Kitabı oku: «Ein Leben mit Freunden», sayfa 2

Yazı tipi:

Nach außen hin vertritt Morgenstern den Anspruch, nach bestem Wissen und Gewissen zu schreiben und die Dinge wahrheitsgemäß darzustellen. Inwieweit ihm das wirklich gelingt, wo ihn das Unterbewußtsein, das Gedächtnis oder auch die konkrete Absicht dazu verleiteten, Sachverhalte und Ereignisse beschönigend darzustellen, zu seinen Gunsten auszulegen oder ganz zu verschweigen, kann nicht mehr nachvollzogen werden. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß mit der Stilisierung der Freundschaft auch eine Vernachlässigung anderer Lebensbereiche einhergeht. Es ist überdies ein bekanntes Phänomen, daß der Mensch dazu neigt, im Rückblick Dinge zu verklären und vor allem positive Erlebnisse im Gedächtnis zu behalten, wohingegen die negativen verdrängt werden. Darüber hinaus besteht häufig eine Diskrepanz zwischen dem Selbstbild, das ein jeder – auch der Autor einer Autobiographie – von sich hat, und dem Bild, das die Umwelt von dieser Person entwickelt. Jeder autobiographische Text muß vor dem Hintergrund dieser grundlegenden Problematik gelesen werden.

Im Falle der Morgensternschen Erinnerungen wird die Sachlage noch durch den Umstand erschwert, daß es kaum verläßliche Quellen gibt, anhand derer sich seine Schilderungen überprüfen ließen. Der informative und dokumentarische Gehalt ist seinen ›autobiographischen Schriften‹ bei allen Vorbehalten jedoch nicht abzusprechen und soll im Zuge dieser Arbeit aufgezeigt werden. Als ein Zeitzeuge der ›Wiener Moderne‹, der in den intellektuellen Kreisen verkehrte und mit zahlreichen prominenten Zeitgenossen aus Literatur, Musik, Architektur und bildender Kunst befreundet war, sind seine Erinnerungen ein unschätzbares Dokument ihrer Zeit.

Zum Abschluß dieses Einleitungskapitels sei kurz die weitere Vorgehensweise erläutert. Morgensterns vergleichsweise geringe Bekanntheit erfordert es, den Lebensweg des Autors nachzuzeichnen und sein schriftstellerisches Gesamtwerk dem Leser vorzustellen. Dies wird in Kapitel 2 geschehen. Das dritte Kapitel versucht, den literaturgeschichtlichen Hintergrund – den Bereich der sogenannten Exilliteratur – und insbesondere das Genre der Exil-Autobiographie in großen Zügen zu umreißen. Es kann sich hierbei nur um eine erste Annäherung an den Themenkomplex handeln, da das Gebiet der Exilliteratur Gegenstand eines eigenständigen Forschungsbereichs innerhalb der Literaturwissenschaft darstellt und eine auch nur annähernd erschöpfende Darstellung desselben im Rahmen dieser Untersuchung nicht möglich wäre.

Das vierte Kapitel bildet das Zentrum der Arbeit und nimmt dementsprechend den größten Raum innerhalb der Untersuchung ein. Es werden zunächst Kriterien zur Klassifizierung von Morgensterns ›autobiographischen Schriften‹ und eine Typologie derselben entwickelt, bevor die vier Werke vor dem Hintergrund dieser Einteilung und in Hinblick auf die unterschiedlichen autobiographischen Verfahren im einzelnen vorgestellt und ihre besonderen stilistischen und formalen Merkmale erörtert werden.

2. »Ein geistvoller und dem Geiste dienender neuer Dichter«19 – Leben und Werk Soma Morgensterns
2.1 »Ein Intellektueller und Kosmopolit«20 – Wer war Soma Morgenstern?

Salomo Morgenstern wurde am 3. Mai 1890 als jüngstes von insgesamt fünf Kindern des Gutsverwalters Abraham Morgenstern und dessen Frau Sara in einem Dorf der ostgalizischen Gemeinde Budzanów geboren. Das Dorf lag etwa fünfzig Kilometer südlich der Stadt Tarnopol am Fluß Sereth im österreich-ungarisch-russischen Grenzgebiet. Galizien gehörte seit der ersten polnischen Teilung von 1772 als Kronland zur österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie. Nach der Einnahme Lembergs durch die polnische Armee im Jahr 1918 wurde dieses Gebiet zunächst Teil des unabhängigen Polen. Heute ist nur noch der westliche Teil Galiziens polnisch. Morgensterns Heimat, das frühere Ostgalizien, fiel nach dem Zweiten Weltkrieg an die UdSSR und gehört heute zur Ukraine. Die im Anhang befindlichen Karten 1 und 2 zeigen die Situation im südöstlichen Europa um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert und die Lage der heutigen Ukraine. Sie sollen dem Leser das Gebiet, in dem Morgenstern seine Kindheit und Jugend verbracht hat, anschaulich machen.21

