Kitabı oku: «Marionette des Teufels», sayfa 3

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„Wie meinen Sie das?“

„Na, immerhin war Sophia bereits zweiunddreißig und Sopranistin am Fürstbischöflichen Opernhaus, also musste sie doch irgendwann einmal auf eigenen Beinen stehen. Aber ihre Mutter wollte das nie einsehen. Vielleicht sind Mütter so. Ich habe ja keine Kinder.“

Franziska war bereits früh flügge geworden und hatte seither immer allein gelebt. Es war nicht immer leicht, aber letztlich war sie davon überzeugt, dass sie nur so tun und lassen konnte, was sie wollte.

„Sie hat so wunderbar gesungen! Und sah so bezaubernd aus. Mir hat sie immer wieder Freikarten besorgt, wissen Sie. Ich saß dann hinter der Säule auf den Teilsichtplätzen. Da hat man zwar nicht so gut gesehen, aber es war eine nette Abwechslung für mich. Ich hab ja nicht viel Rente.“

„Wie kam denn ihre Mutter auf Sie und warum hat sie Ihnen ihre Tochter so ans Herz gelegt? Das ist doch auch nicht üblich, oder?“

„Reinhilde hat für ihre Tochter eine Wohnung gesucht, und als die gegenüber frei wurde, habe ich ihr davon erzählt. Wissen Sie, wir kennen uns schon sehr lange.“

„Ach?“

„Ja, schon seit dem Krieg.“

„Was, so lange schon?“

„Na ja, wir waren zusammen beim Roten Kreuz.“ Paula Nowak stellte ihre Tasse auf den Tisch und lehnte sich zurück, dann begann sie zu erzählen.

„Nach dem Krieg kamen die Amerikaner in die Stadt, unsere Beschützer. Aber natürlich machte das unser Leben auch nicht besser. Es herrschte immer noch große Not und die Arbeit von uns Frauen war immer noch sehr wichtig – es gab ja auch so viel zu tun für uns. Eine schlimme Zeit war das, wissen Sie, fast noch schlimmer als im Krieg selbst.“

Sie sah Franziska an, die zwar nickte aber keine Ahnung hatte, weil sie sich damit noch nie beschäftigt hatte. „Damals war ich ja noch jung“, sie lächelte. „Und in der Frauenbereitschaft des Roten Kreuzes. In der Nikolaschule haben wir die erste Wärmestube aufgemacht. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen, was die Menschen für Not litten. Jeder Besucher erhielt dort einen Teller Suppe und konnte sich aufwärmen.“ Paula Nowak rückte sich ein Kissen zurecht und schien sich in Gedanken an den Geschmack der Kohlsuppe zu erinnern.

„Im Oberhaus hatten sie ein Hilfskrankenhaus. Dort waren wir Schwestern und Helferinnen im Dienst, aber am meisten zu tun gab es in den Flüchtlingslagern. Bis achtundfünfzig hatten wir ja Flüchtlinge in der Stadt, wissen Sie das überhaupt? Und dann das Hochwasser! Vierundfünfzig war es ganz schlimm. Zweitausend Menschen haben wir täglich verpflegt, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen!“ Die alte Frau schloss für einen Moment die Augen, so als hätte sie den Faden verloren.

„Es muss wohl irgendwann nach dem Krieg gewesen sein, als ich das erste Mal mit Reinhilde zusammengearbeitet habe. Sie ist ja fast zehn Jahre jünger als ich und fing damals erst an. Ich habe sie eingearbeitet, ihr gezeigt, wie man aus wenig vielmachen und damit helfen konnte. Und wenn man so tagtäglich zusammen ist, kommt man sich auch näher, nicht?“

Franziska wusste nicht, ob sie auf diese Frage antworten sollte. Hannes und sie waren sich bisher noch nicht näher gekommen, aber sie wusste auch nicht, ob sie das wollte.

„Und wissen Sie was, es waren gute Jahre und ich möchte sie nicht missen. Eines Tages hab ich dabei dann Otto, meinen Mann, kennengelernt. Er war ein so lieber Kerl. Ich dachte schon, es findet mich gar keiner mehr“, sie lächelte und dann wurde ihr Gesicht auch schon wieder traurig, „Leider ist er schon vor vielen Jahren an Lungenkrebs gestorben. Es war schrecklich! Aber damals haben alle geraucht, man wusste ja nicht, wie gefährlich das Zeug war, und als es bekannt wurde, war es zu spät.“ Das kam fast trotzig, vielleicht, um den Verlust besser ertragen zu können, vielleicht hatte sie sich mit dieser Ausrede schon oft selbst getröstet.

