Kitabı oku: «Tödliche Offenbarung», sayfa 5
21
Als Felix wieder zu sich kommt, schmerzt sein Brustkorb.
»Was machst du hier, du Arsch?«, schreit eine fremde Stimme ihn an.
Felix fühlt den heftigen Tritt, hört das Krachen seiner Rippen, spürt ein stechendes Ziehen in der Brust. Schützend hält er die Hände vors Gesicht. Aus dem Augenwinkel erkennt er die 88. Im nächsten Moment holt die Doppelacht zum Stoß aus. Felix rollt sich zur Seite. Nicht schnell genug. Er schreit vor Schmerz auf, als ihn die Kappe des Springerstiefels im Magen trifft.
»Ich hab dich was gefragt, du Arschgesicht. Antworte!« Der nächste Fußtritt landet in der anderen Körperhälfte. »Rede gefälligst!«
Felix liegt rücklings auf dem Boden, sein Peiniger steht breitbeinig vor ihm, in der rechten Faust einen Baseballschläger, |68|dessen unteres Ende er mit lauerndem Blick ständig in die linke Handflächenhälfte schlägt.
»Spuck’s aus, sonst nehm’ ich dich in die Mangel.«
Der Schlagstock kracht schon im nächsten Augenblick auf seine Wade. Felix bäumt sich vor Schmerz auf. Was soll er nur machen?
»Ich …«, stottert Felix, »… ich mache Fotos.« Sein Herz schlägt bis zum Hals. »Naturaufnahmen.« Scheiße, in was ist er da hineingeraten?
»Das ist hier Privatgelände, du Arsch. Da hast du nichts zu suchen.« Der Baseballschläger donnert erneut auf ihn nieder. Dieses Mal trifft die 88 seine Schulter. Felix hört einen Knochen krachen. Das Schlüsselbein? Ein stechender Schmerz zieht von der Schulter abwärts. Felix hat Angst. Riesengroße Angst. Was soll er tun? Er muss den Typen beruhigen, sonst schlägt der immer weiter. Aber womit?
»Da hab ich mich wohl verlaufen«, versucht er es. »Kann doch passieren.«
»Los, Karl, zeig ihm, was wir mit Leuten tun, die heimlich auf unserem Gelände rumschleichen. Polier ihm die Fresse.« Die 88 zieht Felix mit seiner riesigen Pranke hoch. »Verpass ihm einen Denkzettel, den er so bald nicht vergisst.«
Der andere Junge tritt einen Schritt vor und ballt die Fäuste. Sie schnellen auf Felix’ Bauch zu, stoppen jedoch im letzten Moment, so als wenn sie es sich anders überlegt hätten.
»Lass gut sein, Matusch. Der hat genug abbekommen.«
Felix atmet erleichtert auf. Jetzt setzt die Vernunft bei denen ein. Natürlich. Die müssen doch Angst vor den Konsequenzen haben. Eine Anzeige wegen Körperverletzung ist nicht ohne. Und die können ihn schließlich nicht …
|69|»Quatsch, der kann noch mehr vertragen.« Matuschs Faust findet den Weg in Felix’ Magengrube. Felix klappt wie ein Taschenmesser zusammen.
»Ist doch keine Streichelwiese hier«, grunzt Matusch und reibt sich die rechte Hand. »Los, jetzt du, Karl. Sollst auch deinen Spaß haben.«
Der Junge mit der 18 auf dem Rücken zögert. Er weiß nicht genau, was er machen soll. Matusch ist oft jähzornig. Bei dem weiß man nie. Am Ende bekommt man selbst was ab – andererseits hat dieser Felix ihm oft genug aus der Patsche geholfen. Früher, in der Grundschule, genau wie später im Fußballverein. Felix ist Mannschaftsführer in der F-Jugend gewesen. Mit Nachdruck hatte er mehr als einmal gefordert, dass er zum Spiel aufgestellt wurde, auch wenn er mal wieder nicht beim Training erschienen war, weil … einer musste sich doch um seine Mutter kümmern. Manchmal hatte sie voll wie eine Haubitze mitten im Flur gelegen … Felix hatte sogar in der Schule freiwillig neben ihm gesessen. Die anderen hatten ihn als Hosenpisser verspottet, nur weil er einmal, ein einziges Mal … Scheiß Zeit damals. Eigentlich will er überhaupt nicht mehr daran zurückdenken. Trotzdem gibt er sich einen Ruck.
