war. Meine Schwester hatte es in ihrer Jugend nicht immer leicht, sie musste früh Verantwortung übernehmen. Vielleicht mit ein Grund dafür, dass meine Mutter und sie phasenweise ein recht angespanntes Verhältnis hatten. Auch Marina und ich geraten bis heute immer wieder mal aneinander, wir sind schon sehr unterschiedlich. Wenn ich in ihren Augen zu wenig Beherrschung habe, dann hat sie in meinen zu viel. An ihrem 60. Geburtstag in einem Gutsherrenhaus in Mecklenburg zum Beispiel habe ich ihr, ohne es zu wollen, das Fest gründlich vermasselt, weil ich dem in meinen Augen unfähigen Servicepersonal dort gehörig die Meinung gesagt habe – vor der ganzen Festgesellschaft, versteht sich. Marina fühlte sich in ihrer Rolle als Gastgeberin und Grande Dame brüskiert und hat sich für mich in Grund und Boden geschämt. Nachher herrschte erst mal eine Weile Funkstille zwischen uns, und bis heute haben wir noch nicht richtig über den Vorfall geredet. Schade, aber über kurz oder lang finden wir immer wieder den Rank zueinander.

Im Gegensatz zu meiner älteren Schwester wurde ich in dem Sinn verwöhnt, dass ich mir schon früh Dinge herausnehmen durfte, die ihr und meinem Bruder noch versagt geblieben waren. Wohl haben meine Eltern mir gegenüber mehr Nachsicht geübt, was sich bestimmt auch auf mein Wesen und mein Gemüt ausgewirkt hat. Als wir unsere Mutter im Erwachsenenalter mal fragten, welches von uns drei Kindern sie auf eine einsame Insel mitnehmen würde, meinte sie geradeheraus: »Katja – die kennt sich aus und nimmt nichts so schwer!«

1969, im Jahr meiner Geburt, wurde mein Vater zum Konteradmiral ernannt. Er war Anfang der 1970er-Jahre der jüngste Admiral der DDR, was der »Neuen Berliner Illustrierten« – einer damals auflagestarken Wochenzeitschrift – ein wohlwollend formulierter Artikel wert war. In dem 1972 erschienenen Interview fragte ein Journalist meinen Vater, ob er als »Landratte« aus Sachsen-Anhalt in seiner Eigenschaft als seefahrender Admiral noch nie unter Seekrankheit gelitten habe. Schließlich hatte mein Vater zu dem Zeitpunkt mit all seinen Seereisen zusammen schon fast die Welt umsegelt. »Das ist vornehmlich eine Willensfrage«, erwiderte mein Vater nüchtern, »man muss sich überwinden können.« Typisch! Eigentlich habe ich meinen Vater als Privatperson erst nach 1988 bewusst wahrgenommen, nachdem er aus dem Aktivdienst entlassen worden war. Aber da waren meine Geschwister ja schon aus dem Haus und führten ihr eigenes Leben; sie hatten meinen Vater bestimmt auf eine andere Art kennengelernt als ich.

»Mensch, wie habe ich das alles nur geschafft!«, hat meine Mutter im Nachhinein oft seufzend ausgestoßen. Sie muss es mit uns drei doch sehr unterschiedlichen und mitunter auch recht schwierigen Kindern nicht immer leicht gehabt haben, zumal sie sich ja kaum jemandem anvertrauen konnte. »Lasst euch ja nie in die Karten schauen!«, hat sie uns oft eingebläut, und ich glaube, dass sie sich selbst am meisten daran gehalten hat. Es blieb ihr ja auch nichts anderes übrig in einem System, in dem jeder jeden überwacht hat. Die Angehörigen der regierungsnahen Kreise waren davon nicht ausgenommen, ganz im Gegenteil. »Du musst den Feind in der Umarmung erdrücken«, war auch so ein mütterliches Losungswort, das mich nachhaltig beeindruckt und immer auch ein wenig befremdet hat. Ja, meine Mutter konnte unerbittlich sein, und in gewisser Weise war sie bei weitem härter und sturer als mein Vater. Nach außen Stärke zeigen, selbst wenn es einem innerlich noch so mies geht, das haben wir indes von beiden Elternteilen regelrecht eingetrichtert bekommen.