„Und Reinhilde?“, fragte Franziska, um auf den Mordfall zurückzukommen.

„Zu der kam dieser Kerl mit seinem tollen Auto und den Lebensmittelspenden. Wir waren ganz aus dem Häuschen, weil damals ja kaum jemand so eine heiße Kiste fuhr. Reinhilde hat sich die Haare gebürstet und die Lippen nachgezogen und ist zu ihm hin. Ob sie nicht mal mitfahren darf, hatte sie gefragt und er hat sie mitgenommen. Zwei Monate später haben sie geheiratet. Ja, so war das mit ihr. Sie war genau so hübsch wie ihre Sophia, aber sie hat es den Männern auch gezeigt.“

„Und waren Sie nach der Hochzeit immer noch zusammen in der Frauenbereitschaft?“

„Nein, nein, wo denken Sie hin! Als Reinhilde erst einmal eine Weberknecht war, war es vorbei mit dem Dienst. Er kam aus gutem Hause, war Senffabrikant. Die hatten auch nach dem Krieg gleich wieder was. Die mussten sich die Hände nicht schmutzig machen. Die brachten Lebensmittelspenden. Zu Hause servierte ein Dienstmädchen. Und Reinhilde durfte dann ja auch überhaupt nicht mehr arbeiten gehen. Im Hause Weberknecht hatte man nämlich eine ganz feste Vorstellung von dem, was man tat und was man ließ und für meine Freundin gab es eigentlich nur eine Möglichkeit: Sie musste diese Vorstellungen erfüllen, eine gute Ehefrau sein und Kinder bekommen.“

„Und?“ Franziska fand die Wendung, die das Gespräch nahm, äußert interessant. „Als Ehefrau war sie sehr gut, nur mit dem Kinderkriegen wollte es nicht klappen. Na ja, und wahrscheinlich waren Otto und ich dann einfach auch nicht mehr gut genug für die beiden, denn als die Prinzessin dann endlich auf die Welt kam, hatten wir uns bereits aus den Augen verloren. Eigentlich, bis sie die Wohnung gesucht hat, da hat sie bei mir aus heiterem Himmel angerufen.“ Paula Nowak hielt inne. Zum ersten Mal schien sie sich zu fragen, ob das denn richtig gewesen war, dass sie so lange nichts von sich hören ließ und dann so plötzlich wieder anrief. „Sagen Sie, haben Sie den Eltern eigentlich schon Bescheid gesagt?“

Jetzt wurde die alte Frau ganz blass und Franziska hoffte, sie würde ihr nach der ganzen Aufregung nicht noch umfallen. „Ach, ich hatte gehofft, das machen Sie!“

„Ja, natürlich machen wir das, das ist ja auch unsere Aufgabe. Ich dachte ja auch nur, weil Sie die Mutter doch so gut kennen.“

„Darum fürchte ich mich ja auch so davor“, flüsterte die alte Frau verschwörerisch. „Am Ende denken die, ich hätte sie umgebracht!“

***

Vorsichtig lehnte Kriminalkommissar Hannes Hollermann seinen Fahrradvorderreifen an die Wand und drückte auf den Messingknopf der Klingel. Die Wohnungstür war in einem vornehmen Altweiß lackiert, die Glaseinsätze zierten großflächige florale Jugendstilornamente, ein Vorhang an der Innenseite verdeckte die Sicht auf die Wohnung. Das herrliche Haus stammte aus dem beginnenden Zwanzigsten Jahrhundert und war mit viel Liebe gebaut und erhalten worden, wie Hannes jetzt feststellte. Er selbst wohnte in einer bescheidenen Dachgeschosswohnung, ebenfalls Altbau, aber lange nicht so nobel.

Während er sich noch im Treppenhaus umsah, öffnete Agnes Neumüller in einem schicken schwarz-weiß gemusterten Kleid und flachen schwarzen Schuhen die Tür.

Sie sei ein bisschen schwerhörig, entschuldigte sich die alterslos erscheinende Dame mit einem Lächeln und bat den jungen Kommissar herein. Auf dem Tisch standen eine Kaffeekanne mit Tropfschutz, ein zierliches Gedeck mit Goldrand und ein Kuchenteller mit reichlich Auswahl. „Bei Ihnen riecht es aber lecker“, bemerkte Hannes und spürte, wie sein Magen nach einem Blick auf die Kaffeetafel zu knurren begann.

