Kitabı oku: «Kirche im freien Fall»
Cristina Fabry
Kirche im freien Fall
Kurzkrimis 2020
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Wut
Isebel – ein Ultrakurzkrimi
Ouroboros
Blutige Erben
Prophet
Epilog in der Hölle
Alles Wurst
Ziel unbekannt
Die zehnte Plage
Eremit
Schmerz
Verzweifelte Suche - Ein Antikrimi mit Peter Margo
Christenverfolgung – ein Goedereede-Krimi
Pest
Feuer!
Mitten ins Herz – eine Zufallsgeschichte aus erwürfelten Begriffen
Quarantäne – Kurzkrimi in 8 Teilen
Misanthropie
Maschinensturm
Einfach drauflos
Brüder
Fleisch
Mamma
Mammographie-Tagebuch
Bildbetrachtung
Hydra – fast nur ein Plot
Ende offen
Strafprediger gerichtet
Sehnsuchtsort
Wahlkampf
Schuld
Streit
Spinner
Dumm gelaufen
Hahn im Korb
Cliffhanger – Auftakt einer längeren Geschichte
Sabotage - eine Peter-Margo-Geschichte
Vergebung
Gebrauchsanweisung
Macht
Im freien Fall
Ungelebtes Leben – oder ein Motiv
Videokonferenz mit Katze
Seelenlos
Besitzstandswahrung
Impressum neobooks
Wut
Am Anfang war das Wort. Ganz leise, unausgesprochen, mehr so ein Gefühl.
„Das gibt‘s doch gar nicht! Und so was von Kirche! Da hört sich doch alles auf! Machen die einfach ein Konfirmanden-Event im Möbelhaus, ohne das vorher anzumelden, und dann steht mein Kind draußen in der Kälte, einfach vor die Tür gesetzt, nur weil diese Orgelpfeifen nicht anständig planen können. Sollte man alle rausschmeißen. Schmarotzerpack!“
Und das Wort war nicht mehr bei Gott. Gott war auch nicht das Wort, es war ein böses Wort. Ein Scheißgefühl.
„Ekelhaft, wenn die Weiber ihre blutenden Windeln einfach so in den Hausmüll meiern. Gibt doch extra diese Papiertüten dafür. Drecksweiber, widerliche! Und der Küster macht auch nix, die Sau!“
Alles Elend ist durch dasselbe gemacht und ohne dasselbe ist kein Elend gemacht, was entstanden ist.
„Diese beschissene Pastorin! Der würde ich am liebsten büschelweise die Haare ausreißen. Als wenn irgendjemand sonst den Verkündigungsengel besser spielen könnte als meine Joelina. Immer wird sie nach hinten gedrängt und die Kinder von Borchardts und Vennebecks haben jedes Mal Hauptrollen. Ist doch eh alles abgekartet, stecken alle unter einer Decke!“
In ihm war das Streben. Und das Streben war die dunkle Last der Menschen.
„Kein Ave Maria bei der Trauung? Hallo? Wessen Hochzeit ist das eigentlich? Dass die Pastöre mit ihren vorsintflutlichen Vorstellungen einem einfach jede Party im Leben versauen müssen. Als ob das irgendeinen interessiert, dass man in der Evangelischen Kirche nicht zu Maria betet. Will ja auch keiner beten. Wir wollen doch einfach nur ergreifende Musik, wenn Blumen streuen und Reis werfen schon verboten sind. Wenn das alles über die Bühne ist, trete ich aus. Spätestens nach der Kindstaufe. Sollen sehen, wo sie ihre Steuern herkriegen. Wenn sie ihre Pastöre nicht mehr bezahlen können, weht hier endlich mal ein anderer Wind!“
„Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat‘s nicht ergriffen.“ (Johannes 1, 5)
„Kirche ist wirklich der allerletzte Vermieter! Schaffen es noch nicht einmal einen Parkplatz für Anwohner frei zu halten. Überall stellen diese fußfaulen Weiber ihre bonbonfarbenen Knutschkugeln ab und ich muss meinen Großeinkauf ‘n halben Kilometer um den Block schleppen. Abschleppen lassen müsste man die, damit sie es endlich lernen!“
Und die Dunkelheit dringt in alle Ritzen, ergreift Besitz von jedem und die Macht über alle.