»Der Typ ist in Ordnung. Echt. Der hat mir häufig beigestanden.«
»Du kennst das Arschgesicht?«
»Aus der Schule und vom Fußball.«
Jetzt dämmert auch Felix, warum ihm das Gesicht so bekannt vorgekommen ist. Nicht Karl ist das, sondern Kevin, Kevin Fischer. Ein schmaler, dünner Kerl, der von allen gehänselt wurde. Einmal hatte Felix ihn in den Schlichthäusern |70|Drei Eichen am Rande der Burgdorfer Südstadt besucht, um ihm Hausaufgaben vorbeizubringen, weil er ein paar Tage nicht zum Unterricht erschienen war.
»Kümmere dich ein bisschen um ihn. Der hat sonst keinen«, hatte die Lehrerin ihm nach der Stunde zugeflüstert.
Schmächtig ist Kevin mittlerweile nicht mehr. Breite Schultern hat er, kräftige Oberarme, dazu die Tätowierung am Unterarm. Prügeleien geht der garantiert nicht aus dem Weg. Die platte Nase und der Schneidezahn sprechen Bände.
»Na gut. Wenn du nicht willst – selbst Schuld. Aber ich will meinen Spaß haben.« Die starke Hand packt Felix am Genick und zieht ihn hoch. »Gib mir deinen Fotoapparat.«
Felix reicht ihm zitternd seine neue Nikon. Matusch nimmt sie grinsend entgegen.
»Und jetzt machen wir eine kleine Spritztour.«
22
Streuwald und Borgfeld stehen unschlüssig vor den rotweißen Absperrbändern, die den Fundort der Leiche sichern.
»Wie lange müssen wir hier noch bleiben?« Borgfelds Magen knurrt und seine Laune ist auf dem Tiefpunkt angelangt.
Bei Streuwald sieht es nicht besser aus. Um zwei Uhr wollte er eigentlich mit seinen Jungs zum Warmmachen auf dem Platz sein. Es ist zwar ein Freundschaftsspiel, aber eins, das es in sich hat. Die A-Jugend von Heeßel ist sein stärkster Konkurrent. Was hat der Platzwart letzte Woche gesagt? Das ist ein Kampf der Lokalmatadore. Nicht gesagt hat er, dass es dabei für ihn auch um seine Ehre als Jugendtrainer des RSE |71|geht. Das brauchte er auch nicht zu sagen. Streuwald weiß es selbst. Er wirft einen verkniffenen Blick auf sein Handy. Keine neuen Nachrichten.
Eddi, der Co-Trainer, ist von Streuwald telefonisch informiert worden, dass er heute alles allein managen muss, aber ganz wohl ist ihm bei der Sache nicht. Eddi hätte sich wenigstens melden können. Streuwald greift zum Telefon und drückt auf Wahlwiederholung.
»Eddi, ich bin’s noch mal, Walter. Nur ganz kurz: Macht doch lieber die Dreierkette. Damit rechnen die aus Heeßel nicht.«
Zwei Minuten später klingelt Streuwalds Handy. Er bekommt schon nach wenigen Sekunden einen hochroten Kopf. »Eddi, das glaube ich jetzt nicht. Wieso fehlt Volcan?«
»…«
»Scheiße. Und was ist mit Süleyman?«
Während Streuwald immer lauter ins Telefon schreit, dreht sich Borgfeld um und betrachtet den Tatort in aller Ruhe. Warum sitzt ein Toter auf der Bank hinter dem Schuppen vom Golfclub, noch dazu mit einem Golfball im Mund? Ist das eine Botschaft? Friss oder stirb. Nein, das passt nicht. Nichts passt richtig. Das Knurren seines Magens übertönt Borgfelds resigniertes Seufzen.