„Ach, wenn Sie sich vielleicht zu mir setzen wollen?“ Hannes zögerte nicht lange. Er gehörte zu den Menschen, die ohne Ende essen konnten und davon weder dick noch satt wurden.

„Früher konnte ich auch so viel essen, aber mit den Jahren muss man immer mehr auf sein Gewicht achten“, erzählte Agnes Neumüller schmunzelnd, während sie Hannes beim Essen zusah. Dann berichtete sie gestenreich von ihrer Zeit, als sie am Auersperg-Gymnasium Deutsch und Geschichte unterrichtet hatte und wie sehr ihr das manchmal fehlte. „Ach, all die entzückenden Kinder!“, seufzte sie und Hannes war sich sicher, dass sie es ernst meinte.

Sie sei gern Lehrerin gewesen, habe ihren Beruf geliebt und sei nur in Rente gegangen, weil es an der Zeit war, und nun kämen nur noch hin und wieder Nachhilfeschüler, um sich von ihr unterrichten zu lassen. Nebenbei wollte sie dem Kommissar schon das nächste Stück auf den Teller laden, doch der winkte ab. „Oh, vielen Dank, aber jetzt kann selbst ich nicht mehr.“

„Dann vielleicht noch ein Tässchen Kaffee?“ Die Dame zwinkerte ihm zu und Hannes reichte seine Tasse zu ihr hinüber. „Erzählen Sie mir von Frau Weberknecht“, bat er, während er langsam Milch in die schwarze Flüssigkeit goss und sie mit viel Hingabe unterrührte.

„Sophia war ein reizendes Mädchen. Kaum zu glauben, dass ihr das jemand antun konnte. Sie war immer so hilfsbereit und freundlich und sie liebte klassische Musik. Sie spielte ja ganz wunderbar Geige und sang – ach, einfach schön! Sie passte schon sehr gut in unser Haus.“

„Wann ist sie denn eingezogen?“

„Das war ziemlich bald nachdem Hildegard ausgezogen war. So vor drei Jahren. Heute nennt sie sich Charlotte Stein. Das soll sich besser machen in ihren Kreisen, wissen Sie. Sie ist Schriftstellerin, und nachdem sie mit ihrem ersten Roman so viel Erfolg hatte, ist sie dann ja auch nach Berlin gezogen, meinte, das sei weltmännischer. Ihr nächster war dann nicht mehr so gut, wahrscheinlich hatte sie ihre Ideen verbraucht.“ Unschlüssig zuckte sie mit den Schultern.

„Und dann zog Frau Weberknecht in die Wohnung über Ihnen?“

„Genau. Wissen Sie, wir waren sehr eng befreundet und die Wohnung oben ist ja auch ein echtes Prachtstück. Darum war ich natürlich froh, dass nach Hildegard ein so liebes Mädchen einzog.“

„Dann liegt Ihnen sicher auch viel daran, dass wir denjenigen, der ihr das antat, so schnell wie möglich finden“, folgerte Hannes und wunderte sich selbst, wie schnell er sich auf die Wortwahl der alten Dame eingestellt hatte.

„Aber natürlich, sagen Sie mir, was ich tun kann.“ Hannes nickte. „Wann haben Sie denn Frau Weberknecht zum letzten Mal gesehen?“

„Gestern früh, vor dem Einsingen für die Probe. Sie kam gerade vom Bäcker und hatte es eilig.“

„Und wann genau war das?“

„Also nach ihr kann man ja die Uhr stellen. Jeden Morgen singt sie sich von neun Uhr zwanzig bis neun Uhr fünfundvierzig ein, dann fährt sie zur Probe ins Theater. Die beginnt um zehn. Also ich schätze, es war so kurz vor neun.“

„Hatte sie Besuch?“

„So kurz vor der Probe? Nein.“

„Aber Sie wissen nicht, ob sie zu dieser Probe gegangen ist?“ „Na ja, davon gehe ich aus. Ihr Auto stand über Mittag nicht im Hof und daher denke ich, sie ist damit weggefahren.“ „Haben Sie gestern jemanden im Haus gesehen, der zu Frau Weberknecht wollte?“

„Nein. Es könnte natürlich sein, dass jemand bei ihr war, aber wissen tue ich es nicht.“

Der Kommissar spürte, wie sie mit sich rang.

„Frau Neumüller, wenn Sie etwas wissen, müssen Sie es mir sagen!“

„Ich weiß wirklich nichts und das ärgert mich eben. Ich habe Brahms gehört. Brahms muss man laut hören, erst dann kommt er so richtig zu Ehren. Aber jetzt ärgere ich mich natürlich, dass ich nicht auf das geachtet habe, was im Haus vor sich ging, verstehen Sie?“

Hannes nickte erneut.

