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Pont du Gard
Vers-Pont-du-Gard

Diese Aquäduktbrücke ist nicht nur eine der besterhaltenen ihrer Art, sie ist zugleich das größte römische Bauwerk, das man in Südfrankreich besichtigen kann – der Pont du Gard, benannt nach dem Fluss, der unter ihm hindurchfließt (auch wenn dieser heute „Gardon“ heißt und nicht mehr „Gard“). 275 m lang ist die Brücke, deren Wasser­leitung einst Nemausus (Nîmes) mit 20 Millionen Litern Wasser pro Tag versorgte. Bis ins Frühmittelalter wurde der Aquädukt als solcher genutzt, später dann zur Straßenbrücke umfunktioniert. Was der berühmte Aufklärer Rousseau im 18. Jh. in seinen „Bekenntnissen“ eindrucksvoll beschreibt, gilt heute nicht weniger: Wer unter dieser Brücke steht, die so hoch ist wie ein 15-stöckiges Gebäude, kann kaum anders als in Ehrfrucht vor der Baukunst der alten Römer zu erstarren, die selbst einem doch eigentlich alltäglichen „Gebrauchsgegenstand“ wie einer Leitung zur Versorgung der Bevölkerung mit Wasser etwas Erhabenes zu verleihen vermochte. Und dann die Nerven mit einem Schluck Evian, Perrier oder Volvic zu beruhigen.


Aus: Jean Jacques Rousseau,

Rousseau’s Bekenntnisse (1765)

Jean Jacques Rousseau (1712–1778)

war Philosoph und Pädagoge; er gilt als der bedeutendste Vertreter der ­französischen Aufklärung und einer der geistigen Väter der Französischen Revolution. Seine Bekenntnisse gelten als Geburtsstunde der modernen Autobiografie.

Ich beendete meine Reise, während ich sie in der Erinnerung noch einmal durchmachte, und jetzt sehr zufrieden, in einem guten Wagen zu sitzen, weil ich mit noch größerem Behagen von den genossenen Freuden und denen, die mir verheißen waren, träumen konnte. Ich dachte nur an Saint-Andiol und an das reizende Leben, das meiner dort wartete; ich sah nur Frau von Larnage und ihre Umgebung; das ganze übrige Weltall war für mich nichts, selbst Mama war vergessen. Ich beschäftigte mich damit, in meinem Kopfe alle die Einzelheiten zusammenzustellen, in welche mich Frau von Larnage eingeweiht hatte, um mir im voraus eine Vorstellung von ihrer Wohnung, ihrer Nachbarschaft, ihrem Verkehrskreise, ihrer ganzen Lebensweise zu geben. Sie hatte eine Tochter, von der sie mir sehr oft wie eine blind eingenommene Mutter erzählt hatte. Diese Tochter stand im sechszehnten Jahre, war lebhaft, reizend und von liebenswürdigem Charakter. Man hatte mir versprochen, ich würde von ihr auf Händen getragen werden, und ich war sehr neugierig mir vorzustellen, wie Fräulein von Larnage den guten Freund ihrer Mama behandeln würde.