»Tut mir leid, war wichtig«, meldet sich Streuwald zurück. Sein Kopf ist immer noch hochrot.
Borgfeld überhört die halbherzige Entschuldigung. Er hat sich längst daran gewöhnt, dass für Streuwald Fußball an erster Stelle steht. Nicht, dass Streuwald seine Arbeit bei der Polizei schlecht erledigen würde, das kann man nicht sagen. Es darf nur nichts dazwischenkommen, was seine Planungen |72|als Trainer beeinträchtigt. Das mag Streuwald nicht. Das mag er ganz und gar nicht. Nicht einmal am Tag seiner Silberhochzeit hat er das Spiel seiner Jungen verschoben. Borgfeld hat nur überrascht, dass Streuwalds Frau nicht dagegen protestiert hat. Als seine Maria davon gehört hat, hat die ihm gleich gesagt, dass er ihr so nicht zu kommen bräuchte. Dann könnte er statt Silberhochzeit gleich die Scheidung haben. Und Maria würde das tatsächlich machen, da ist sich Borgfeld ganz sicher. Die stellt Ansprüche. Einfach was hinnehmen, ist bei der nicht drin. Sonst hätte sie letzten Monat nicht so einen Aufstand in der Umkleidekabine bei Kaufhof gemacht.
»Es reicht«, hat sie ihm zugezischt. »Jedes Jahr eine Nummer mehr beim Hosenkauf. Wo soll das noch hinführen? Du bist schon bei Größe 58.«
Erst hatte Borgfeld gedacht, dass sei nur so dahingesagt. Aber so eine ist seine Maria nicht. Schon am Tag danach hat sie ihn zu den Gewichtfuzzis ins Gemeindehaus geschleift. Seitdem heißt es: Punkte zählen und notieren. Das Schlimmste ist, dass er einmal in der Woche in aller Öffentlichkeit gewogen wird. Und dann auch noch das Gewicht vor den anderen nennen muss. Nennen? Rufen. Wie in der Schule früher bei den Klassenarbeiten. Borgfeld: Sechs. Setzen. Vielleicht wäre so eine zurückhaltende Frau wie die von Streuwald, so eine bescheidene, doch besser. Oder vielleicht gar keine? Der Seufzer, den er ausstößt, ist noch lauter, als der zuvor.
»Wie weit sind die anderen?«, reißt Streuwald ihn aus seinen Gedanken.
»Die Leiche ist abtransportiert, die Kriminaltechnik hat |73|ihre Sachen zusammengepackt, die haben alles mit diesem neumodischen Gerät aufgenommen …«
»Der Spheronkamera«, unterbricht ihn Streuwald und grinst breit. »Damit kann man 360° Aufnahmen machen.«
»Das habe ich auch kapiert.« Borgfeld wirft ihm einen wütenden Blick zu. Streuwald soll bloß nicht glauben, dass er das nicht verstanden hat. Er hat zwar kein technisches Talent, aber dass diese Kamera sich einmal um sich selbst dreht, hat auch er begriffen. Ein ganz einfacher Drehmechanismus.
»Ich bin nur gespannt, wie so ein virtueller Tatort aussieht, aber wir werden es ja erleben.«
»Oder auch nicht.« Borgfeld knirscht mit den Zähnen.
»Wieso?«
»Wenn ich den vom Kriminaldauerdienst vorhin richtig verstanden habe, übernehmen die die Sache. Verstärkung von oben sozusagen.«
»Soll mir recht sein, wenn die sich aus Hannover da reinhängen.« Streuwald wäre das nicht nur recht, es wäre ihm sehr recht. Er ist schließlich mitten in der Saisonvorbereitung. Das kostet Zeit. Überstunden passen da überhaupt nicht rein.