Morgensterns Vater, ein streng gläubiger und gelehrter Chassid, ließ seine Kinder nach den Lehren der jüdisch-orthodoxen Tradition erziehen. Ab seinem dritten Lebensjahr wurde Salomo durch einen jüdischen Hauslehrer unterrichtet, danach im Cheder.22 Der junge Salomo wuchs mehrsprachig auf. In der Familie wurde Jiddisch gesprochen. Die vorherrschenden Umgangssprachen in Ostgalizien waren Polnisch und Ukrainisch. Da Salomo von einer ukrainischen Amme großgezogen wurde, war die erste Sprache, die der Knabe sprechen lernte, Ukrainisch, so daß er zeit seines Lebens einen leichten ukrainischen Akzent behielt, gleich welche Sprache er auch erlernte. In seinen Kindheitserinnerungen, die 1995 unter dem Titel In einer anderen Zeit erschienen, beschreibt Morgenstern die Vorteile und Nachteile, die ihm diese Erziehung bereitete: »Ich habe früher vom Nachteil und vom Vorteil dieses Familienzuwachses gesprochen. Der Nachteil war, daß die erste Sprache, die ich gelernt habe, nicht meine Muttersprache, sondern die Sprache meiner Amme war, nämlich Ukrainisch. Mit dem Erfolg, daß ich sämtliche Sprachen, die ich später gelernt habe – und es sind nicht wenige –, mit einem ukrainischen Akzent sprach. Jiddisch lernte ich schon als zweite Sprache teils von meiner Mutter, teils von meiner Schwester, die die Älteste in der Familie war, um zehn Jahre älter als ich.«23 Da der Vater eine besondere Vorliebe für die deutsche Sprache hegte, ließ er seine fünf Kinder bereits vor der Schulzeit im Hausunterricht auch in Deutsch unterweisen. Daneben lernte Salomo bereits ab seinem dritten Lebensjahr die Bibelsprache Althebräisch, ein obligatorischer Bestandteil einer jeden jüdischen Erziehung. Später sollten noch Griechisch, Latein, Französisch und Englisch hinzukommen.

Gegen den erbitterten Widerstand des Vaters, der den Richtlinien der jüdisch-orthodoxen Erziehung folgend den Besuch einer weltlichen Schule ablehnte, setzte Morgenstern seinen innigsten Wunsch durch und besuchte von 1904 bis 1912 das Gymnasium in Tarnopol. Der Vater hatte sein Einverständnis zum säkularen Bildungsweg des Sohnes allerdings nur unter der Bedingung gegeben, daß dieser auch weiterhin vor der Schule am morgendlichen Gebet in einem Bethaus teilnehme und nach Abschluß des Gymnasiums Jura studieren und Richter werden würde.

Im Jahr 1908 starb Abraham Morgenstern an den Folgen eines Schlaganfalls. Der frühe und unerwartete Tod des Vaters, dem Morgenstern besondere Liebe und Verehrung entgegengebracht hatte, traf den achtzehnjährigen Salomo schwer. Zudem befand sich der junge Gymnasiast zu jener Zeit in einer Phase der Orientierungslosigkeit. Die Lektüre von Ludwig Büchners Buch Kraft und Stoff hatte ihn in eine tiefe Glaubenskrise gestürzt, ihm »zeitweise seinen Glauben genommen.«24 Die Bekanntschaft mit dem Atheismus ließ ihn an seinem Glauben zweifeln. Er vernachlässigte die morgendlichen und abendlichen Gebete. Auf der anderen Seite wirkte in ihm immer noch die tiefreligiöse Atmosphäre seines Elternhauses nach. Morgenstern selbst bezeichnet die Wirkung, die die Lektüre dieses Buches auf ihn ausübte, als »traumatisch«.25 Der Tod des Vaters verschärfte den Gewissenskonflikt des jungen Gymnasiasten noch zusätzlich. Als gläubiger Jude hätte er nach dem Vater Kaddisch, das jüdische Totengebet, sagen müssen. Da er sich selbst nicht mehr als Gläubiger empfand, wäre das Beten dem Aufsagen einer leeren Formel gleichgekommen. So suchte er in den ersten Jahren einen Mittelweg zwischen dem Atheismus und der Achtung gegenüber dem toten Vater. Erst im dritten Jahr nach dem Tode des Vaters fand er zu seinem Glauben zurück und war in der Lage, »in aller Inbrunst meiner Sohnesliebe« Kaddisch zu sagen.26