Das waren die Gegenstände meiner Träumereien von Pont-Saint-­Esprits bis nach Remoulin. Man hatte mich zur Besichtigung des Pont du Gard aufgefordert, was ich nicht zu thun verabsäumte. Nachdem ich einige vorzügliche Feigen zum Frühstück gegessen hatte, nahm ich mir einen Führer und machte mich auf den Weg, mir den Pont du Gard anzusehen. Es war das erste Römerwerk, das ich sah. Ich hatte erwartet, ein Baudenkmal zu sehen, würdig der Hände, die es errichtet hatten. Aber dieses Werk übertraf meine Erwartung, und das war das einzige Mal in meinem Leben. Die Römer allein waren im Stande, eine solche Wirkung hervorzubringen. Der Anblick dieses einfachen und großartigen Werkes überwältigte mich um so mehr, weil es inmitten einer Einöde liegt, wo die Stille und Einsamkeit das Werk großartiger erscheinen lassen und die Bewunderung um so lebhafter machen, denn diese sogenannte Brücke war nur eine Wasserleitung. Man fragt sich, welche Macht diese ungeheuren Steine, so weit von jedem Steinbruch entfernt, hierher geschafft und die Arme von so vielen Tausenden von Menschen in einer unbewohnten Gegend zusammengebracht hat. Ich durchstreifte die drei Stockwerke dieses großartigen Gebäudes, auf welches die Ehrfurcht mir beinahe die Füße zu setzen verbot. Der Wiederhall meiner Schritte unter diesen unermeßlichen Gewölben kam mir wie die gewaltige Stimme ihrer Erbauer vor. Ich verlor mich wie ein Insekt in dieser Unermeßlichkeit. Ich hatte, so klein ich mich auch machte, ein eigenthümliches Gefühl, das mir die Seele erhob, und seufzend sagte ich zu mir: „Ach, daß ich nicht als Römer geboren bin!“

Mehrere Stunden blieb ich dort in einer entzückenden Betrachtung. Ich kehrte zerstreut und träumerisch von dort zurück, und diese Träumerei war der Frau von Larnage nicht günstig. Sie hatte wohl daran gedacht, mich gegen die Mädchen von Montpellier zu schützen, aber nicht gegen den Pont du Gard. Man denkt nie an alles.

ITALIEN

Bald danach saß der Kaiser mit seiner Gefolgschaft in den goldblinkenden Sätteln. Zehn riesige Fackeln warfen ihr unruhiges Licht über das schweigsame Forum – bis hinauf zu den Zinnen des Kapitols. Flammrot bestrahlt, ragten die Säulen des Saturnus­tempels und die düsteren Gemäuer des mamertinischen Kerkers zum wolkigen Himmel auf.

Ernst Eckstein, Nero (1897)


Concordiatempel
Agrigent

Im Valle dei Templi bei Agrigent kann man eine ganze Reihe atemberaubender Tempel entdecken, die zu einer Zeit entstanden, als Sizilien griechische Kolonie war. Der erstaunlichste unter ihnen ist der Concordia­tempel, irrtümlich benannt nach der römischen Göttin der Eintracht (es gibt Hinweise darauf, dass er eigentlich Kastor und Polydeukes geweiht war). Heute ist er einer der besterhaltenen griechischen Tempel überhaupt. Der knapp 40 x 17 m große Bau stammt aus der zweiten Hälfte des 5. Jhs. v. Chr. Seinen guten Erhaltungszustand verdankt er wohl v. a. der Tatsache, dass er Ende des 6. Jhs. vom Agrigenter Bischof in eine christliche Kirche umgeweiht wurde. Die darauf folgenden Umbauten sind inzwischen rückgängig gemacht worden, die letzte Restaurierung fand 2007 statt. Der Königsberger Historiker Ferdinand Gregorovius beschreibt den Tempel im 19. Jh. in einer Detailverliebtheit, die heutigen Beschreibungen, wie sie sich vor allem in Reise­führern finden, leider komplett abgeht. Man spürt in jeder Zeile das Bemühen, den Gegenstand Lesern nahezubringen, die vermutlich niemals das Glück haben werden, ihn sich im Original anzusehen.


Aus: Ferdinand Gregorovius,

Wanderjahre in Italien (1877)

Ferdinand Gregorovius (1821–1891)

war ein deutscher Historiker und gilt als einer der größten Mittelalter-

Fachleute seiner Zeit. Für sein Werk über die mittelalterliche Geschichte Roms wurde er als erster Protestant mit der römischen Ehrenbürgerschaft ausgezeichnet.