»Andererseits könnten wir bei der dritten erfolgreichen Mordaufklärung mit einer Beförderung rechnen. Hat mir jedenfalls der Schneider neulich in der Kantine gesagt – und der ist ganz dicke mit dem Chef.« Borgfeld überkreuzt Mittel- und Zeigefinger und hält sie Streuwald vor die Nase.
Streuwalds Mundwinkel heben sich. »Tatsächlich?« Ein bisschen mehr Geld wäre natürlich auch nicht schlecht. Die neue Heizung war teuer.
»Vielleicht ist der Fall ja schnell gelöst.« Ein plötzlicher |74|Energieschub pulsiert durch Streuwalds Adern. »Was gibt es an verwertbaren Spuren?«
»Nicht viel. Der Golfball im Mund und die Schleifspuren vor der Bank. Keine Fußabdrücke. Der Boden ist bei der Trockenheit steinhart. Da ist nichts. Die verstreuten Grasschnipsel auf dem Reinigungsplatz ergeben garantiert nichts. Interessant ist, dass kein Handy gefunden wurde. Das ist heutzutage schon eher seltsam, hat doch jeder eins. Sogar du«, sagt Borgfeld in das Gebimmel von Streuwalds Mobiltelefon hinein, der sofort das Gespräch annimmt, als er sieht, wer ihn anruft.
»Süleyman ist umgeknickt? Scheiße. Dann nimm den Darius in den Sturm und Robert ins Mittelfeld.« Streuwald klappt stöhnend sein Mobiltelefon zusammen.
»Fertig?«, grunzt Borgfeld.
»Mit den Nerven. Zwei Kranke und drei Verletzte, wie sollen wir da gewinnen?«
Streuwald versucht, ihm seine Taktik im Spiel zu erklären, doch Borgfeld wimmelt ab.
»Wo waren wir stehen geblieben?«
23
»Geh weiter, du Arschgesicht.« Matusch schubst Felix vor sich her.
Der stolpert über Heidelbeerbüsche und lila blühende Heidepflanzen, taumelt durch wild ausgeschlagene Birken. Was hat dieser Kerl mit ihm vor? Felix dreht sich um und wirft seinem ehemaligen Mitschüler einen hilfesuchenden |75|Blick zu. Kevin senkt die Augenlider. Er ist verunsichert. Die stumme Bitte, die ihm Felix herübergeschickt hat, kann er nicht einfach wegschieben, aber er will sich auch nicht gegen Matusch stellen. Der hat ihm den Weg gezeigt, damit er endlich rauskommt aus dieser öden Siedlung. Matusch hat ihn mit in die Gruppe genommen und ihm so etwas wie eine Familie zurückgegeben. Alle haben hier ein gemeinsames Ziel, eine Aufgabe, an der sie arbeiten. Er ist jetzt Karl und nicht mehr dieser lächerliche Kevin, auf den alle heruntersehen, er ist wer. Er ist ein »Aufrechter Deutscher«.
»Los vorwärts.« Matusch schubst Felix gegen die Ladefläche des Pick-ups. »Kletter rauf.«
Eigentlich schaut Kevin gerne zu, wenn der Ältere seine Wut an anderen auslässt. Matuschs Zorn bricht dann in einer ungezügelten Wildheit aus ihm heraus, ohne Angst vor dem Gegner und vor Konsequenzen. Diese bedingungslose Entschlossenheit vermisst Kevin an sich selbst. Bevor er zuschlägt, denkt er nach. Jedes Mal. Matusch hat ihm schon tausendmal gesagt, dass das ein Fehler ist. Immer drauf, damit die begreifen, wer das Sagen hat, das ist seine Devise.