„Jetzt ist es also amtlich. Ich habe ja schon immer gewusst, dass der ein krummer Hund ist. Wie der schon immer rumläuft. Und wie der redet, als käme er direkt aus der Gosse. Und so einen hat man nun jahrelang auf Kinder losgelassen. Dem zeigen wir es jetzt. Der kriegt hier nie mehr ein Bein an die Erde.“
„Unfassbar. Dass der jahrelang damit durchgekommen ist. Wer weiß an wie vielen der sich am Ende vergangen hat. Immer schön auf Freizeiten gefahren und die kleinen Mädchen nachts am Strand verführt. Hat er wohl nicht mit gerechnet, dass mal eine auspackt. Jetzt kriegt er die Packung. Und nicht nur eine.“
Vor dem Gemeindehaus zogen die düsteren Gestalten immer engere Kreise um den Eingangsbereich. Hier war kein Entkommen mehr für den, dessen sie habhaft werden wollten. Trotz der farblichen Vielfalt ihrer Walkmäntel und Funktionsjacken stockten sie langsam zu einer graubraunschwarzen homogenen Masse, denn die Finsternis ihrer versteinerten Mienen breitete sich rauchschwadengleich über ihnen aus. Sie waren die selbst beflügelten Racheengel mit der flammenden Rosenschere, dem donnernden Dachdeckerhammer, dem zornglühenden Gemüsemesser. Einige hatten sogar Fackeln dabei und wussten selbst nicht warum. Sie waren nur noch geballte Wut. Es hatte sich herumgesprochen in der Gemeinde, Rüdiger, der bärig-väterliche Diakon mit dem athletischen Kreuz und den hellbraunen Samtaugen war einer von diesen Subjekten. Lisa-Marie war am Samstag spät aus seinem Haus getreten, das Gesicht voller Tränen, ihre Lippen hatten nicht ein einziges Wort geformt, nur erstickte Schreie und sie hatte am ganzen Körper gezittert. Jetzt war er dran, das Schwein. Es ging ganz schnell. Hopp, zack, bumm und Rüdiger rührte sich nicht mehr. Sie waren schneller als Lisa-Maries Mutter, die sich beeilte zu erklären, dass die Lisa-Marie beim Rüdiger gewesen war, zum seelsorgerlichen Gespräch, weil, ja das war jetzt auch egal und überhaupt zu spät.
Und am Ende heißt es dann wieder: Man habe das alles nicht gewusst und das habe man so nicht gewollt und wer hätte denn ahnen können und man habe ja auch nur seine Pflicht getan.
Isebel – ein Ultrakurzkrimi
Die Bereichsleitung hatte immer dagegengehalten, hatte die religiös Orientierten ausgelacht, als missionarisch stigmatisiert, als unaufgeklärt, als Fleisch gewordene Stagnation. Wie Isebel, immer voller Hohn, nur die eigene Karriere im Blick, alles andere egal.
Konnte ja nicht wissen, dass die leerstehenden Räume, die anzumieten ich vorgeschlagen hatte, direkt an das Grundstück des Rottweiler-Züchters grenzte. Auch nicht, dass die Balkonbrüstung schadhaft war. Stürzte – wie Isebel. Und dann die Hunde – wie Isebel. War am Ende über das gesamte Grundstück verteilt – wie Isebel.
Ouroboros
1. Carla hatte schon seit Tagen nichts mehr von Jan-Olaf gehört. Zuerst war es ihr gar nicht aufgefallen; sie war so übertrieben beschäftigt mit den Abiturvorbereitungen und um den Kopf frei zu kriegen, raste sie gern noch eine Runde auf den Roller-Skates durch die Feldstraßen, bis sie richtig in Schweiß geriet. Danach liebte sie es, mit der fruchtigen Waschlotion zu duschen und dann bei Wildkirschtee auf dem Sofa zu sitzen und Skizzen für ihr nächstes Aquarell zu machen.
Aber jetzt sehnte sie sich nach Streicheleinheiten, der Wärme und dem Geruch ihres Freundes und vielleicht auch nach ein bisschen mehr.