Es folgt auf den Junotempel der wohlerhaltene Tempel der Concordia. Auch er liegt auf einem Hügel in malerischer Umgebung von dürrem, rotbraunem Gestein, von Trümmern und üppigem Wuchs der Kaktusbäume. Bis auf das Dach, welches fehlt, ist er vollständig, mit beiden Fronten und allen seinen Säulen. Gleich dem Junotempel steht er auf vier Stufen; auch er hat einen Portikus von 34 Säulen in derselben Verteilung, so daß der Prospekt 6, die Seiten 13 zählen. Sie haben 20 Kannelierungen und eine Höhe von 6,83 m, 1,27 m im Durchmesser. Die Länge des Baues beträgt 42,12 m, die Breite 19,68 m, das ganze Gebälk hat eine Höhe von 2,98 m, so daß der Fries fast um 0,25 m höher ist als der Architrav. Es blieb also der Tempel durch die Karthager unzerstört und widerstand siegreich allen Unbilden der Zeit. Seine wohlerhaltene Herrlichkeit lockte im Mittelalter das Christentum, ihn zur Kirche zu benutzen, und so wurde sein Verfall glücklich abgewendet. Die Zelle schuf man im 15. Jahrhundert zu einer Kapelle um, welche dem heiligen Gregorio delle Rape, Bischof von Girgenti, geweiht wurde. Damals brach man in die Seitenwände derselben die zwölf Bogen ein, die man noch heute sieht, und die, weil sie in einem dorischen Tempel widersinnig sind, diejenigen beirren, welche von ihrem Ursprung nichts wissen. Später wurde die Kirche verlassen, und im Jahr 1748 stellte der Prinz Torremuzza den Tempel wieder her. Fazello hat ihm den Namen Concordia beigelegt, mit welchem ein dorisches Heiligtum nichts zu tun hat; er wurde dazu durch eine lateinische Inschrift verleitet, die man dort vorfand. Unter allen Tempeln Italiens und Siziliens hat kein einziger die Zelle so ganz erhalten wie dieser; denn sogar bis auf die Treppen, welche an ihrem östlichen Eingang auf das Dach führen, ist jeder Teil stehengeblieben und gibt nun ein vollkommenes Bild des dorischen Tempelbaus.

Es ist überhaupt der vollständigste und herrlichste Tempel Siziliens, denn jener von Segesta, dessen Portikus und Fronten gleichfalls erhalten sind, ward doch nicht vollendet, da sich keine Spur von einer Zelle auffinden läßt und die Säulen noch ohne Kannelierung sind. Die majestätischen braunen Säulen, basenlos, mäßig verjüngt, die weitausladenden Kapitäle, die schönen Verhältnisse des Gebälks, welches den Schmuck seiner Triglyphen ganz bewahrt hat, die einfache Größe der Architektur, bringen den reinsten Wohllaut hervor. Und wohl zeigt der dorische Bau, die schönste architektonische Form des Altertums überhaupt, nicht minder anschaulich, als es Plastik und Poesie vermögen, welche klare Kraft und Harmonie in der Seele des griechischen Volkes lebte, weil es imstande war, diese einfachsten architektonischen Gesetze zu finden. Man kann sich beim Anblick eines dorischen Tempels nicht der Betrachtung enthalten, in welchen großen und einfachen Rhythmen sich überhaupt das Leben der Griechen bewegt haben muß, wenn eben die gesamte natio­nale Empfindungsweise, die jedes Volk am allgemeinsten und sichtbarsten in der religiösen Architektur ausspricht, sich in solcher Gestalt darstellen durfte. Wir verstehen diese Harmonie, welche so einfach ist wie ein geometrisches Grundverhältnis, sehr wohl, aber das volle Gefühl ihres innern Zusammenhangs mit dem Wesen des Volks selbst können wir nicht mehr besitzen. So wenigstens glaube ich, daß der christliche Tempel von Monreale, das schönste Gegenbild dieses Concordiatempels, in seinem Zusammenhange mit den Lebensformen des Mittelalters uns viel lebendiger und begreiflicher erscheinen muß. Hätte Sizilien nichts mehr als diese beiden Gebäude, die Denkmäler oder Repräsentanten zweier großer Kulturen, so würde es schon um ihretwillen eins der merkwürdigsten Länder sein. Der dorische Tempel ist das leibhafte Abbild der strengen griechischen Weltordnung und ihrer tragischen Notwendigkeit; aller Zufall wie alles Phantastische ist von dieser ernsten Form abgeschieden, deren majestätische Einheit nicht zersplittert werden darf; kein vorwiegend malerisches Prinzip kommt zur Herrschaft, noch irgend Aufwand von Zeichnung, noch Spiel mannigfaltiger Gebilde. Dies gibt erst das christliche Gemüt vollständig frei und breitet sich malerisch in Arabesken und Mosaiken und Steinfigurenwerk jeder Art aus. Der dorische Tempel ist schmucklos bis auf die Triglyphen und die Skulpturen in den Metopen und Giebelfeldern, bis auf die schöne und einfache Zeichnung von Blättern und Mäandern am Gesimse; doch entbehrt er nicht der polychromen Malereien, deren Anwendung man in vielen Tempeln Siziliens nachweisen kann. Was endlich kann schmuckloser sein als die basenlose dorische Säule, deren ernstes und mächtiges Kapitäl imposanter wirkt als die späteren Formen ionischen und korinthischen Stils. Es scheint mir der dorische Tempel sehr charakteristisch für die ernste Natur Siziliens und für ein Land, welches eine nationale Begabung für die strenge Wissenschaft der Mathematik besaß.