„Hatte sie denn einen Freund?“

Agnes Neumüller sah den jungen Kommissar musternd an, bevor ein Lächeln über ihr mit feinen Linien belebtes Gesicht huschte. „Ihnen hätte sie auch gefallen!“ Dann wurde ihr bewusst, was sie dem Kommissar eben unterstellt hatte und fügte schnell hinzu: „So wie sie aussah, sollte man meinen, dass sie einen Freund hatte, nicht?“

„Und?“

„Mir hat sie keinen vorgestellt.“

Hannes seufzte. Wäre ja auch zu schön gewesen.

„Manchmal hat sie nachts Besuch bekommen.“

„Sie meinen, es hat jemand bei ihr übernachtet?“, fragte er aufgekratzt zurück. „Ein Mann?“

„Ich weiß nicht, ob er die ganze Nacht blieb, aber er kam immer so gegen drei Uhr morgens. Wegen der genauen Uhrzeit bin ich mir nicht ganz sicher.“

„Und wie oft kam er?“

„Also, das muss im Sommer gewesen sein. Ich meine, ich überwache ja nachts nicht das Treppenhaus. Aber im August war es so heiß und da konnte ich nicht schlafen, und eines Nachts hörte ich auf der Treppe Schritte und hab dann vorsichtig den Vorhang an der Wohnungstür zur Seite geschoben um zu sehen, wer draußen ist.“

„Würden Sie den Mann wiedererkennen?“ Hannes begann weiter zu hoffen.

„Nein, nein, ich glaube nicht. Er ging ja im Dunklen hinauf und irgendwie sah er zur Wand.“ Agnes Neumüller stutzte. „Meinen Sie, er hat gewusst, dass ich ihn sehe, und hat deshalb zur Wand gesehen?“ Hannes zuckte die Schultern.

„Meinen Sie, das war ihr Mörder?“ Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern, als sie sich beide Hände aufs Herz legte. Es dauerte eine Weile, bis sie und ihr Atem sich wieder beruhigt hatten.

„Auf jeden Fall hat er sich gut im Haus ausgekannt.“

„Und Frau Weberknecht hat ihn erwartet?“

„Zumindest hatte er einen Schlüssel.“

„Das ist ja interessant.“

„Hilft Ihnen das weiter?“

Hannes überlegte. Nein, eigentlich nicht, nicht wenn sie ihm keine Beschreibung geben konnte. Aber immerhin wusste er jetzt, dass jemand einen Schlüssel zu Sophias Wohnung hatte und häufiger in der Nacht zu Besuch kam. Vielleicht tatsächlich der Mörder?

„Ja, wenn Ihnen doch noch etwas zu diesem Besuch einfällt, würden Sie mich dann bitte anrufen?“ Er legte eine Karte mit seiner Durchwahl auf ihren Kaffeetisch. Sie war druckfrisch.

„Aber natürlich, Herr Kommissar, das mach ich doch gerne.“

„Na, dann will ich mal unten mein Glück versuchen, bei …“, er schaute auf seinen Block.

„Der Herr Brandner ist verreist. Schon die ganze Woche.“

„Wissen Sie, wann er wieder kommt?“

„Das weiß man bei ihm nie. Er fährt immer wieder für längere Zeit zu seinen Kindern und Enkeln. Aber ich kann Sie ja anrufen, wenn er wieder da ist?“

„Das wäre sehr nett von Ihnen.“

***

Sichtlich verlegen stand Hauptkommissar Berthold Brauser vor der Wäschekommode im Schlafzimmer der Toten. Er hatte die oberste Schublade geöffnet und hielt nun zarte, viel zu klein wirkende Wäscheteilchen in seinen rauen Händen. Sie waren schwarz, grau, lila und champagnerfarben. Die Spitze war weich, der Satin kühl und glatt, die Seide voller Leben.

Kurz sah er zum Bett, aber die Tote war inzwischen auf dem Weg in die Rechtsmedizin nach München.

Während er nun so da stand, dachte er an Maria. Solange er mit ihr zusammen war, trug sie weiße Baumwollschlüpfer. Achtunddreißig Jahre lang. Und es war immer schön gewesen, wenn er sie ihr ausgezogen hatte. Früher und auch später noch.

Nun hielt er diese Teilchen in den Händen und versuchte sich vorzustellen, wie sie mit so etwas ausgesehen hätte, damals, mit den langen blonden Haaren, ihrem strahlenden Lächeln, als man sie für alles hatte begeistern können. Brauser überkam in Erinnerung ein sanftes, längst vergessenes Gefühl einer heiß brennenden Liebe. Ach, seine Maria!