Er war ebenfalls im Abistress, aber weniger ehrgeizig als Carla, ging alles entspannter an, weil er sich auch nicht so anstrengen musste, um gute Zensuren zu bekommen. Carla war stolz auf ihren Jan-Olaf, er war intelligent, kultiviert, sportlich, gutaussehend und sehr treu. Auch wenn sie ihn in den letzten Wochen häufiger zurückgewiesen hatte, konnte sie sich darauf verlassen, dass er sich spätestens nach drei Tagen wieder meldete. Jetzt waren aber schon fünf Tage vergangen. Dann eben nicht. Morgen Abend wollte sie mal wieder zum Jugendkreis gehen, ein bisschen Bibelarbeit machen und Anstecker aus Kronkorken basteln, dafür musste sie nichts vorbereiten, lag alles im Schrank.
Am nächsten Abend waren sie immerhin zu siebt: Carla, Jan-Olaf, die dumme Imke, der stumme Jens, die anstrengende Kerstin, die lahmarschige Silke, die langweilige Annette und der witzige Martin.
Kerstin wollte unbedingt das erste Lied mit der Gitarre begleiten und Carla ließ sie gewähren, obwohl die Barrégriffe regelmäßig danebengerieten und Kerstins Rythmus-Gefühl an übergewichtige, durchs Unterholz stolpernde Kinder erinnerte. Sie selbst war auch alles andere als unrund, aber stetig bemüht, wie ein Bambi-äugiges, scheues Reh zu wirken: elegant, grazil und schutzbedürftig.
Bei der anschließenden Bibelarbeit versuchte sie permanent, sich der theologischen Deutungshoheit zu bemächtigen, stellte alles in Frage, was Carla erklärte, hielt immer dagegen und meinte, alles besser zu wissen, dabei war sie erst sechzehn und offensichtlich nicht außerordentlich belesen; nicht einmal durchschnittlich für eine Gymnasiastin ihres Alters. Am schlimmsten war, dass Jan-Olaf sie viel zu ernst nahm, auf alles einging, was sie absonderte und ihr hin und wieder sogar beipflichtete. Warum verschwendete er seine Aufmerksamkeit an so einen erbärmlichen Fettfleck?
Auf dem Heimweg war er schweigsam. Er blieb noch eine Weile bei ihr, streichelte ihr leidenschaftslos den Rücken und sie tauschten sich über ihre Lernerfolge aus.
Carla legte ein erstklassiges Abitur hin, Jan-Olaf ebenso. Als Carla zum Studium in die nächste Universitätsstadt zog, war Jan-Olaf schon aus ihrem Bundesland verschwunden. Und aus ihrem Leben.
2. Er hatte das alles nicht gewollt: Den Kasernenton, die Uniform, die kurzen Haare und all die Gedankenlosen um ihn herum, die unter Jugend eine Aneinanderreihung von Vollrausch, schnellen Autobahnfahrten, noch schnellerem Sex, Fußballspielen und Science-Fiction-Filmen verstanden. Alles laut und ungestüm wie junge Hunde. So verhielten sie sich auch sonst: kläfften sich gegenseitig an, mussten ständig ausramboen, wer der Chef des Rudels war, pissten an jeden Baum oder markierten ihr Revier mit Kritzeleien an Möbeln. Jan-Olaf tat sich das mit der Bundeswehr nur seinem Vater zuliebe an – einem Offizier aus tiefster Überzeugung. Hätte er den Wehrdienst verweigert, hätte er das Lebenswerk seines Vaters damit zur unzeitgemäßen Sinnlosigkeit erklärt. Auf die Gefühle seines alten Herrn hatte er Rücksicht genommen, dafür hatte es ihn seine letzte Freundin gekostet. Kerstin hatte erklärt, sie könne als überzeugte Pazifistin nicht mit einem Soldaten zusammen sein. Er hatte das zutiefst bedauert und die Trennung von Carla einen Moment lang bereut. Aber dann erinnerte er sich wieder an Carlas Besserwisserei, ihre Humorlosigkeit, ihr elitäres Gebaren. Vielleicht war Kerstin nur in sein Leben getreten, damit er sich von Carla lösen konnte. Jetzt war er frei und alle Türen standen offen.