Anfang der 1970er-Jahre wurde mein Vater nach Rostock abkommandiert. Dort übernahm er als Chef des Stabes der Volksmarine die Dienstgeschäfte. So zog die ganze Familie von Dranske nach Rostock in eine kleine Wohnung. Als mein Vater zu jener Zeit in der Familienchronik notierte, dass sich die Familie an die Umgebung gewöhnt hätte, schrieb meine Mutter spitz hinzu: »Das glaubst auch nur du!« Meine Mutter musste sich ja bei jedem Umzug in ihrem Alltag neu zurechtfinden und sich jedes Mal aufs Neue einen Freundeskreis aufbauen, während mein Vater durch seine berufsbedingte Abwesenheit in gewisser Weise sein eigenes Leben in der Männerwelt der Marine führte.

Zwei Jahre später zogen wir dann innerhalb von Rostock in ein Haus in einer Siedlung für Armeeangehörige um. Das muss man sich als ein abgesperrtes Gebiet mit Bewachungskommando vorstellen, was für mich als Kind – ich war beim Einzug erst vier Jahre alt – nichts Ungewöhnliches war. Erst nach der Wende erfuhr ich von meinem Kinder- und Jugendfreund René, der als Admiralssohn auch in jener Siedlung aufwuchs, dass unser Haus vollständig verwanzt war, genauso wie das Telefon. Neben dem Diensttelefon meines Vaters hatten wir auch ein Privattelefon im Haus, wobei ein Privatanschluss in der damaligen DDR keine Selbstverständlichkeit war. Mir wird heute noch übel, wenn ich daran denke, was sich die Stasi aus meinem intimsten Jungmädchen-Leben alles angehört hat. Mein Vater hingegen hat gewusst, dass die Regierung über die Stasi ihre eigenen Leute ausspioniert. Darum hat er jeden neuen Chauffeur stets mit den Worten begrüßt: »Ich weiß schon, warum Sie hier sind!« Und von diesen sogenannten »IM« – inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit – hat mein Vater im Verlauf seiner Karriere eine ganze Menge kommen und gehen sehen, da er in seiner Position ungefragt einen Chauffeur mit Dienstauto zur Verfügung gestellt bekam. Darum hat mein Vater seinen Führerschein auch erst gemacht, als er pensioniert war: Vorher hätte es schlicht keine Veranlassung dazu gegeben.

Unsere Familienkutsche indes hat meine Mutter chauffiert. »Solange ich eine Frau und einen Chauffeur habe, brauche ich keinen Führerschein«, pflegte mein Vater zu spaßen. Und wir hatten es ja auch gut: Während normale DDR-Bürger fünfzehn bis zwanzig Jahre auf ein Auto warten mussten, kamen meine Eltern ungleich schneller zu ihrem himmelblauen »Trabi« und später zu ihrem gelben »Wartburg«. Ich selbst habe mit siebzehn den Führerschein auf Lastwagen bei der »Gesellschaft für Sport und Technik« gemacht, für schlappe sechzig Mark. Daran erinnere ich mich noch genau, weil mir mein Bruder als Berufsoffizier damals das Fahren beigebracht hat.