Was hatten sie nicht alles erlebt. Sie beide und die Vespa, mit der sie durch die Landschaft gefahren waren. Gemeinsam hatten sie ihre Jugend genossen und alles, was neu und schön war. Maria trug duftige Blumenkleider und er hatte die Haare zurückgekämmt. Schwarz wie das Gummi der Reifen waren sie gewesen. Mit einer schnellen Bewegung fuhr er sich durchs Haar und stöhnte. Sein Kopf schmerzte.

Für einen Moment schloss er die Augen und legte dann die Sachen zurück in die Schublade, um als Nächstes den Kleiderschrank zu öffnen. Dunkle Hosen, weiße Blusen, edle Kaschmirpullis, ein braunes Kleid mit geometrischen Motiven und einem braunen Satingürtel. Brauser nahm es heraus und sah es lange an, bevor er es zurückhängte. Am Boden standen sauber geputzte Schuhe mit hohen Absätzen und zierlichen Riemchen für den Sommer und einige Paar Stiefel für den Winter. Er ging ins Wohnzimmer. Annemarie und ihre Truppe waren gegangen und sie hatten noch immer nichts gefunden, deshalb würden sie wiederkommen müssen. Brauser trug jetzt brav seine Latexhandschuhe. Er brauchte in seinem Zustand nicht noch einen Rüffel von Annemarie.

Neben unzähligen Büchern und CDs saßen Engel im Regal: Unschuldsengel, Weihnachtsengel, Schutzengel? Lieblich, kitschig, fromm und am Ende erfolglos, dachte er, nachdem er einen nach dem anderen in die Hand genommen und wieder an seinen Platz gestellt hatte. Im unteren Bereich stand eine aus verschiedenen Bausteinen ordentlich aufeinandergesetzte Stereoanlage und daneben, in einem Ständer aus Chrom, Opern aller Art, Klassik, aber auch Jazz. In zwei Ecken die dazugehörenden Lautsprecher, für den Geschmack des Kommissars ziemlich dominant. Der zierliche Sekretär im Fenstererker war ordentlich aufgeräumt. Neben mehreren Stapeln Notenmaterials befanden sich in einer Ablage ein paar Rechnungen. Brauser blätterte sie durch: Kleidung, Lebensmittel, Tankrechnungen – nichts Besonderes. Ein Notizblock, ein örtliches Telefonbuch, eine Zeitung von Mittwoch und ein paar Stifte; nichts, was ihn interessierte.

Er spürte, wie der brennende Schmerz in seinen Fußballen zunahm. Zu viel Harnsäure, hatte ihm der Arzt erklärt. Das komme vom Alkohol. Brauser wusste, dass es bald schlimmer wurde. Er brauchte dringend einen Schnaps.

Viel Auswahl gab es hier nicht, nur etwas süßen Schoko-Sahne-Likör, einen halbvollen Williams Christ und einen Kräuterschnaps, den er dann schließlich wählte. Einen kleinen nur, denn noch war er im Dienst. Aber es gab Einsätze, bei denen musste man auf die Regeln pfeifen und im Grunde, was sollte ihm jetzt noch passieren? In sechs Wochen ging er in Pension. Danach war es ohnehin vorbei mit den Regeln und allem, was seinem Leben einen Sinn und Rahmen gegeben hatte. Oder war es nicht jetzt schon vorbei? Neben dem Regal stand ein Holzständer mit einer Geige. Ein sehr schönes Instrument, das wunderbar in der Hand lag. Er nahm den Bogen in die rechte Hand und tat so, als könne er spielen. Schade, er hatte nie Zeit gefunden, ein Instrument zu lernen und für so etwas Teures hatte man bei Brausers auch kein Geld gehabt. Seine Eltern hatten viele Mäuler zu stopfen, denn sie waren zu Hause zu acht gewesen.

Vorsichtig, wie es sich für einen Laien gehörte, legte er alles wieder an seinen Platz zurück.