»Wenn wir erst an der Macht sind, ziehen wir sowieso neue Seiten auf. Dann ist Schluss mit diesem Gelaber.«
Kevin zögert. Mit Matusch zu reden, kann er vergessen. In dieser Stimmung bremst ihn keiner. Unmöglich.
|76|24
»Ab wann dürfen unsere Clubmitglieder wieder Golf spielen?« Goldmann ist zu Borgfeld und Streuwald herangetreten, die immer noch unentschlossen vor dem Absperrband stehen.
»Na ja …« Borgfeld sieht seinen Kollegen an. »Eigentlich hat keiner gesagt, dass der Platz nicht betreten werden darf.«
»Das ist ja schon mal etwas. Kann man auch die Wagen und Bags aus dem Caddyhaus holen?« Goldmann steckt seine Hand in die rechte Hosentasche. »Es ist Wochenende und die Leute wollen auf die Runde. Wir sind ein angesehener Verein, Golfer sind …«
Sein schier endloser Vortrag langweilt Streuwald. Golf. Als wenn das Sport wäre. Bewegung für ältere Herrschaften, vielleicht, aber nicht mehr. Er muss diesen geschniegelten Lackaffen doch nur ansehen, um zu wissen, was das für eine Sportart ist. Kurze rote Hosen mit dunkelblauen Kniestrümpfen, dazu weiße Schuhe mit braunen Litzen. Damit würde keiner seiner Jungs auf den Platz kommen, ohne ausgepfiffen zu werden.
Endlich kommt Goldmann mit seinem Monolog über die Bedeutung des Golfsports zum Ende. Er zieht seine Hand aus der Tasche, darin glänzt etwas Weißes: ein Golfball.
Streuwald erkennt farbige Punkte darauf: grün, weiß, rot.
»Kann ich den mal haben?«
Die Frage überrascht Goldmann, doch er reicht den Golfball Streuwald. Der wendet ihn hin und her und reicht ihn schließlich an Borgfeld weiter.
»Ein Wappen mit gekreuzten Golfschlägern. Erkennst du es?«
|77|»Ist das gleiche Muster.« Borgfeld dreht sich zu Goldmann um. »Hat das eine besondere Bedeutung?«
»Das ist unser Clublogo. Jeder Club, der etwas auf sich hält, hat einen Golfball mit eigenem Logo.«
Borgfelds Augen blitzen bei diesen Worten auf. Ein Toter im Golfclub, im Mund ein Golfball des Clubs. Klare Sache. Er grinst. Von dem Geld, was ihm die Beförderung einbringt, könnte er endlich mal wieder Urlaub an der See machen.
»Wo kann man diese Bälle kaufen?«
»Bei uns im Pro Shop.«
»Ah ja, Pro Shop, wunderbar. Und … wo ist der?«
»Vorne, gleich neben der Station der Greenkeeper.«
Greenkeeper? Borgfeld runzelt die Stirn.
»Zeigen Sie uns am besten mal, wo der Platzwart seine Geräte stehen hat«, hilft Streuwald seinem Kollegen auf die Sprünge.
25
Martha steht an der Spüle und schrubbt ihre Teekanne. Oben am Rand ist ein brauner Belag. Mit einer Zahnbürste schiebt sie Küchenpapier in die Ritze, die sich zwischen dem beweglichen Henkel und dem Kannenkörper bildet. Nach dem dritten Versuch gibt sie auf. Sie braucht etwas Schmaleres. Während sie in der Schublade des Küchentisches sucht, fällt ihr Blick auf die Anrichte. Dort liegt die Fotokopie der Aufzeichnungen, die ihr ein Mann am Freitag in der Redaktion vorbeigebracht hat.
»Gestatten, Julius Trott aus Celle. Ich unterrichte am Kaiserin-Auguste-Viktoria-Gymnasium |78|in Celle«, stellte er sich vor und erzählte von seiner verstorbenen Großmutter und dem Fund dieser alten Aufzeichnungen bei der gerade stattfindenden Wohnungsauflösung.