Dass wir privilegiert waren, habe ich erst im Alter von dreizehn, vierzehn Jahren bemerkt. Auch wir Kinder wurden herumchauffiert, wenn wir außerhalb der Schule Termine wahrzunehmen hatten, wie etwa einen Zahnarztbesuch oder einen Gang zum Amt. In den Urlaub fuhren wir immer an besondere Orte: im Sommer ins wunderschön gelegene Ostseebad Wustrow, wo fünf Bungalows den obersten Befehlshabern der Marine zu Verfügung standen, und im Winter nach Oberwiesenthal ins Erzgebirge. Das war ein Topp-Winterkurort damals. Auch wenn ich die Ferien dort immer sehr genossen habe, ist mir doch schon mit neun oder zehn Jahren bewusst geworden, dass die Sonderstellung meines Vaters für uns Kinder auch Bürde und Verzicht bedeutete. In der Unterstufe wollte ich zum Beispiel – wie die Kinder mit Westkontakt – »Edding«-Filzstifte oder »Pelikan«-Füllfederhalter haben. »Pass auf«, sagte da mein Vater zu mir, »es gibt keine westlichen Produkte für uns. Als Tochter eines hochrangigen Offiziers musst du linientreu sein. Lass dich nur ja nie überreden!« Und wenn ich gefragt habe, warum, dann hat mein Vater weit ausgeholt. Seine Vorträge konnten gut und gern zwei Stunden dauern. Einmal habe ich zu Hause gefragt, ob ich in die Christenlehre gehen könne wie eine Mitschülerin von mir, die immer so wunderschöne farbige Heiligenbildchen bei sich hatte. Mein Vater, als überzeugter Atheist, ist natürlich fast vom Stuhl gefallen, ich muss heute noch lachen, wenn ich daran denke! Später habe ich begriffen, dass ich meine privilegierte Stellung zugunsten meiner weniger privilegierten Mitschüler nutzen konnte. Ich gehörte zu denen, die sich in der Schule für die Schwachen eingesetzt haben; ich war ja auch Klassensprecherin. Und wenn ich bei einer Aktion wieder mal Rädelsführerin war, rechnete ich natürlich insgeheim damit, dass mich mein Vater da schon wieder herausboxen würde, wenn’s hart auf hart käme. Trotzdem bekam ich in Staatsbürgerkunde regelmäßig schlechte Noten, weil ich »zu viele Fragen« stellte. Gerade ich, als meines Vaters Tochter, durfte mir so etwas in meiner sogenannten »Vorbildfunktion« nicht leisten!

In der achten Klasse gab’s ein paar Jungs, die mit mir anbändeln wollten, aber mir gefiel nur einer: Timo. Obschon ich keine Jungs mit nach Hause bringen durfte, weil meine Mutter in dieser Beziehung überhaupt nicht offen war, hat sie’s herausgefunden. Daraufhin hat sie Timo kurzerhand nahege-legt, »das Kind« ein für alle Mal in Ruhe zu lassen. Später dann tauchte eine Zeit lang täglich um drei Uhr nachmittags ein Junge bei uns auf, der – weil ich mich nicht traute, ihn in die Wohnung zu bitten – ohne Wissen meiner Mutter vor meinem Fenster mit dem Fahrrad auf- und abfuhr. So konnten wir wenigstens miteinander sprechen. Ich lehnte mich wie ein wohl behütetes Burgfräulein aus dem Fenster, während mein Galan vor meinen Augen wacker seine Runden drehte. Als uns meine Mutter erwischte, setzte es eine Backpfeife und eine Standpauke, die es in sich hatte.

Meine erste Liebe, das war Jens, ihn durfte ich sogar zur Jugendweihe einladen. Das war schon ein Fortschritt gegenüber meiner um dreizehn Jahre älteren Schwester, die ihren Freund erst heimbringen durfte, als sie mit ihm verlobt war. Meiner Mutter schien alles Sexuelle peinlich zu sein, sie hat uns auch nie aufgeklärt. Warum sie so verschlossen in diesen Dingen war – keine Ahnung. Jedenfalls hielt ich meine Tändeleien und Liebeleien vor ihr verborgen, so gut es eben ging. Erst als ich schon lange erwachsen war, erzählte ich ihr von meinen Jugendflirts. Auch von Tom, den ich gegen Ende meiner Schulzeit mit noch nicht einmal sechzehn Jahren kennengelernt hatte und der eine Art Lebensliebe von mir werden sollte, habe ich ihr erst sehr viel später erzählt. Ich habe heute noch Kontakt zu ihm, auch wenn wir längst kein Liebespaar mehr sind – na ja, ein Liebespaar im eigentlichen Sinn waren wir ja nie. Das war eher so eine »Amour fou«, eine On-Off-Beziehung, wie man heute sagt. Wir konnten nicht miteinander und nicht ohne einander, aber das, was uns über alle Hindernisse hinweg miteinander verbunden hat, erwies sich als solider und dauerhafter, als wir das selbst je geahnt hätten.