Nach einem zweiten Schnaps nahm er eines der Fotoalben aus dem Regal, setzte sich auf die vordere Sofakante und begann die Seiten durchzublättern. Sophia an der Ballettstange mit Haarknoten und mit Zahnlücke beim schüchternen Lächeln zwischen Mama und Papa sitzend. Er im dunklen Anzug, sie im Kostüm. Alles sehr schick, sehr gediegen, sehr stolz. Ein Mädchen aus gutem Hause also. Prost! Brauser stand vom Sofa auf, trank einen dritten und allerletzten Schnaps und stellte Flasche und Album ins Regal zurück. An der Wand hingen gestochen scharfe Schwarz-Weiß-Fotos. Sie zeigten die Sängerin in ihren verschiedenen Rollen: als Heldin, Geliebte, Göttin. Ein Engel im Licht der Scheinwerfer, festgehalten in einem Augenblick, gemacht für die Ewigkeit.

Der Kommissar hatte seit dem Morgen nichts mehr gegessen, sodass er den Alkohol spürte, der ihn ein wenig versöhnlich stimmte und den Schmerz in seinen Füßen betäubte. Doch vor seinem inneren Auge war alles längst zu einem grauen, bleischweren Nebel geworden. Es gab keine Facetten mehr, keine Farbe und kaum Licht. Es gab nur noch diesen Schatten, der alles verschlang und auf einmal fragte er sich, was er hier überhaupt machte. Das hier konnte nicht sein Fall werden! Wie sollte er ihn auch lösen? Ihm blieb einfach nicht mehr genug Zeit dafür. Der Kommissar drehte eine letzte Runde durch die Wohnung. Er hätte gerne noch einen Schnaps getrunken, aber das kam nicht infrage. Energisch schaltete er das Licht aus. Es war höchste Zeit für ihn.

***

„Berthold, jetzt reiß dich doch mal zusammen!“ Oberstaatsanwalt Dr. Dieter Schwertfeger schlug nach Brausers Bericht einen freundschaftlich strengen Ton an. „Wer außer dir kann den Fall denn lösen?“

„Das überlasse ich dir!“ Brauser lehnte sich in dem gemütlichen Besucherstuhl der Staatanwaltschaft zurück und trank langsam einen Schluck des malzig weichen Whiskeys, bevor er fast trotzig hinzufügte: „Ich bin krank.“

„Du fühlst dich krank“, verbesserte der Staatsanwalt geduldig. „Du hast den jungen Hollermann und dein Mädchen, die kleine Steinbacher. Lass sie den Fall der toten Sängerin ermitteln und kümmere du dich primär um den Automord. Es wird ohnehin Zeit, dass du die Jungen ran lässt. Lass sie zeigen, was sie können! Es reicht ja vielleicht, wenn du sie unterstützt, die Ergebnisse besprichst und in schwierigen Situationen eingreifst. Und ich bin ja auch noch da.“

„Du verstehst mich nicht, Dieter, ich kann nicht!“

„Ach was, deine Fische werden schon noch auf dich warten. Und gibt es was Schöneres, als eine lange Kriminalkarriere mit einem richtig großen Fall abzuschließen?“

Brauser schüttelte resigniert den Kopf. Schwertfeger konnte ihn einfach nicht verstehen. Dabei hatten sie schon zusammen Jura studiert, bis Brauser gemerkt hatte, dass es ihm mehr Spaß machte, die Wahrheit zu suchen, statt anderer Leute Lügen zu verteidigen. Er hatte immer seinen Kopf durchsetzen wollen und nicht den anderer retten. Trotzdem waren die beiden natürlich gute Freunde geblieben und, was noch wichtiger war, inzwischen ein gutes Team. Brauser ermittelte, Schwertfeger hielt ihm den Rücken frei. Vor allem wenn er auch einmal unkonventionelle Maßnahmen ergreifen musste. Gemeinsam mit ihren Ehefrauen hatten sie viel unternommen, bis der Staatsanwalt sich von seiner ersten Frau Johanna trennte und Maria mit der Neuen einfach nichts anfangen konnte, wie sie immer wieder betonte.

„Ist alles in Ordnung bei dir zu Hause? Was macht Maria? Ich habe sie lange nicht gesehen.“

„Was hat Maria damit zu tun?“

„Kümmert sie sich um dich?“

„Ja, natürlich.“

„Ich meine, du weißt schon, manchmal braucht ein Mann einen Tapetenwechsel.“

Brauser stellte sein Glas energisch auf den Schreibtisch. Sein Ton wurde angriffslustig. „Du meinst, so wie bei dir?“

Resigniert schnaufte sein Freund aus und griff nach seiner Pfeife, die er immer in Reichweite hatte, aber nie ansteckte. Sie beruhigte ihn einfach.