Wenn die Jungs in seiner Stube nur nicht so unendlich blöd gewesen wären. Der Neue war ganz nett. Hatte sich hierher versetzen lassen, weil seine Freundin in Frankfurt studierte. Lutz hieß er, hörte gute Musik, las interessante Bücher und berichtete von tollen Reisen. Über Politik machte er sich auch Gedanken, nur religiös war er nicht, aber ein deutlicher Abstand zu Carlas Frömmigkeit und Kerstins unbeugsamer Selbstgerechtigkeit tat ihm gut. Als beide gleichzeitig Urlaub hatten, unternahmen sie eine Rucksacktour nach Portugal. Nachts unter den Sternen und im Angesicht der tosenden atlantischen Brandung öffnete Lutz sein Herz. Es gab keine Freundin in Frankfurt, auch sonst nirgends, es gab nie eine und würde nie eine geben. Er hatte sich versetzen lassen, weil er an seinem vorherigen Ausbildungsort gemobbt und verprügelt worden war. Nicht nur die Kameraden hatten ihm das Leben schwer gemacht, vor allem die Vorgesetzten, denn einige in der Kaserne kannten Lutz seit der Grundschule und wussten längst, dass er Männer liebte. Beim Bund sah man das nicht gern; schon gar nicht Ende der Achtziger. Und nun konnte Lutz nicht länger verschweigen, dass Jan-Olaf ihm das Herz genommen hatte und dass er das Gefühl hatte, er erwidere seine Gefühle.
Das tat Jan-Olaf nicht. Aber er war zu anständig, um Lutz brüsk vor den Kopf zu stoßen. „Tut mir leid.“, erwiderte er, „Du bist echt mein bester Freund da in der Kaserne, aber ich liebe Frauen. Mit Männern kann ich das nicht.“
Lutz zog seufzend die Schultern hoch und ließ sie beim geräuschvollen Ausatmen resigniert fallen.
Nach dem Urlaub war es zwischen ihnen nie wieder so vertraut und unbefangen.
3. Lutz brachte den Rest der Bundeswehrzeit unbeschadet hinter sich. Jan-Olaf, der Offizierssohn, schützte ihn. Danach verlor er ihn aus den Augen, auch weil er die Provinz mehr als satt hatte und darum nach Berlin ging, wo es so viel mehr Möglichkeiten gab. Er studierte Wirtschaftswissenschaften, zog in den Wedding und fing endlich an zu leben. Nach zwei Jahren hatte er das Karussell aus Uni, Party, Sex und Drogen gründlich satt, sehnte sich plötzlich nach Ruhe, Solidarität und einer privaten Perspektive. In dieser Zeit lernte er Malte kennen. Klarer Fall von Klemmschwester. Malte gab sich als Hete aus, lebte mit Friederike zusammen, beide studierten Kunstgeschichte und lebten in einer WG mit Lutz' Kommilitonen Jörg und Janine. Die beiden waren total lustig und Malte hatte es auch faustdick hinter den Ohren, darum verstand Lutz auch nicht, was er an der zart besaiteten Friederike fand, die zwar ein hübsches Gesicht und eine grazile Figur hatte, aber immer alles schrecklich ernst nahm und auf die Goldwaage legte, ständig beleidigt war und täglich versuchte, in ihrer WG ein biodynamisches Terrorregime zu errichten.
Es dauerte nicht einmal ein halbes Jahr, da zog er mit Malte zusammen. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte sich alles gut und richtig an. Hätte er Malte einer liebenswerten Person mit Kontaktschwierigkeiten ausgespannt, hätte er vielleicht ein schlechtes Gewissen gehabt, aber nicht gegenüber der unsäglichen Friederike. Heimlich nannte er sie immer F-F-F-Friederike, die frierende, friedensverachtende, frigide Friederike, weil sie ständig in ultradicken Strickpullis durch die Wohnung schlich und sich blass und hohlwangig bei fröstelnd hochgezogenen Schultern über die Oberarme strich, mit jedem Schritt und jedem Wort Zwietracht säte, sich beklagte, stichelte, lästerte und dabei so schmallippig, blutleer und leidenschaftslos im Weg herumstand wie ein ungeliebtes Erbmöbelstück, das mehr Rechte besitzt als sein gegenwärtiger Eigentümer, ein Bleiberecht über Generationen trotz minimalsten praktischen oder ästhetischen Nutzens.
Er hatte Malte aus der Hölle geholt und ans Licht gehoben, das tat ihm nicht Leid. F-F-F-Friederike würde schon jemand Neues finden und wenn nicht, umso besser für die Menschheit.