Kennengelernt habe ich Tom 1984 zu einer Zeit, als ich oft bei meiner Freundin Simone* (*Name geändert) auf dem Landgut ihrer Familie in Brandenburg zu Gast war. Es handelte sich um ein riesiges Anwesen auf einem Hügel, dem unter anderem eine Fleischerei und eine Rennpferdezucht angehörten. Die Pferde wurden für teures Geld in den Westen verkauft. Es war paradiesisch dort, das Grundstück war ungeheuer weitläufig. Vor kurzem, als ich auf einem meiner regelmäßigen Deutschland-Besuche durch Brandenburg gefahren bin, habe ich an diesem verwunschenen Ort Halt gemacht. Das Tor zu dem weitläufigen Grundstück stand weit offen. Das einst so imposante Haus auf dem Hügel war jetzt vollkommen verlottert, aber der Zaun und das Tor sahen noch aus wie damals in den 1980er-Jahren. Simone habe ich inzwischen leider aus den Augen verloren. Sie war ein Jahr älter als ich, ausgesprochen fraulich und gutaussehend, und sie trug immer die schönsten Kleider. An einem Abend des Jahres 1984 haben wir uns beide aufgebrezelt und sind mit dem Taxi nach Potsdam ins Fünfsternehotel »Interhotel« gefahren, weil Simone dort einen Barkeeper kannte. Über ihn sind wir trotz unserer allzu jungen Jahre reingekommen und haben wie die Großen an der Bar Cocktails geschlürft. An jenem Abend waren auch die Techniker der österreichischen Pop-Rock-Band »Erste Allgemeine Verunsicherung«, kurz EAV, an der Bar. Die Band war damals nicht nur bei uns im Osten, sondern im ganzen deutschsprachigen Raum groß im Kommen. Nachdem die EAV Ende der 1970er-Jahre in der alternativen Clubszene durch Deutschland getourt war, gelang ihr 1985 mit dem Album »Geld oder Leben!« der Durchbruch. Sicher kennst du so berühmte Lieder wie »Küss’ die Hand, schöne Frau« oder »Ba-Ba-Banküberfall« oder auch »Märchenprinz«. Ich glaube, ich könnte dir jetzt noch die allermeisten EAV-Hits auswendig vorsingen.

Jedenfalls tauchte, während wir an der Bar mit den Technikern der EAV Cocktails tranken, auf einmal Thomas – Tom – Spitzer auf, der Texter, Komponist und Gründer der Band. »Du bist die schönste Fünfzehnjährige, die ich je gesehen habe«, sagte der über Dreißigjährige zu mir, was mir natürlich schmeichelte. Ich fand den Mann auf den ersten Blick umwerfend. Die Musiker wollten Simone und mich anderntags im Tourenbus nach Rostock mitnehmen, wo sie ein Konzert gaben. Unglücklicherweise aber haben wir beiden jungen Frauen aufgrund des ungewohnten Alkoholkonsums anderntags verschlafen: Als wir endlich aus den Federn kamen, war der Bus längst schon weg. Aber wir ließen uns nicht unterkriegen und sind dann doch noch nach Rostock zum Konzert getrampt, wo wir die Türsteher vergebens anbettelten, uns doch reinzulassen. Zufälligerweise kam ein Techniker vorbei, der uns wiedererkannte und uns zu sich hereinwinkte. Simone und ich bahnten uns Hand in Hand einen Weg durch die Menge bis zuvorderst zur Bühne, wo wir backstage das Konzert mitverfolgen durften. Es war überwältigend.