Olympieion
Agrigent

Neben dem Concordiatempel, einem der besterhaltenen griechischen Tempel, hat das Valle dei Templi bei Agrigent noch einen weiteren Superlativ zu verzeichnen: Der Tempel des olympischen Zeus, kurz: Olympieion, war der weltgrößte Tempel im dorischen Stil und belegt Platz 2 der größten griechischen Tempel überhaupt. Um 480 v. Chr. begann die Errichtung des 113 x 56 m großen und 20 m hohen Gebäudes. Auch wenn es niemals ganz fertiggestellt wurde und heute nur mehr ein Trümmerhaufen zu besichtigen ist, so geben doch immerhin die Überreste eines sogenannten Telamon im Museum von Agrigent – einer der Atlas-Figuren, die auf halber Höhe zwischen den Säulen an der Außenfassade angebracht waren und das Tempeldach zu tragen schienen – einen Eindruck von der enormen Größe des Bauwerks; allein diese Atlanten waren 7,50 m hoch. Noch vor den ersten systematischen modernen Ausgrabungen im „Tal der Tempel“ in den 1830er-Jahren erhielt Goethe von seinem Freund Leo von Klenze ein Gemälde geschenkt, das eine Rekonstruktion des Olympieion zeigte und für das er sich per Brief bedankte; noch heute streitet sich die Forschung, wie der Tempel nun genau aussah, und wenn man die Stätte besucht, bietet sich einem leider immer noch das gleiche Bild wie Goethe – „ein mißgestaltetes Chaos“ durcheinandergewürfelter Säulenfragmente. Doch immerhin vermag der gefundene Telamon (dessen Nachbildung an Ort und Stelle liegt) einem ein vages Gefühl der alten Größe zu vermitteln.


Brief Johann Wolfgang von Goethes

an Leo von Klenze (3. Mai 1828)

Johann Wolfgang von Goethe (1749–1831) war der bekannteste ­Vertreter der Weimarer Klassik und gilt vielen als bedeutendster deutscher Dichter schlechthin. Seine Reise nach Italien 1786–88 verewigte er literarisch und gab so wichtige Anstöße für die Beschäftigung mit der Antike.

Für das früher angekündigte und in diesen Tagen angekommene, höchst erfreuliche Bild habe meinen Dank zu beeilen alle Ursache.

Gar wohl erinnert es mich lebhaft an jene Zeiten, wo ich in Gegenwart dieses herrlichen Meers und Ufers, in der Nähe solcher niedrigen Hütten, durch viele Zäune durchbrechend, eine ganze Reihe kleiner Besitzungen durchschreiten und endlich nach vollendetem Überklettern eines unebenen Bodens mir selbst bekennen mußte, daß wenig gesehen und nichts gewonnen sey. Der tiefen Canneluren erinnere ich mich noch, ingleichen des breiten Triglyphen, wie ich ihn mit meinen Gliedern ausmaß; von menschlicher oder thierischer Gestalt hingegen war keine Spur, auch nicht die mindeste Annäherung an einen Begriff von Größe und Raum, so daß alles bis ganz neuerlich mir als ein mißgestaltetes Chaos vor der Seele lag.