Morgensterns Verhältnis zu seinem Glauben blieb dennoch zeit seines Lebens zwiespältig. Obwohl nach jüdisch-orthodoxen Grundsätzen erzogen und in einem strenggläubigen Haushalt aufgewachsen, lebte Morgenstern als Erwachsener in Wien und später in New York assimiliert. Sein Sohn Dan schildert die Religiosität des Vaters folgendermaßen: »Mein Vater hatte eine sehr starke jüdische Identität […]. So sehr mein Vater sich auch mit dem Judentum identifizierte, hielt er sich nicht an die Rituale. […] Mein Vater wurde als Chassid erzogen, später lebte er assimiliert. Aber er blieb immer sehr an der Religion interessiert.«27 Auch Morgensterns Freund Al Hirschfeld bestätigt diesen Eindruck: »In gewisser Weise war er sehr religiös. Ich glaube, er ging nicht in die Synagoge, weil er nicht an organisierte Religion glaubte, aber er war ein bewußter Jude.«28 Morgenstern selbst äußert sich in seinem ›Amerikanischen Tagebuch‹ aus dem Jahr 1949 zu seinem Verhältnis zu Religion und Glauben: »Weil ich den ungeheuren Betrug, der mit ›Glauben‹ und ›Religion‹ getrieben wird –, immer getrieben wurde und immer getrieben werden wird – durchaus verabscheue, ja ich könnte sogar sagen: hasse. Dieser Abscheu ist so stark, daß ich, ein Gläubiger durch und durch, auch das Wort: Religion verabscheue. Gottseidank: in der Sprache der Hebräer gibt es dieses Wort gar nicht. Bei uns heißt es: Emunah = Glauben.«29 Dennoch tun sich Widersprüche auf zwischen Morgensterns tief religiösem Schreiben in einigen seiner Werke – immerhin wurden einige Passagen aus seinem Roman Die Blutsäule in ein jüdisches Gebetbuch für die Hohen Feiertage aufgenommen und zum festen Bestandteil der jüdischen Liturgie am Jom Kippur30 – und seiner assimilierten Lebensweise. Diese Widersprüchlichkeit zwischen Leben und Schreiben ist im Rahmen dieser Arbeit zweitrangig, da Morgensterns Verhältnis zu seinem Judentum in seinen ›autobiographischen Schriften‹ von sekundärer Bedeutung ist. Es wäre jedoch im Rahmen einer eigenständigen wissenschaftlichen Untersuchung und vor allem in bezug auf die Roman-Trilogie Funken im Abgrund und den Roman Die Blutsäule, in denen der jüdische Glaube eine zentrale Rolle spielt, von Interesse, diesem Widerspruch nachzugehen.

Nach Beendigung des Gymnasiums ging Morgenstern im Herbst 1912 nach Wien und nahm dort, dem Wunsch des Vaters folgend, sein Jurastudium auf. In Wien begegnete er Joseph Roth wieder, den er bereits im Jahr 1909 in Lemberg auf einer Konferenz der zionistischen Mittelschüler Galiziens kennengelernt hatte. Es entwickelte sich eine enge Freundschaft zwischen Morgenstern und dem vier Jahre jüngeren Roth. Die beiden in Wesen und Charakter so unterschiedlichen Männer verband zum einen ihr großes Interesse an Literatur, zum anderen aber auch die Liebe zu ihrer ostgalizischen Heimat. Roth stammte aus Brody, das etwa 50 km nordöstlich von Lemberg und 60 km nordwestlich von Tarnopol, nahe der damaligen österreichisch-russischen Grenze liegt.31 Beider Freundschaft sollte drei Jahrzehnte, bis zu Joseph Roths Tod im Jahr 1939, dauern.

Im Jahr 1913 wechselte Morgenstern aus unbekannten Gründen die Universität. Er ging nach Lemberg und absolvierte dort das Wintersemester 1913/14 und das Sommersemester 1914. Die politischen Ereignisse vom 28. Juni 1914 zwangen ihn zur Unterbrechung des Studiums. Überstürzt flüchtete er im August 1914 mit seiner Mutter und einer der beiden Schwestern vor den anrükkenden russischen Truppen aus der ostgalizischen Heimat und kehrte nach Wien zurück. Dort sah er sich mit einem Male mit der Situation konfrontiert, zu den Tausenden meist jüdischen Kriegsflüchtlingen aus den östlichen Grenzländern des Kaiserreiches zu gehören, mittel- und heimatlos: die erste Exilerfahrung.