An jenem Abend ging ich nach dem Konzert mit Tom aufs Hotelzimmer, er wohnte im Interhotel »Warnow« in Rostock. Wir verbrachten die ganze Nacht zusammen, obwohl wir nicht miteinander schliefen. Zu unserem Glück – das ganze Zimmer war ja völlig verwanzt, wie ich natürlich erst Jahre später erfuhr. Tom hatte einen Heidenrespekt, ich war ja noch nicht einmal volljährig. Er behandelte mich, als sei ich eine Porzellanpuppe, die bei der geringsten unbedachten Berührung in tausend Stücke zerfallen könnte. Nach dieser fast unwirklichen Nacht in Rostock rief ich Tom manchmal von zu Hause von unserem verwanzten Privattelefon aus an, während er auf Tournee war. Also wussten die Stasi und, wie ich vermute, wohl bald auch mein Vater von meiner Liaison mit dem »Musiker aus dem Westen«, was natürlich ein doppeltes No-Go war. Erst viele Jahre später habe ich meiner Mutter von meinen Abenteuern mit Tom erzählt, die das alles erst gar nicht glauben wollte. »Du bist ja schon dein Geld wert, Katja«, seufzte sie kopfschüttelnd und schmunzelte doch wider Willen. Wie sie allerdings reagiert hätte, wenn ich ihr 1984 die Geschichte gebeichtet hätte, wage ich mir nicht einmal vorzustellen. Mein Vater war in Bezug auf Jungs sehr viel toleranter als meine Mutter, aber er wäre ihr in Erziehungsfragen nie in den Rücken gefallen. Sie gab bei uns zu Hause den Ton an, und was sie sagte, war Gesetz.

Es kam, wie es kommen musste: Thomas Spitzer und ich sahen uns von 1984 bis zum Mauerfall 1989 ungefähr alle zwei Jahre, immer dann, wenn die EAV – die sich mittlerweile von Erfolg zu Erfolg hangelte – in der DDR auf Tournee war. Tom, der eigentlich eher ein Faible für erfahrene, ja im Gegensatz zu mir fast schon verruchte Frauen hatte, war ungeheuer zärtlich und liebevoll zu mir. Er bedachte mich mit allerlei Kosenamen; ich war sein Engel, sein Katilein, seine »Admiralstochter«, wie er mich im Scherz oft nannte. »Du warst meine jüngste große Liebe«, sagt er heute noch zu mir. Trotzdem war mir von Anfang an bewusst, dass das mit Tom nie etwas werden könnte, denn die Grenzen zwischen uns waren im wahrsten Sinn des Wortes unüberwindbar.

Mit sechzehn, nach Schulabschluss, wollte ich eigentlich Zootierpflegerin werden. Da es für den Beruf in der ganzen DDR jedoch nur etwa drei Lehrstellen gab, wurde daraus nichts. Ich liebe Tiere über alles, daran hat sich bis heute nichts geändert. Dank der Beziehungen meines Vaters habe ich dann eine Lehrstelle beim Ministerrat der DDR als sogenannter »Facharbeiter Kellner«, wie die Gastronomieausbildung auch für weibliche Fachpersonen hieß, im Rahmen einer zweijährigen Ausbildung ergattert. Die Regierung besaß verschiedene Gästehäuser in der ganzen DDR; eine Art hermetisch abgeriegelter Hotels, die nur dem Staatsdienst zur Verfügung standen und in denen auf Staatsbesuchen die hohen Gäste untergebracht waren. Da wurde der Tisch noch mit dem Maßstab gedeckt! Bei der Lehrabschlussprüfung mussten wir ein Menu für Minister zusammenstellen, Flambieren, Tranchieren, Filettieren, alles im hochkarätigen Rahmen. Für die Ausbildung musste ich nach Leipzig ins Internat ziehen, was mir anfangs schwerfiel, da ich stark unter Heimweh litt. Aber meine Eltern wiesen mich an, die Zähne zusammenzubeißen und keine Schwäche zu zeigen. »Augen zu und durch!«, feuerte mich meine Mutter ungerührt an.

Wir waren zehn Lehrlinge, darunter drei FrauenHaubi, Katrin und ich. Mit Haubi, die mit vollem Familiennamen Haubenreisser heißt, habe ich heute noch Kontakt. Sie ist eine sächsische Frohnatur, die uns oft zum Lachen gebracht hat. Jedenfalls sind wir drei Mädels des Nachts manchmal heimlich aus dem Fenster des Internats übers Tor gestiegen, um in Leipzig um die Häuser zu ziehen. Da musste man schon ganz schön Mumm in den Eiern haben!

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25 mayıs 2021
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9783969405284
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