4. Es war kaum zu ertragen, die Wohnung mit einem glücklichen Paar zu teilen, wenn man selbst gerade verlassen worden war. Janines hysterische Lustschreie waren ihr schon vorher auf die Nerven gegangen. Für dieses demonstrative Hört-alle-her- ich-habe-Sex-und-zwar-richtig hatte Friederike nur Verachtung übrig. Wie gut, dass schon bald das Auslandssemester in Pisa anstand. In der Zwischenzeit würde ein Erasmus-Student in ihr Zimmer ziehen – oder vielleicht auch zuerst in Maltes altes Zimmer, noch zahlte er die Miete, da Lutz ihn kostenlos bei sich unterbrachte, bis sie etwas Größeres für ihre gemeinsame Zukunft gefunden hatten.
Ein paar Wochen später rollte Friederike im österreichischen Sechserabteil durch die Alpen, bewunderte die gigantischen Bergmassive mit den weißen Gipfeln, die satten grünen Almwiesen, die idyllischen Holzhütten an steilen Hängen und wurde das Gefühl nicht los, keine Luft zu bekommen. Wenn sie in dieser verdichteten, düsteren, beengten Berglandschaft leben müsste, würde sie ersticken. Sogar als sie den Brennerpass überquert hatte und sich links und rechts die Obstplantagen erstreckten, empfand sie sich als Flüchtende, als seien die Berge selbst ihre Bedränger, die einfach nicht von ihr abließen, sie bis nach Italien verfolgten und ihr die Luft zum Atmen nahmen.
Nach Verona wurde es besser und als sie endlich in den weichen Hügeln der Toskana ankam, empfand sie nichts als Vorfreude und uneingeschränkte Zustimmung.
Es dauerte etwa eine Woche, bis sie angeregte Gespräche führen konnte, aber als sie das endlich geschafft hatte, war sie ein anderer Mensch. Zwischen den Lehrveranstaltungen und abends in den Bars gab es überall Gespräche, und den deutschen Erasmus-Studierenden ging sie konsequent aus dem Weg, jetzt war sie in Pisa, wollte eins werden mit der italienischen Lebensweise, die Sprache lernen, aufgehen in der toskanischen Campus-Gemeinde.
Ihr Vorhaben gelang. Und nicht nur das: über Weihnachten hatte sie der lebenslustigste Kommilitone von allen zu seiner Familie nach Belforte all'Isauro, einem winzigen Nest in den Marken eingeladen. Sie unternahmen lange Spaziergänge durch schneebedeckte Hügel und weiß glitzernde Wälder, aßen Fagiano arrosto, die Vögel hatte der Großvater selbst geschossen und auch wenn die örtlichen Konventionen eine gemeinsame Zeit im Bett von Unverheirateten verbaten, passierte es irgendwann im größten Tohuwabohu, als Gennaro sie heimlich ins Gästezimmer entführte und damit anfing, seinen weichen Mund in die warme Grube zwischen Hals und Schulter zu drücken. Es waren nur Küsse und ein Augenblick intensivster Körperkontakt, aber aufregender als jeder nackte Sex, den sie bisher erlebt hatte. Sie mussten nichts überstürzen, sie würden in drei Tagen nach Pisa zurückkehren und alles nachholen, was sie bisher versäumt hatten.
Als das Semester im Februar zu Ende ging, hatten sie alles geregelt und Gennaro begleitete Friederike nach Berlin – zunächst für ein Auslandssemester, aber das Leben meinte es gut mit ihnen, es würde wohl mehr daraus.
5. Auch nach drei Monaten war es Gennaro nicht gelungen, Berlin liebenswert zu finden: zu rüde die Umgangsformen, zu lieblos und abgewandt. In der deutschen Umgebung wurde sogar Friederike eine von den „Crucchi“, den Scheißdeutschen von denen sie sich in Italien so deutlich unterschieden hatte. Aber hier war sie plötzlich genauso übellaunig, regelwütig und kleinkariert wie der Rest dieses von der Sonne vernachlässigten Volkes. Obwohl es gerade Sommer war und die dunkelste Zeit des Jahres noch vor ihm lag, fühlte Gennaro, wie die allgemeine Depression sich allmählich auch seiner bemächtigte.