In Wien schrieb sich Morgenstern erneut an der Juristischen Fakultät ein, konnte das Wintersemester 1914/15 jedoch nicht abschließen. Im Dezember 1914 wurde er zum Kriegsdienst in der österreichischen Infanterie berufen. Sein Regiment, das Tarnopoler Hausregiment I.R. No. 15, war im steiermärkischen Wildon stationiert. Ab August 1915 war das Regiment an der Ostfront im Einsatz. Er überstand den Kriegsdienst in Ungarn und Serbien unversehrt und kehrte im Januar 1918 nach Wien zurück. Drei Jahre später, im Mai 1921, schloß Morgenstern sein Studium mit der Promotion zum doctor juris ab. Von diesem Titel sollte er allerdings keinen Gebrauch machen, hatte er doch niemals ernstlich erwogen, den Beruf des Juristen praktisch auszuüben. Vielmehr hatte er die Studienjahre in Wien dazu genutzt, seinen wahren Interessen nachzugehen. Neben den obligatorischen Juravorlesungen hatte er bereits in den ersten Studiensemestern auch Vorlesungen in Literaturgeschichte und Philosophie besucht. So heißt es in Joseph Roths Flucht und Ende: »Zum Beginn des Wintersemesters 1913 trafen wir uns [Morgenstern und Joseph Roth] bei den Vorlesungen über griechische Philosophie von Professor Heinrich Gomperz, dem berühmten Verfasser des Werks: Griechische Denker.«32

Der Herausgeber Ingolf Schulte merkt zu dieser Schilderung Morgensterns an: »Im Typoskript steht: Leopold Gomperz. Morgenstern dürfte aber wohl den berühmten Gräzisten und Philosophen Theodor Gomperz, von dem das genannte Werk stammt, im Sinn gehabt haben. Der jedoch war bereits Ende August 1912 gestorben. Roth kam erst im Herbst 1913 nach Wien. So war es wohl Theodor Gomperz’ Sohn, der Philosoph Heinrich Gomperz (1873–1942); er lehrte seit 1904 als Privatdozent an der Wiener Universität und hatte im selben Jahr begonnen, sein dreibändiges Werk Die Lebensauffassung der griechischen Philosophen zu veröffentlichen. Bei ihm hatte Morgenstern schon in seinem ersten Semester, im Winter 1912/13, philosophische Prolektionen zur Ästhetik belegt, wie seine erste ›Nationale‹ (Stammrolle) für ordentliche Hörer der juristischen Fakultät aufweist.«33 Das starke Interesse an den geisteswissenschaftlichen Fächern war bei Morgenstern offensichtlich bereits sehr früh ausgeprägt und das Jurastudium von Anfang an ein eher halbherziges Unterfangen, um dem Wunsch des Vaters zu entsprechen.

Nach Beendigung des Studiums änderte Morgenstern seinen Vornamen in ›Soma‹. Welche Beweggründe ihn dazu veranlaßt haben, den ursprünglichen Namen Salomo abzulegen, ist nicht überliefert. Morgenstern hat sich in seinen Texten nie dazu geäußert. Da er sich zu diesem Zeitpunkt endgültig dazu entschlossen hatte, eine literarische Laufbahn einzuschlagen, liegt die Vermutung nahe, daß er in der zunehmend antisemitischen Atmosphäre Mitteleuropas Repressalien infolge des jüdischen Vornamens Salomo befürchtet hatte, die ihm den Einstieg in die Literaturbranche erschwert hätten. Dieser Schritt, das Ablegen des jüdischen Vornamens, ist zudem Ausdruck jener assimilierten Lebensweise, die Morgenstern im Wien der zwanziger und dreißiger Jahre und auch später in New York pflegte.

Morgenstern verdiente sich seinen Lebensunterhalt zunächst als Lehrer für schwerbehinderte Kinder.34 Er lebte zu jener Zeit »das Leben eines gemäßigten Bohémiens«, wie er es selbst in den Erinnerungen an Alban Berg nennt.35 Den fünf Jahre älteren Komponisten und Schönberg-Schüler Alban Berg lernte Morgenstern in eben jenen Jahren des Wiener Bohème-Lebens, im Herbst 1920, kennen. Es entwickelte sich eine enge Freundschaft, die 1935 durch Bergs frühen und unerwarteten Tod ein abruptes Ende fand.