Aufräumungen und Reinigung sind geschehen, Entdeckungen gemacht, Altes bestätigt, Neues gefunden, davon mir auch einige Kenntniß zugegangen; aber das Wünschenswertheste leistet denn doch das mir so freundlich-geneigt übersendete Bild, das auf eine wundersame und gleichsam magische Weise als lakonisches Fragment den Tempel, wie er möchte gestanden haben, zugleich mit seiner Umgebung in der Einbildungskraft hervorruft.

Der so glücklich in dem geschmackvollen Ganzen restauriert aufgestellte Koloß gibt der mächtigen Ruine eine ganz originelle Anmuth. Die kunstreiche Anordnung, die sorgfältigste Ausführung werden durchaus anerkannt, auch erlauben sie die Weimarischen Kunstfreunde, nächstens von ihrer Dankbarkeit ein unzweydeutiges Zeugniß abzulegen.



Caracallathermen
Rom

Eine der größten zivilisatorischen Leistungen des alten Rom waren die Thermen. Öffentliche Badeanstalten mit Kalt- und Warmwasserbecken, saunaähnlichen Schwitzsälen, Räumlichkeiten für Sport und Entspannung, geradezu Tempel zur Körperpflege und Wellness. Die heute noch am besten erhaltene der drei größten, nach Kaisern benannten Thermenanlagen sind die Caracallathermen. 206 n. Chr. ließ Kaiser Septimius Severus den riesigen Bau beginnen, abgeschlossen wurde er (mit Ausnahme kleinerer Anbauten) etwa 216/17, zur Zeit des Caracalla. Die über 100.000 m2 große Anlage mit Sälen „von übertriebener und unerklärlicher Weite und Höhe“, wie Émile Zola treffend schreibt, bot den Besuchern nicht nur mehrere Schwimmbecken, sondern auch eine Bibliothek, Konferenzräume, diverse Friseure, Masseure, ruhige Gärten und noch einiges andere. Mehrere tausend Besucher verzeichneten die mit kunstvollen Mosaiken, teurem Marmor und zahlreichen Statuen geschmückten Thermen – täglich. Das Ganze funktionierte nur aufgrund der fortschrittlichen Technologien in der Wasseraufbereitung und Heizungstechnik; so waren ständig mehrere Dutzend Sklaven damit beschäftigt, die großen Heizöfen zu betreiben, die das Wasser erwärmten. Bis ins 6. Jh. waren die Caracallathermen in Betrieb, dann setzten die Goten dem Vergnügen ein Ende: Die Wasserleitung, die die Thermen versorgte, fiel ihrer Zerstörungswut zum Opfer. Was bleibt, sind gewaltige Ruinen und eine ganze Reihe Statuen, nicht zuletzt der berühmte „Farnesische Stier“, die größte erhaltene antike Statuengruppe (heute im Nationalmuseum in Neapel).


Aus: Émile Zola, Rom (1896)

Émile Zola (1840–1902) war ein französischer Journalist und Romancier. Er gilt als Leitfigur des literarischen Naturalismus. Viele seiner die Umwelt genau beobachtenden Romane gehören zu einem 20-bändigen Zyklus über die Geschichte der Familie Rougon-Macquart. Sein größter Erfolg war Nana (1880).