„Okay, okay.“ Abwehrend hob er die freie Hand. „Wir besprechen den Fall morgen in der großen Runde, vielleicht gibt es dann ja auch schon weitere Fakten. So und jetzt sag mir lieber mal, wie es in dem Automord weitergeht.“ Der Kommissar sah auf die Uhr. „Wenn du Zeit hast, sprechen wir den ganzen Fall einmal durch, ich komme ohnehin nicht weiter.“ Mit dem Themawechsel hatten beide rasch zum gewohnten Ton zurückgefunden. Schwertfeger nickte, stand auf und ging zu dem Sideboard aus Eichenholz, das neben der Tür stand, um die Whiskeyflasche herüberzuholen. Draußen wurde es langsam dämmrig und in den übrigen Dienstzimmern machten die Kollegen bereits Feierabend – wahrscheinlich verdientermaßen. Aber an solche Zeiten hatten sich in all den Jahren weder Brauser noch Schwertfeger gehalten. Großzügig schenkte der Staatsanwalt für beide ein, dann lehnte er sich zurück und hörte seinem Freund aufmerksam zu.

„Klaus Wallenstein, siebenundvierzig Jahre, wohnhaft in Frankfurt am Main, starb in der Nacht vom 16. auf den 17. August. Eine Streife fand ihn am Morgen auf dem Parkplatz in Ingling. Zunächst mussten wir davon ausgehen, er sei mit seinem Mercedes am Abend dorthin gefahren und von Unbekannten erschossen worden. Der oder die Schützen hatten ihn zweimal mit einem großkalibrigen Geschoss in den Kopf getroffen. Die Windschutzscheibe war zersprungen und auch die Karosserie wies mehrere Einschüsse auf. Insgesamt vier. Wir gehen von einem Revolver aus, da am ganzen Tatort keine Patronen gefunden wurden. Dafür fanden wir etwas anderes. Etwas sehr Interessantes: Die Haut des Toten wies an beiden Handgelenken und am Hals Vertrocknungsspuren auf, die daraufhin deuten, dass er vor seinem Tod gefesselt wurde. Wir glauben, man hat ihm die Schlinge um den Hals gelegt und ihn damit an seinen Sitz gebunden, ihn mit einer Waffe bedroht und gezwungen, auf den Parkplatz zu fahren. Dem Opfer wurden dann die Hände gefesselt, er wurde durch die Windschutzscheibe erschossen. Allerdings fanden wir nur einen Strick, der zu den Spuren am Hals passte. Dieser lag auf dem Rücksitz. Die Täter, wir gehen den Fußspuren nach von mehreren aus, haben ihn also nach der Tat wieder losgebunden und die Stricke mitgenommen.“

Der Kommissar nahm einen kleinen Schluck Whiskey und erwärmte in langsam im Mund, bevor er ihn hinunterschluckte und berichtete dann weiter. „Er trug einen Anzug von guter Wollqualität. Wir fanden seinen Ausweis, aber weder Kreditkarten noch Bargeld. Augenscheinlich wurde er durchsucht und alles von Wert wurde mitgenommen.“ Brauser sah seinen Freund an, ohne auf einen Einwand oder eine Frage zu warten.

„Sein Gesicht war durch die Einschüsse zwar völlig unkenntlich und wir mussten auf eine DNA-Untersuchung zurückgreifen, aber da ja der Ausweis noch in seiner Brieftasche steckte, und auch das Auto auf den Toten zugelassen war, konnte es wohl nicht Sinn der Täter sein, seine Identität zu verschleiern.“

„Was sehr gut zu einem Racheakt in Dealerkreisen passen würde“, warf Schwertfeger ein und ließ seinen Freund kopfschüttelnd weiterberichten.

„Du erinnerst dich richtig. In den ersten Ermittlungsansätzen sah es tatsächlich so aus, als habe er mit Drogen gehandelt, denn auf dem Anzug des Toten fanden wir Tabak und Ascheteilchen von Marihuana, außerdem einige Jointstummel am Tatort.“

Brauser trank sein Glas leer und ließ sich dann nachschenken. Eine Weile blieb es still im Raum. Die Dunkelheit, die draußen vor den Fenstern eine undurchdringliche Wand gebildet hatte, schien hereinzudrängen und das Licht der Schreibtischlampe aufzusaugen.