Morgenstern verkehrte in diesen Jahren in den zahlreichen Kaffeehäusern, die im Wien der Nachkriegsjahre Treffpunkt vieler namhafter Literaten, Musiker und Maler waren, und nahm rege an deren intellektuellen Auseinandersetzungen teil. Durch die Freundschaft mit Alban Berg hatte er zudem im Jahr 1923 die Bekanntschaft mit Alma Mahler gemacht, der Witwe des Komponisten Gustav Mahler und geschiedenen Ehefrau des Architekten und Bauhaus-Begründers Walter Gropius. Alma Mahler pflegte freundschaftlichen Kontakt zu prominenten Größen aus Musik, Literatur, Architektur und bildender Kunst. Ihr Salon in der Elisabethstraße war Treffpunkt zahlloser Künstler und Intellektueller der Wiener Zwischenkriegsjahre. Zu dem Zeitpunkt, als Morgenstern Alma Mahler kennenlernte, war sie mit dem Schriftsteller Franz Werfel liiert, mit dem sie im Jahr 1929 ihre dritte Ehe eingehen sollte. Auch Morgenstern verkehrte in Alma Mahlers Salon und blieb ihr bis zu ihrem Tod im Jahr 1964 in enger Freundschaft verbunden.

Nach ersten literarischen Versuchen mit der Übersetzung von Stanislav Wyspiańskis Drama Sȩdziowie – Die Richter aus dem Polnischen ins Deutsche versuchte sich Morgenstern schließlich als Bühnenautor. Er verfaßte zwei Theaterstücke, für die sich allerdings keine Bühne fand und die beide unveröffentlicht blieben. Die Liebe zum Theater war bei Morgenstern bereits sehr früh geweckt worden. In den Kindheitserinnerungen beschreibt er den fahrenden Händler Jukel, der den Kindern im Dorf chassidische Geschichten vorlas. »Er [Jukel] war der erste Schauspieler, den ich als Kind erlebt habe. Er erzählte keine Geschichte. Er spielte Szenen. […] Kurzum, Jukel war, er allein, ein Volkskabarett. Ihm danke ich die erste Verführung zum Zauber des Theaters, namentlich meine Leidenschaft für die Kunst des Schauspielers.«36 Diese Leidenschaft verstärkte sich noch in den Jahren, da Morgenstern als Gymnasiast in Tarnopol lebte, wo er zunächst vorwiegend Gastspiele des jiddischen Theaters aus Lemberg besuchte. Später, »mit wachsender Leidenschaft für die Bühne«37, wie er es in den Erinnerungen bezeichnet, sah er auch Stücke polnischer und ukrainischer Wandertruppen. In seinen Erinnerungen widmet er allein vier Kapitel den Theatererlebnissen seiner Jugend, ein Zeichen dafür, wie nachhaltig ihn diese beeindruckt und geprägt haben. Resümierend heißt es dort: »Alle diese Theatererlebnisse meiner Jugendzeit habe ich in dankbarer Erinnerung. Sogar die, die ich in späteren Jahren im Wachsen der Erfahrungen und Reifen des Geschmacks als ›Schmieren‹ belächeln mußte, möchte ich nicht vermißt haben. Es waren meine Theaterlehrjahre.«38

Angesichts dieses früh geweckten Interesses für die Bühne verwundert es nicht, daß es sich bei Morgensterns literarischen Erstlingen um Dramen handelt. Sein erstes Stück, das ›Spiel in 4 Akten‹ ER oder ER, entstand in den Jahren 1921/22. Das Stück spielt vorwiegend in der Traumwelt der weiblichen Hauptfigur Elva Blinde, einer kunstliebenden Frau, wie das Personenverzeichnis Aufschluß gibt. Die von ihrem Leben an der Seite ihres Mannes, des Psychoanalytikers Dr. Richard Blinde, gelangweilte Elva träumt sich während ihrer Nachmittagsruhe in eine opernhafte Welt hinein. Dort erscheinen ihr die vom Tod für kurze Zeit auferstandenen Gestalten der Kunstfiguren Don Juan Tenorio, bekannt aus Tirso de Molinas Schauspiel Der Wüstling und Wolfgang Amadeus Mozarts Oper Don Giovanni, und der historische Giacomo Girolamo Casanova, Chevalier de Seingalt. Im Traum wetteifern die legendären Frauenhelden um die Gunst der Schlafenden: der kalt berechnende Don Juan, ein »Feldwebel der Liebe«, wie Casanova ihn im Stück abschätzig bezeichnet39, »liebesleer, doch voller Gier«, für den nur der schnelle Erfolg zählt, um die Liste der von ihm verführten Frauen um eine weitere Trophäe erweitern zu können, und der stolz von sich behauptet, keine der unzähligen Frauen je geliebt zu haben – »ich habe immer mit kalter Nadel gearbeitet«40 – und der heißblütige Casanova, »Ritter der Sehnsucht«, von nie gestillter Sehnsucht getrieben und jede einzelne seiner zahllosen Frauen inbrünstig liebend. Sie stellen Elva vor die Wahl: ER oder ER. Diese entscheidet sich für die moderne Form der Liebe: Er UND Er – denn als praktisch denkende Frau weiß sie: »Lieber zwei als keiner.«41