»Dieses Tagebuch enthält Sprengstoff. Glauben Sie mir. Unangenehme Wahrheiten werden ans Licht gebracht. Dinge, die niemand in Celle wissen will«, sind seine Worte zum Abschied gewesen. »Diese Geschichte muss an die Öffentlichkeit.«
Martha schlägt die erste Seite auf und beginnt noch im Stehen zu lesen.
1952
Am Ende der Straße steht ein Haus. Fachwerk in bester Zimmermannsarbeit. Bunt bemalte Balkenköpfe, goldene Schriftzüge über den Türen. Alles heimelig und gemütlich. Spitzengardinen in den Fenstern verhindern die Sicht hinter die liebliche Fassade. Tante Ida hat ihr Elternhaus damals bestimmt nicht gern verlassen, genauso wenig wie Mama.
Am Alten Marstall werfe ich einen Blick nach links. Verträumt thront das Celler Schloss im cremigweißen Zuckerbäckerstil auf einem kleinen Hügel, umgeben von Wassergräben, die schon viel gesehen haben. Mittelalterlich verschlafen wirkt es hier, ganz anders als im quirligen New York, das es noch nicht einmal gab, als Celle bereits Residenzstadt war.
Sprengstoff? Unangenehme Wahrheiten? Martha schüttelt den Kopf. Manche Menschen überschätzen die eigene Biografie und die ihrer Mitmenschen enorm. Eine junge Frau aus New York hat Beobachtungen in einer idyllischen Kleinstadt |79|in Norddeutschland aufgeschrieben. Bestimmt kommen gleich Kochrezepte und eine Liste damals aktueller Schlager. Martha blättert die Seite um und liest gelangweilt die nächste Eintragung.
Elfriede Trott, Jahrgang 1916, 36 Jahre alt, Bäckereiverkäuferin, wohnhaft Riemannstraße
So, Fräulein Clara, setzen Sie sich dort aufs Sofa. Muss eine anstrengende Reise für Sie gewesen sein. Amerika ist schließlich weit weg. Die schlafen doch jetzt sogar, wo wir miteinander reden.
Was hat Sie denn hierher verschlagen in unsere alte Residenzstadt? Das Schloss? Das ist wirklich wunderschön.
Ach, Sie möchten wissen, was in den letzten Tagen des Krieges passiert ist. Sie schreiben für eine Zeitung? Für die New York Times? Donnerwetter, und da wollen die da drüben auf der anderen Seite des Ozeans hören, was in Celle los war. Haben die etwa ein schlechtes Gewissen?
Der 8. April 1945 – Mädchen, das sind Tage, die alle vergessen wollen. Wir hatten genug auszustehen nach dem Krieg. Das wollte zum Ende keiner mehr haben. Das müssen Sie mir glauben.
Nein, es gab hier nicht viele Nazis. Ich weiß nicht, wer Ihnen das erzählt hat. Die Ida? Stimmt, die ist rüber nach Amerika. Das ist schon ewig her. Die weiß gar nicht, was hier los war, was das zum Schluss für ein Elend war.
Wollen Sie noch eine Tasse Kaffee? Echter Bohnenkaffee ist das, den habe ich gerade aufgebrüht.
Der 8. April 1945 – war das nicht ein Sonntag? Ja, richtig, jetzt erinnere ich mich. Herrliches Wetter, der Himmel ganz |80|blau und strahlender Sonnenschein. Morgens war es kühl, aber der Frühling kam mit Macht, die Luft erwärmte sich schnell. Es lag ein besonderer Duft über allem, die Vögel zwitscherten. Amseln, Drosseln. Alles erwachte nach dem Winter. An der Aller wuchsen die ersten Butterblumen, überall leuchteten die Forsythien.
Am Sonntagvormittag fuhr ich mit dem Fahrrad ins Zentrum. Es hieß, das Proviantlager wird aufgelöst, es sollte Sonderrationen geben, damit sie nicht in die Hände des Feindes fallen. Nicht mehr lange und er würde vor den Toren der Stadt stehen.