Aber gegen Südosten erweiterte sich der Horizont und er bemerkte jenseits des Titusbogens und des Konstantinbogens die große Masse des Kolosseums. Ah, dieser Koloß, von dem die Jahrhunderte wie mit einem ungeheuren Sensenhieb nur die Hälfte abgerissen haben, bleibt in seiner Ungeheuerlichkeit, in seiner Majestät bestehen! Mit seinen Hunderten von leeren, in das Himmelsblau gähnenden Fenstern gleicht es einer Spitze aus Stein. Es ist eine Welt von Vorhallen, Treppen, Treppenabsätzen, Korridoren, eine Welt, in der man sich inmitten der Einsamkeit und der Stille des Todes verliert. Im Innern gleichen die zerbrochenen, von der Lust verwitterten Stufen den ungestalteten Staffeln eines alten, erloschenen Kraters, einer Art natürlichem Zirkus, den die Macht der Elemente mitten in den unzerstörbaren Felsen geschnitten. Aber die heiße Sonne von achtzehnhundert Jahren hat diese Ruine verbrannt und rot gefärbt; sie ist, seit sie ihrer Vegetation, der ganzen Flora beraubt wurde, die diesen Winkel zu einem Stück Urwald machte, in den Naturzustand zurückgekehrt, ist nackt und vergoldet wie die Flanke eines Berges. Und nun, was für eine Vision, wenn die Phantasie dieses tote Knochengerüst wieder mit Fleisch, Blut und Leben bekleidet, den Zirkus mit den neunzigtausend Zuschauern füllt, die er fassen konnte, die Arenaspiele und Kämpfe vorüberziehen läßt und eine ganze Zivilisation, vom Kaiser und seinem Hof bis zu dem hohlen See der Plebs in all der Erregung und dem Glanz eines ganzen, von Leidenschaft entstammten Volkes unter dem roten Widerschein des gigantischen Purpurvelums zusammenhäuft! Weiterhin am Horizont befand sich noch eine zweite cyklopische Ruine, die Thermen des Caracalla; auch sie sind als Spur einer von der Erde verschwundenen Rasse von Riesen übrig geblieben. Da sind Säle von übertriebener und unerklärlicher Weite und Höhe, zwei Vorhallen, in denen man die Bevölkerung einer Stadt empfangen kann, ein Frigidarium, dessen Becken auf einmal fünfhundert Badende aufnehmen konnte, ein Tepidarium, ein Caldarium von gleichem Umfang, der Sucht nach dem Ungeheuerlichen entsprossen. Und die erschreckende Masse des Monumentes, die Dicke der Pfeiler, wie keine Festung ihresgleichen hat – diese ganze Unendlichkeit, in der die Besucher wie verirrte Ameisen aussehen! Es ist ein so außerordentliches Schwelgen in Mörtel und Ziegeln, daß man sich fragt, für welche Mengen dieses ungeheuerliche Gebäude wohl erbaut worden sein mochte, heutzutage könnte man sie für uralte, von irgend einer Höhe herabgestürzte Felsen halten, die hier zum Baue einer Titanenwohnung zusammengehäuft wurden.

Pierre wurde von der maßlosen Vergangenheit, in der er nun untertauchte, überwältigt. Von allen Seiten, von allen vier Richtungen des ungeheuren Horizontes wurde die Geschichte wieder lebendig und stieg wie eine überschäumende Flut zu ihm auf. Diese bläulichen, unabsehbaren Ebenen im Norden und Osten, das war das alte Etrurien; im Westen zeichneten sich die zackigen Kämme des Sabinergebirges ab, während gegen Süden das Albanergebirge und Latium sich unter dem Goldregen der Sonne ausdehnten. Auch Alba Longa war da, und der eichengekrönte Monte Cavo mit seinem Kloster, das den alten Jupitertempel ersetzt hat. Dann, zu seinen Füßen, jenseits des Forums, jenseits des Kapitols breitete sich Rom selbst aus. Gegenüber lag der Esquilin, zu seiner Rechten der Coelius und der Aventin; die anderen, die er nicht sehen konnte, der Quirinal, der Viminal, befanden sich links, hinter ihm, am Ufer des Tiber, lag der Janiculus. Und die ganze Stadt erzählte ihm einstimmig die Geschichte ihrer toten Größe.


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Litres'teki yayın tarihi:
23 aralık 2023
Hacim:
255 s. 109 illüstrasyon
ISBN:
9783943904277
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