In der Gestalt des Ehegatten, des Psychoanalytikers Dr. Blinde, der Elvas Traum sofort fachmännisch als »erotische Traumarbeit« deutet, flicht Morgenstern einen parodistischen Seitenhieb auf die Psychoanalyse Sigmund Freuds ein, die zu jener Zeit immer größere Bekanntheit erlangte. Morgenstern stand Freud und dessen Lehre nicht so bedingungslos ablehnend gegenüber wie sein Freund Joseph Roth. Aus seinen Lebenserinnerungen geht allerdings auch hervor, daß er kein großer Verfechter oder gar Anhänger dieser neuen Wissenschaft war.

Morgensterns zweiter Bühnentext, das dreiaktige Drama Im Dunstkreis, spielt in den Wiener Künstlerkreisen zwischen den Weltkriegen. Nach eigenen Angaben hatte Morgenstern das Stück im Jahr 1924 beendet.42 In den Erinnerungen an Alban Berg findet sich auch der Hinweis, daß er sein zweites Stück ursprünglich Im Kunstkreis hatte nennen wollen. Den endgültigen Titel erhielt es erst später. Alban Berg war im übrigen so angetan von dem neuen Drama des Freundes, daß er es sogleich vertonen wollte. Dazu ist es jedoch nie gekommen, da Morgenstern mit dem Stück noch nicht vollends zufrieden war, so daß er dem Freund diese Idee ausredete. Zudem befürchtete er, als Librettist abgestempelt zu werden und infolge dessen nur noch als solcher arbeiten zu können.

Der ›Dunstkreis‹, den Morgenstern in seinem Drama beschreibt, ist das Milieu, in dem er sich zu jener Zeit selbst bewegte. Er läßt den ersten Akt des Stücks in einem Wiener Kaffeehaus spielen, einem »Künstlercafé«, so Morgensterns Regieanweisung. Mit scharfem, sarkastischem Blick zeichnet er die künstlerische Gesellschaft seiner Umgebung nach – mit all ihren moralischen und geistigen Abgründen. Der ›Glossentisch‹ repräsentiert die oberflächliche und klatschsüchtige Wiener Kaffeehausgesellschaft. Auch auf seine eigene Zunft, die der Feuilletonisten und Kritiker, wirft er einen äußerst kritischen Blick. Nicht von ungefähr heißt der im Stück vorkommende Literatur- und Theaterkritiker Willy Besser, der zudem noch die Meinung vertritt: »Ein richtiger Kritiker muß sich vor Objektivität hüten.«43 Womöglich schlägt sich bereits hier jene Unzufriedenheit mit der eigenen Tätigkeit als Journalist nieder, die wenige Jahre später zur endgültigen Abkehr von diesem Metier führen sollte. Die bitterböse Satire auf das Milieu, in dem Morgenstern sich selbst bewegte, endet tragisch mit dem Selbstmord des jungen Schriftstellers Hans Einhold, der zum Opfer der ehrgeizigen und karrieresüchtigen Bestrebungen seines älteren Liebhabers und Mentors, des bereits etablierten Schriftstellers Franz Gavor, wird. »In diesem Drama handelt es sich hauptsächlich um die Beziehung zwischen Meister und Schüler, die ein fatales Ende für den Schüler nimmt«, formuliert Morgenstern in Alban Berg und seine Idole den Plot des Dramas.44 Auch die immer stärker werdende antisemitische Stimmung dieser Zeit greift Morgenstern in seinem Stück auf. Nicht Franz Gavor wird für Einholds Tod zur Rechenschaft gezogen, sondern der Außenseiter der Gesellschaft, der Jude Gad Jahir, der nach einem der zwölf Stämme Israels benannt wurde.