Schon früh waren alle auf den Beinen und versuchten, Lebensmittel zu ergattern. Vor den Geschäften bildeten sich Schlangen. Ich selbst stand ewig in der Zöllnerstraße an. Mein Mann hatte keine Zeit, mitzukommen, der arbeitete ja als Bäckermeister in der Keksfabrik. Der war verantwortlich für die Bärentatzen, aber in jenen Tagen wurde nicht mehr viel gebacken. Da wurden nur die Lebensmittelbestände gesichert. Vor den Plünderern und dem Feind. Gucken Sie mich nicht so an. Das hieß damals Feind und nicht Befreier.
Als die Sirenen heulten, kurz bevor die amerikanischen Kampfbomber am Himmel auftauchten, war ich unterwegs nach Hause, dick bepackte Taschen hingen an meinem Lenker. Ich fuhr so schnell wie noch nie in meinem Leben unter der Bahnunterführung durch. Da hatten sich etliche untergestellt. Ich bog links bei uns in die Riemannstraße ein. Überall flüchteten die Leute in die Häuser. Bunker gab es ja nicht. Nur Keller.
Das Summen der Bomber kam näher, wurde bedrohlicher. Es war, als wenn ein Schwarm riesiger Raubvögel auf uns zukäme, immer näher, immer dichter.
Zuhause bin ich gleich hinunter zum Keller gerast. Ich riss die |81|Tür auf, sprang hinein. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Mein Ältester, der Wilhelm, saß schon da und hatte meinen Kleinen in Sicherheit gebracht. Noch nie war ich so erleichtert. Ich habe vor Glück geheult. Wirklich wahr. Um uns tobte die Hölle und ich heulte vor Glück. Aber nicht lange. Dann ging die erste Bombe ganz bei uns in der Nähe mit einem ohrenbetäubenden Knall nieder. Panik stieg in mir hoch. Immer mehr Bomben fielen in unserem Viertel. Gesehen haben wir nichts. Wir hörten nur das Krachen und die Schreie. Mein Kleiner schrie die ganze Zeit, genau wie die Nachbarin. Nach ein paar Minuten ging das Licht aus und plötzlich war alles dunkel. Ich hab den Atem angehalten und gebetet. Das Haus wackelte, die Wände zitterten, Putz rieselte von den Mauern und Staub lag in der Luft. Die Kellerfensterscheiben platzten vom Druck der Bombenexplosionen, Mörtel bröckelte ab.
Als wir später aus dem Keller krochen, war die Stadt voller Rauch. Sirenen heulten, überall Schreie und Hilferufe. Die Brücke bei der Bahn war getroffen und die Leute, die sich dort untergestellt hatten, waren verschüttet. Schrecklich, diese Schmerzensschreie. Ich höre die heute noch manchmal im Schlaf.
Ja, Ihre Leute haben ganze Arbeit bei diesem Angriff geleistet, das muss man mal sagen. Dabei haben wir hier in Celle doch gar nichts gemacht. Überhaupt nichts. Hier waren nur Zivilisten.
Schmeckt der Kaffee? Der ist frisch geröstet. Von Huth am Großen Plan. Der war früher sogar Königlicher Hoflieferant. Möchten Sie noch eine Tasse? Bitte, die Milch, nehmen Sie!
Der Güterbahnhof selbst bekam einiges ab. Natürlich. Der ist ja gleich dahinten. Wenn Sie aus dem Fenster gucken, können Sie die Gleise sehen.
|82|Ja, Züge wurden auch getroffen. Wieso fragen Sie immer danach?
Mag sein, dass ein Transport mit Menschen dabei war. Irgendwelche Zuchthäusler. Darüber weiß ich nichts Genaueres. Ich muss jetzt in die Küche. Das Mittagessen kochen. Mein Mann kommt gleich nach Hause.