„Es hat tatsächlich alles für einen Mord im Milieu gesprochen. Das Auto, der Parkplatz, das Rauschgift und vor allem die Todesart, die stark an eine Hinrichtung erinnerte. Wir ließen den Wagen von Drogenspürhunden durchsuchen, aber die fanden keine weiteren Indizien und dann kam ja auch die Wende aus der Rechtsmedizin in München: Getötet hatten Klaus Wallenstein nicht die Schüsse, er war bereits Stunden vorher an einer Luftembolie in der rechten Herzkammer gestorben. Ihn Stunden nach seinem Tod noch zu erschießen, machte natürlich überhaupt keinen Sinn, es sei denn, der Täter war sich nicht sicher, ob Wallenstein überhaupt tot war, und wollte ihn mit dieser Ungewissheit nicht auf dem Parkplatz zurücklassen. Aber passte das zu unserer Theorie, dass es sich um Rache handelte? Die Einstichstelle befand sich in der linken Armbeuge. Der Tod trat gegen Mitternacht ein und auf dem Parkplatz war es dunkel. Kann man bei den schlechten Lichtverhältnissen eine Vene punktieren? Wir haben den Parkplatz überwacht und festgestellt, dass er um diese Zeit durchaus noch frequentiert wird. Das Risiko, entdeckt zu werden, war groß. Also suchten wir Zeugen. Tatsächlich meldeten sich einige und in einem Punkt deckten sich ihre Aussagen: Keiner hatte am späten Abend des 16. August einen silbergrauen Mercedes auf dem Parkplatz beobachtet.

Daraufhin ließ ich von der KTU das gesamte Auto noch einmal auseinandernehmen und das war ein Aufwand, der belohnt wurde. Wir fanden schwarze chemische Fasern, wie von billigem Satin auf beiden Sitzen und auch auf dem Hemd des Toten. Und es wird noch besser: Abriebspuren vom Strick an der Kopfstütze des Beifahrersitzes. Wallenstein war also auf dem Beifahrersitz festgebunden und dann erst auf den Fahrersitz gesetzt und dort erschossen worden. Der Befund der Rechtsmedizin brachte endgültig den Beweis. Er war angeschnallt, aber sein Kopf nicht mehr mit dem Strick fixiert, als ihn die Schüsse trafen.“

„Sonst wäre am Strick ja sicher auch Blut gefunden worden.“

„Nicht unbedingt, denn da er ja schon Stunden tot war, bluteten seine Wunden auch nicht mehr.“ Brauser war, erregt von seiner Zusammenfassung, immer weiter nach vorn gerutscht und lehnte sich jetzt, da alle Fakten auf dem Tisch lagen, wieder etwas entspannter zurück. „Sechs Wochen gute Arbeit und doch sind wir noch immer nicht wirklich weiter gekommen. Wir haben die Waffe nicht. Wissen nicht, wo Wallenstein starb, geschweige denn, wo er sich vor seinem Tod aufgehalten hat. Das Gesicht lässt sich durch die Schüsse nicht rekonstruieren und die Familie besitzt nur alte Fotos von ihm, auf denen ihn wohl selbst dann niemand mehr erkennen würde, wenn er ihn erst kürzlich gesehen hätte. Wir haben seinen Bruder befragt. Die beiden hatten ein sehr enges Verhältnis. Wallenstein war Geschäftsmann, handelte angeblich mit Systemküchen. Vielleicht war das ja nicht alles und vielleicht stand er jemandem im Weg und musste deshalb sterben. Seiner Sekretärin hat er nicht gesagt, wo er hinwollte, und im Auto fanden wir keinen Terminkalender. Ob er Gepäck dabei hatte, konnte die Ehefrau nicht sagen. Geschäftlich schien er nicht unterwegs zu sein, das haben wir überprüft. Was also wollte er hier?“, fragte sich der Kommissar zum wiederholten Male selbst.

„Was ist mit dem Marihuana?“, warf Schwertfeger ein.

„Der Bruder sagt natürlich, das könne er sich nicht vorstellen, dass er etwas mit Marihuana zu tun hatte, und auch seine Frau war ganz entsetzt, als die Kollegen sie mit dieser Theorie konfrontiert haben. Allerdings konnte sie bisher auch noch nicht schlüssig nachweisen, wo ihr Mann die letzten Tage gewesen ist. Sie ist in der Politik sehr engagiert und, so wie es aussieht, ist jeder seinen eigenen Lebenszielen nachgegangen. Mal ganz ehrlich, Marihuana ist ein Rauschgift für die Jungen, die Ausgeflippten. Leute wie Wallenstein handeln vielleicht damit, aber sie rauchen es nicht.“

„Er hat aber nicht damit gehandelt?“

„Zumindest fanden sich keine Spuren, außer denen auf seiner Kleidung.“

„Vermutlich ist er von Marihuana rauchenden Tätern getötet worden, die vielleicht so zugekifft waren, dass sie gar nicht wussten, dass er bereits tot war, als sie auf ihn schossen.“

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