Im Herbst 1926 folgte Morgenstern Joseph Roth nach Berlin, der bereits im Jahr 1920 in die Theater- und Zeitungsstadt übergesiedelt war. Morgenstern hoffte, hier bessere Möglichkeiten vorzufinden, um sich seinen Lebensunterhalt als freier Literatur- und Theaterkritiker zu verdienen. Er war zunächst als Buchkritiker für die Zeitschrift Die Literatur und für die Vossische Zeitung tätig. 1927 bekam er eine Stelle in der Kulturredaktion der renommierten Frankfurter Zeitung, für die Joseph Roth bereits seit 1923 als Feuilletonist beschäftigt war. Morgenstern siedelte zunächst nach Frankfurt über, bevor er Mitte 1928 als Kulturkorrespondent der Frankfurter Zeitung nach Wien zurückkehrte. Dort erhielt er endlich die österreichische Staatsbürgerschaft, die ihm vor seinem Berlin-Aufenthalt noch verwehrt worden war. Wie Joseph Roth lebte Morgenstern in den Jahren 1919/1920 in Wien im VIII. Bezirk. Die christlichsoziale Mehrheit in diesem Bezirk hatte beider Option auf das neue Österreich zurückgewiesen, so daß sie als Kriegsflüchtlinge bis zu diesem Zeitpunkt noch im Besitz polnischer Pässe waren.

Im September 1928 heiratete Morgenstern Ingeborg von Klenau, die Tochter des dänischen Dirigenten und Komponisten Paul von Klenau und Nichte Heinrich Simons, des Herausgebers der Frankfurter Zeitung. Beide hatten sich im Jahr 1924 im Hause Alban Bergs kennengelernt. »Mit meinem zukünftigen Schwiegervater habe ich gleich bei dieser ersten Begegnung eine scharfe Debatte über Literatur geführt – ich glaube, über Oscar Wilde. Papa Klenau war damals schon von seiner ersten Frau geschieden, und zum Beginn unserer Bekanntschaft hat er ein Jahr lang es gern gesehen, daß ich mit seiner ältesten Tochter in Verbindung blieb.«45 Knapp ein Jahr später, im Oktober 1929, kam beider Sohn Dan Michael zur Welt. Es sollte Morgensterns einziges Kind bleiben.

In Wien pflegten die Morgensterns einen ausgedehnten Freundeskreis, der sich in erster Linie aus den namhaften Wiener Künstlerkreisen der zwanziger Jahre rekrutierte. Zu Morgensterns engsten Freunden dieser Jahre gehörten neben Alban Berg und Joseph Roth die Komponisten Karol Rathaus, Eduard Steuermann und Hanns Eisler, der Rezitator Ludwig Hardt sowie der Schriftsteller Robert Musil. Daneben war er mit dem Schönberg-Schüler Anton Webern, den Dirigenten Otto Klemperer und Jascha Horenstein, dem Wiener Architekten Josef Frank und dem aus Melník bei Prag stammenden Journalisten Karl Tschuppik bekannt. Zudem verkehrten die Morgensterns häufig bei Anna Mahler, der Tochter Gustav Mahlers, deren Wohnatelier ebenfalls ein Treffpunkt für zahlreiche Wiener Künstler war.

Auch wenn dies nur ein kurzer Einblick in den Freundes- und Bekanntenkreis ist, den Morgenstern während seiner Wiener Jahre pflegte, so ist er dennoch repräsentativ und ein Zeichen für Morgensterns reges Interesse am kulturellen Leben seiner Zeit. Er zeigt zudem, daß sich der Freundeskreis aus den unterschiedlichsten, zumeist künstlerischen Kreisen zusammensetzte. Auf der Liste der eben genannten Namen, die keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, finden sich neben Journalisten und Schriftstellern auch Komponisten, Dirigenten und bildende Künstler. Dementsprechend breitgefächert war auch Morgensterns Einblick in die künstlerischen und intellektuellen Strömungen seiner Zeit.

Anfang der dreißiger Jahre ließ Morgensterns journalistisches Interesse zunehmend nach. In Joseph Roths Flucht und Ende beschreibt er den Sinneswandel jener Zeit folgendermaßen: »Drei Jahre später hatte ich so genug davon [von seiner Tätigkeit als Theaterkritiker in Wien], daß ich eines Tages beschlossen habe: Ich habe es satt, über etwas zu schreiben. Wenn ich nichts andres kann, wenn ich nicht etwas schreiben kann, werde ich mich auf meine Juristerei gutbürgerlich zurückziehen.«46 So weit kam es allerdings nicht