Unbewusst machte er sich auf die Suche nach Leichtigkeit, lachenden Gesichtern – und lernte Carolin kennen, eine Sozialpädagogik-Studentin aus dem Westen, die sich im ausklingenden Sommersemester der Humboldt-Universität ein paar Lehrveranstaltungen in Kunstgeschichte antat, einfach so, aus Interesse, ohne überhaupt als Gasthörerin eingeschrieben zu sein, im Schlepptau einer Freundin, die für sie die passenden Vorlesungen ausgewählt hatte. Dieser anarchische Griff nach dem Leben und seinen Möglichkeiten gefiel Gennaro außerordentlich und rettete seine eigene Lebenslust, die im zähflüssigen Sumpf der deutschen Melancholie zu versinken drohte. Er zog mit Carolin durch eine Reihe Kreuzberger Kneipen und ließ sich von ihr in die Wohnung der Freundin mitschleppen, wo sie ein vorübergehend leerstehendes WG-Zimmer bewohnte.
Natürlich bekam Friederike mit, dass er die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen war und er hatte auch keine Lust, mit einem würdelosen Versteckspiel anzufangen. Friederike setzte ihn prompt vor die Tür und er flüchtete zu Carolin, die wenig begeistert davon war, dass ihr One-Night-Stand sich bei ihr einnisten wollte, zumal sie ja gar nicht dauerhaft in Berlin lebte, sondern in Bielefeld, wo sie aktuell mit jemandem zusammenlebte.
Es war Carolins Freundin, die ihm anbot, vorübergehend in der WG unterzukommen, auf dem Sofa im Wohnzimmer, bis er etwas Anderes gefunden hatte.
Nur halbherzig hatte Gennaro einen Antrag auf Verlängerung seines Auslandsstudiums gestellt. Als er Friederike auf dem Campus traf, die ihm einen an ihn gerichteten Brief reichte mit dem Hinweis: „Du musst der Uni mal deine neue Adresse mitteilen, ich habe keinen Bock, dir deine Post hinterherzutragen.“, wurde ihm das Herz noch schwerer, weil sein Antrag bewilligt worden war. Noch ein Semester in diesem kalten, dunklen Land, in dieser lauten, riesigen Stadt, das würde er nicht ertragen.
Noch vor dem Ende des Sommers landete er in einer anderen deutschen Stadt.
6. Carolin brauchte dringend Geld, musste für einen Ferienjob nach Bielefeld zurückkehren, sonst wäre sie noch länger in Berlin geblieben. Das mit der Kunstgeschichte hatte ihr gefallen, vielleicht sollte sie noch ein Aufbaustudium dranhängen und Sozialpädagogik mit Kunst kombinieren, da gab es sicher interessantere Jobs, als in irgendeinem Jugendzentrum, Kindergarten oder verstaubten, städtischen Behördensumpf.
Der Sommer an der Freibadkasse war der längste und langweiligste, den sie je erlebt hatte. Sie sehnte sich nach der pulsierenden Metropole, den inspirierenden Kontakten. Stattdessen blickte sie täglich stundenlang in tumbe Gesichter, die in Einwortsätzen ihrem Begehr nach Eintritt Ausdruck verliehen und sie erwiderte dies gleichermaßen mit „Drei Fünfzig“ oder „Eins Fünfzig“ - je nach Tarif. Warum musste Geldverdienen als Studentin immer so anregungsarm gestaltet sein? Auf einer Party erzählte ihre Kommilitonin Kerstin: „Ich plane selbst ein Seminar anzubieten für die Begleitung im Grundstudium. Die Profs kriegen das ja nicht auf die Reihe, sind zu sehr mit ihren Hobbys beschäftigt, 'Lust und Leid des Tangos', Ferienhausrenovierung in Griechenland und 'schade, dass Beton nicht brennt'. Ich habe schon mit Günther telefoniert, der meinte, ich sollte mir noch einen Co-Moderator holen und dann könnten wir das als Tutorenjob machen, weil das ja ein Auftrag der Hochschule ist, dem die Profs nicht ausreichend nachkommen.“
„Wie?“, fragte Carolin nun hellwach und im Beuterausch, „Wir könnten Geld verdienen mit Studienbegleitung? Was muss man denn da machen?“
„Das gleiche, was bei uns gelaufen ist. Einführung, Studientipps, Praktikumsvor- und Nachbereitung und ich finde, wir könnten die Leute auch bei der ersten Hausarbeit unterstützen und sie auf die erste Fachprüfung vorbereiten.“
„Wollen wir das nicht zusammen machen?“, fragte Carolin mit betont warmer Stimme, anbiedernd, wie es ihre Art war, wenn sie etwas erreichen wollte. Kerstin war nur B-Ware und zwar in jeglicher Hinsicht. Sie würde alles einstielen und Carolin könnte sich ins gemachte Nest setzen, glänzen, Praxispunkte sammeln und nebenbei noch Geld verdienen.