Seitdem Morgenstern dem Weltkongreß der Vereinigung orthodoxer Juden, ›Agudas Yisroël‹, im September 1929 als Beobachter im Auftrag der Frankfurter Zeitung beigewohnt hatte, trug er sich mit dem Gedanken, das Erlebnis dieses Kongresses in einem Roman zu verarbeiten. Im Jahr 1930 machte er sich an die Umsetzung dieses Vorhabens. Er begann mit der Arbeit an seinem ersten Roman, den er bereits jetzt als Auftakt einer Trilogie konzipierte. Nachdem Morgenstern durch den sogenannten Arierparagraphen des NS-Schriftleitergesetzes vom 4. Oktober 1933, der Juden von Presseberufen ausschloß, seinen Posten bei der Frankfurter Zeitung verloren hatte, beschloß er, sich gänzlich der Schriftstellerei zu widmen. Die Arbeit an seinem ersten Roman wurde jedoch durch die bürgerkriegsähnlichen Unruhen im Februar 1934 unterbrochen, bei denen sämtliche Organisationen der Sozialdemokratie und der freien Gewerkschaften in Österreich durch die autoritäre Regierung Dollfuß ausgeschaltet wurden. Morgenstern beschloß, seinem Freund Joseph Roth ins Exil nach Paris zu folgen: die zweite Exilerfahrung.

Die Angst vor einer Verhaftung war nicht unbegründet. In der Frankfurter Zeitung waren im Vorfeld der Unruhen einige Angriffe Morgensterns gegen die Vorbereitungen des Februarputsches veröffentlicht worden, die ihn ins Visier der Nationalsozialisten gerückt hatten. Vornehmlich sein Artikel ›Worte fallen in den Herbst der Wahlen‹, der am 25. Oktober 1930 in der Frankfurter Zeitung erschienen war, erregte ihre Aufmerksamkeit und trug ihm ›die Ehre‹ ein, »auf die Schwarze Liste der Nazis zu kommen«, wie er in den Erinnerungen an Joseph Roth schreibt.47 Morgenstern beschreibt in diesem Feuilleton unter dem Motto ›Nationalsozialisten werden betrachtet‹ zwei junge Nazis, die auf dem Wiener Ring zu Propagandazwecken flanieren: »Dem hübschen, noch jüngeren Jungen saß das Braunhemd wie eine Haut am Leibe. (Gibt es Braunhemden nach Maß?) Das große Hakenkreuz blühte ihm wie die Blume einer exotischen Krankheit am Arm. Als sei er für die Politik schwer geimpft worden, ein Pockenträger des Hitlerheils. […] Ein Dunst knabenhaft rührender Eitelkeit spiegelte er sich in seiner unformierten Gefälligkeit, ein kleiner Narziß von einem Nazi: ein lieblicher Nazi!«49


Abb. 2: Soma Morgenstern, Zeichnung von Bil Spira 1939 48

Morgenstern erfuhr durch seinen Freund Karol Rathaus, daß sein Name auf die Schwarze Liste gesetzt worden war. Er nahm die Nachricht nicht allzu ernst. Daß er nur durch einen glücklichen Zufall den Fängen der Gestapo entgangen war, sollte er erst im Jahr 1940 in Marseille erfahren: »Eines Tages, im Jahre 1940, wurde ich zur Polizeipräfektur vorgeladen, und der Beamte tat so, als ob er sich um mein Schicksal kümmerte und mein Dossier studierte. Plötzlich und ohne mich anzublicken, so nebenbei, stellte er mir die Frage: ›Monsieur Morgenstern, vous conaissez par hasard une Madame Sonia Morgenstern?‹«50 Die Gestapo hatte Morgenstern fälschlicherweise als Frau Sonia Morgenstern in ihre Liste eingetragen. Ein Irrtum, der ihm das Leben gerettet hat.

Im Pariser Exil vollendete er noch im gleichen Jahr seinen ersten Roman Der Sohn des verlorenen Sohnes, der den Auftakt zu der Trilogie Funken im Abgrund bildete. Die Vollendung dieser Trilogie wurde jedoch durch die auf Europa einstürzenden politischen Ereignisse immer weiter hinausgezögert, so daß Morgenstern den dritten und letzten Teil erst Anfang der vierziger Jahre in Hollywood fertigstellen konnte. Im Mai 1934 hatte sich die politische Lage in Österreich unter dem neuen Regime soweit stabilisiert, daß Morgenstern an eine Rückkehr nach Wien denken konnte. Ihm schien keine direkte Gefahr mehr zu drohen. Zudem konnte er auf einflußreiche Freunde vertrauen, die ihn zunächst vor dem Zugriff der Heimwehrführer schützen konnten. Morgenstern zog es zurück an seinen Schreibtisch, der, wie er in Joseph Roths Flucht und Ende schreibt, »in meinem bisherigen Leben der einzige Schreibtisch [war], vor dem ich gerne saß. Es zog mich zu ihm hin mit einer Kraft, als hätte ich schon eine Ahnung, daß dieser Schreibtisch auch der letzte sein wird, von dem ich das behaupten kann.«51

₺786,24