Sie sah Kerstin deutlich an, dass ihr diese Wendung nicht behagte. Sicher hatte sie geplant, die Co-Moderation Thomas anzubieten, auf den war sie schon lange scharf, der sah ja auch gut aus und war sehr unterhaltsam. Aber Carolin wollte endlich mal auf interessante Weise Geld verdienen und mit ihrer offensiven Art hatte sie bisher noch die meisten ihrer Ziele erreicht.
Am Ende hatte Kerstin eingewilligt, schließlich hatte sie kein Ass im Ärmel, hätte sie eben taktisch klüger vorgehen müssen.
Carolin hatte in der Folge eine tolle Zeit. Sie hatte im Hauptstudium ein interessantes Projekt für sich ausgewählt, arbeitete mit psychisch Kranken und besuchte das Begleitseminar bei einer beeindruckenden Dozentin. Das Geld als Tutorin war leicht verdient, Günther, der Dekan des Fachbereichs wurde auf sie aufmerksam und bot ihr, weil sie die Studierenden so kompetent und gezielt auf ihre Prüfungen vorbereitet hatte, einen weiteren Tutorenjob an. Sie musste nur aufpassen, dass sie es gut machte, denn sie hatte natürlich verschwiegen, dass es vor allem Kerstin gewesen war, die die dazu erforderlichen didaktischen Schritte ausgearbeitet hatte. Kerstin hatte einfach nicht das Zeug zur angemessenen Selbstinszenierung im richtigen Moment und außerdem hatte Carolin die schmalere Taille und die blaueren Augen. Und Thomas war sie auch schon näher gekommen...
7. Das Sozialpädagogik-Studium schloss Kerstin in der Regelstudienzeit ab. Mit Carolin war sie fertig, die hatte die ganzen Lorbeeren eingeheimst und Kerstin dastehen lassen wie eine Trittbrettfahrerin. Das würde ihr eine Lehre sein, künftig würde sie sich solche Frauen vom Leib halten, denn eigentlich hatte sie Carolins parasitäres Wesen von Anfang an durchschaut, hatte aber dem eigenen Gefühl noch nicht ganz getraut, wollte frei von Vorurteilen sein und hatte auch zu wenig Erfahrung darin, Menschen, die sich aufdrängten, auf Abstand zu halten. Das würde sich ändern.
Das Anerkennungsjahr brachte sie mehr hinter sich, als dass es ein wertvolles Lernfeld gewesen wäre, aber dann fand sie eine interessante Teilzeitstelle und begann ein Zweitstudium der Diplompädagogik mit dem Fernziel einer Hochschul-Karriere. Sie war endlich angekommen in ihrem Leben und alles entwickelte sich planmäßig. Aus einer Laune heraus begann sie einen Italienisch-Kurs und verliebte sich prompt in den Lehrer. Nein hier lag keine Neigung zu Mentor-Schützling-Beziehungen vor, Gennaro war in ihrem Alter, hatte zunächst Kunstgeschichte in Pisa, dann ein Semester in Berlin studiert und war bei Kunsterziehung in Bielefeld gelandet, wo er sich sein Studium nun mit Sprachkursen finanzierte. Die gesammelte Weiblichkeit des Kurses betete ihn an und Kerstin fand sich damit ab, dass es auch bei ihr wohl bei dieser Anbetung bleiben würde. Umso erstaunter war sie, als Gennaro sie schon nach dem dritten Treffen fragte, ob sie nicht einen Kaffee mit ihm trinken wollte. Natürlich war es nichts weiter als ein unschuldiges Schwätzchen in der Caféteria, aber sie hatte Mühe, seinen Ausführungen zu folgen und nicht in seinen warmen, dunklen Augen zu versinken. Als ein anderes Kursmitglied beim nächsten Mal vorschlug, man könne ja mal zusammen italienisch kochen, bot sie direkt ihre Wohnung als Veranstaltungsort an und lud auch Gennaro dazu ein.
Es wurde ein denkwürdiger Abend mit matschiger Pasta, Tomatensauce mit Holzkohle-Aroma, Magen-übersäuerndem Rotwein und sehr viel fröhlichem Gelächter.
So lange hatte Kerstin darauf gewartet, dass es in ihrem Leben endlich gut würde – beruflich wie privat. Immer hatten andere sich vorgedrängelt, ihr die Chancen vergällt, sie ignoriert, beiseitegeschoben, abgewertet. Und sie hatte auch oft nicht so recht gewusst, wohin mit sich, war auf der Suche nach ihrem Platz gewesen und hatte beharrlich gewartet auf eine Gelegenheit, ein Zeichen, eine Erkenntnis, eine glückliche Wendung. Sie war geduldig geblieben, oft traurig, manchmal verzweifelt, aber demütig, denn ihr war bewusst, dass sie andere Menschen nicht für ihr Unglück verantwortlich machen konnte. Sie würde selbst herausfinden müssen, wie sie ans Ziel gelangte. Und jetzt war es zum Greifen nah. Das Warten hatte sich gelohnt.
8. In der Mitte des Semesters bekam der Italienischkurs einige Neuzugänge, das heißt, er wurde mit dem zweiten Kurs zusammengelegt, nachdem der erste Andrang nachgelassen hatte und die Lust-und-Laune-Studierenden das Interesse an der staatlich finanzierten Urlaubsvorbereitung verloren hatten. Außerdem hatte die Leiterin des zweiten Anfänger-Kurses überraschend einen interessanten Job in einer anderen Stadt bekommen und hatte die Brocken hingeschmissen.
Nun war es ziemlich voll im Seminarraum und Kerstin traute ihren Augen nicht, als sie ein bekanntes Gesicht unter den Neuzugängen ausmachte: die unerträgliche, blasierte, dumm-fromme Carla aus ihrer Heimatgemeinde. Ja, Kerstin hatte gehört, dass sie in Bielefeld Biologie studierte, aber sie musste doch längst fertig sein, schließlich war sie zwei Jahre älter als Kerstin und Kerstin hatte ihr Studium auch schon vor fast zwei Jahren abgeschlossen. Obwohl sie vor Neugier nahezu platzte, was genau Carla
an der Uni zu suchen hatte, bemühte sie sich, sie zu ignorieren und vorzugeben, sie nicht wiederzuerkennen, so sehr ekelte sie sich vor der ehemaligen Rivalin, die sie noch immer in ihrer senfgelben Strickjacke vor sich sah, mit dem überheblichen Gesichtsausdruck und dem einschläfernden Redefluss.
Doch am Ende der Veranstaltung, als Carla bemerkt hatte, dass Kerstin einen besonderen Draht zu dem reizvollen Lehrer hatte, beschloss sie, sich zu einem ersten Schritt herabzulassen. Sie ging auf die ungeliebte, alte Bekannte zu und sagte in einem Ton, der auf wundersame Weise ein freundliches Einschmeicheln mit einem herabwürdigenden Befremden verband: „Hallo Kerstin. Was machst du denn hier?“
„Ach – Carla“, erwiderte Kerstin Überraschung heuchelnd. „Ich habe dich gar nicht erkannt. Ich mache hier das gleiche wie du: einen Sprachkurs.“
„Ja klar.“, antwortete Carla in der gewohnten Redeweise der großen Schwester, die für immer und ewig, der jüngeren ein paar Schritte voraus ist.
„Ich meine natürlich, was du hier an der Uni machst.“
„Ach so. Ich studiere Diplompädagogik.“
„Da musst du sicher auch bald fertig sein, oder?“
„Nee, das ist mein Zweitstudium, ich habe gerade angefangen. Und du?“
„Ich promoviere gerade.“
„Ach, interessant. Und worüber?“
„Ach das ist so fachspezifisch, das ist für Laien total uninteressant.“
„Und brauchst du dafür Italienisch?“
„Nein, das mache ich nur zur Ablenkung, damit ich nicht zur Fachidiotin mutiere. Und du?“
„Ich weiß noch nicht, was ich damit mache. Vielleicht wandere ich mal aus. Vielleicht freue ich mich aber auch nur, dass ich im Urlaub problemlos mein Essen bestellen kann.“
In diesem Stil setzten sie ihr Gespräch fort und es war nicht zu übersehen, dass sie sich gegenseitig nicht ausstehen konnten, Kerstin zog es zu Gennaro, der dummerweise heute mit Stefan in Richtung Caféteria abzog, aber sie war zu unhöflich, um Carla zu erklären, dass sie nun keine Zeit mehr habe.