Kitabı oku: «Spielzeit», sayfa 2

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Kapitel 2

Köln, 6. August 2014

Jochen Weber fuhr auf den überfüllten Parkplatz der Bar, die er seit zehn Jahren betrieb und spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Die Autos standen bereits bis auf die Straße und den Stellplätzen der anderen Geschäfte. Er fuhr zur hinteren Seite, setzte sich in die letzte verfügbare Parklücke der Angestelltenparkplätze. Seinen Platz. Der, der immer frei blieb. Vor dem Parkplatz thronte ein riesiges Schild, das Torsten entworfen hatte, nachdem der Laden angezogen hatte.

Wenn ihr hier trinken wollt, parkt nicht hier! (Es sei denn, ihr arbeitet hier.) In diesem Fall allerdings, Trinken während der Arbeit nicht gestattet!

Über die Jahre hatte sich diese Lücke zu seinem Platz entwickelt, keiner seiner Angestellten wagte es dort zu parken. Für einige Minuten blieb er im Auto sitzen, starrte abwechselnd zwischen der Bar und den Leuten, die dort hineilten hin und her. Die Hintertür schwang kurz auf und Nguyen, einer seiner Kellner trat mit mehreren Müllsäcken in den Händen heraus. Jo seufzte und öffnete die Autotür, entschlossen es hinter sich zu bringen. Als er sich dem Gebäude näherte, sah er auf seine Uhr und bereute es sofort.

Das beschädigte Schmuckstück war das, welches Torsten am Abend des Unfalls getragen hatte, die Nacht in der er gestorben war. Jo musste unwillkürlich lächeln, als er das Wort „Spielzeit“ las, das dort prangte. Er glaubte die neckende Stimme seines Mannes zu hören, der ihn milde maßregelte, ihn daran erinnerte, dass ein überfüllter Parkplatz eine volle Bar mit sich brachte. Das bedeutete, ein Bombengeschäft und es gäbe nichts Besseres als das! Besonders um 21.30 Uhr an einem Mittwoch, noch ziemlich früh und das Wochenende noch lange hin.

Jo blinzelte seine Tränen zurück und winkte seinem Angestellten zu, der jetzt an einer Wand lehnte und in sein Handy sprach. Der Junge grüßte zurück und Jo zog die Tür mit dem „Nur Personal“ Schild auf. Im Vorbeigehen warf er einen Blick auf das Logo der Bar, „OJ’s“. Das hatte im vergangenen Jahrzehnt für einige Lacher gesorgt, weil die meisten Gäste annahmen, es stünde für die Abkürzung des englischen Wortes Orangensaft und das in einer Bar, wo hauptsächlich Alkoholisches ausgeschenkt wurde. Jo hatte das immer so stehen lassen.

Es war ihm ziemlich schnuppe, was die Leute über den Namen dachten. Eigentlich hatten die Buchstaben für Oliver und Jo gestanden, seinem ersten Liebhaber und ihm, aber jetzt diente es nur noch als Erinnerung. Eine Ermahnung, sich nicht mit ungeouteten Männern einzulassen, egal ob romantisch oder beruflich. Da die Initialen umgedreht seinen Spitznamen ergaben, hatte er sich nie die Mühe gemacht, sich etwas anderes auszudenken.

Oliver hatte sich aus dem Staub gemacht, bevor sie überhaupt eröffnet hatten. Er hatte ihren Traum weggeworfen und eine reiche Hotelerbin geheiratet, sich ins gemachte Nest gesetzt. Das hatte ihm auf einen Schlag alles verschafft, was er immer gewollt hatte: Macht und Reichtum! Jos Liebe und sein einfacher Wunschtraum von einer erfolgreichen kleinen Bar hatten damit nicht konkurrieren können.

Jo schob die bitteren Gedanken beiseite und suchte sich seinen Weg durch die Ladezone. Am Rande registrierte er das Chaos, bevor er die eigentliche Bar betrat, wo er von den tanzenden Männern fast erschlagen wurde. Beweise seines Erfolgs stießen ihn von allen Seiten an, als er sich einen Weg durch die Menge bahnte.

Beinahe sofort bemerkte ihn sein Chefbarkeeper Diego, ein dunkelhäutiger Endzwanziger, dessen Mutter aus der Dominikanischen Republik stammte und grinste. Er winkte und bedeutete Jo hinter den Tresen zu kommen, wo er beschäftigt war, Drinks auszugeben und zu der ohrenbetäubenden Musik zu tanzen. Nur zögernd folgte Jo der Aufforderung. Er hatte gehofft, unbemerkt in sein Büro schleichen zu können, aber nun? Diego zu ignorieren war keine Option. Er war ein guter Freund und hervorragender Geschäftsmann und Jo brauchte ihn zu sehr, um eins davon zu riskieren.

„Hallo, Chef! Bist du zum Spielen hier oder kommst du, um mich zu überprüfen?“ Diego zwinkerte, die weißen Zähne blitzten in dem dunklen Gesicht und die Rastalocken flogen wild hin und her. Jo konnte nicht anders als zurückgrinsen.

„Gott allein weiß, dass dieser Ort auseinanderfallen würde, wenn man dich nicht im Auge behält. Keine Ahnung, warum ich dich behalte.“ Er erwiderte Diegos Zwinkern, während er automatisch in die Rolle eines Barkeepers fiel, Bestellungen annahm und Drinks mixte.

Jo hatte Diego vor vier Jahren eingestellt und er war schnell zu einer unschätzbaren Kraft geworden, besonders als Torsten gestorben war. Als Jo zusammengebrochen war, hatte er das Zepter in die Hand genommen, beinahe jeden Aspekt des Geschäfts gemanagt. Jo hatte ihn daraufhin offiziell zum Geschäftsführer befördert und seitdem lief der Laden wie von selbst oder besser, er lief durch Diego. Alles, was Jo noch tun musste, war an den markierten Linien zu unterschreiben, damit die Rechnungen und Gehälter bezahlt wurden.

Irgendwann musste er allerdings wieder anfangen sich in die Bar einzubringen oder komplett aussteigen, denn die Regelung war für keinen fair. Diese Bar war sein Traum und die Früchte von viel schweißtreibender Arbeit über ein Jahrzehnt lang. Der Gedanke, dass aufzugeben, verursachte ihm ebenso Bauchschmerzen wie der Lärm und die vielen Menschen um ihn herum.

Trotz der vertrauten Routine wurde er nach einigen Minuten bereits nervös, er fühlte sich unter so vielen Leuten nicht mehr wohl. Einst hatte er davon gelebt, aber jetzt legte es seine Nerven blank und er war kurz vorm Überschnappen. Besonders mit der Schuld, die ihn zusätzlich niederzwang. Als Torsten gestorben war, hatte Jo jegliches Interesse an allem verloren, besonders dem „OJ’s“. Er hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, zuzumachen, nachdem die Bar beinahe durch Vernachlässigung den Bach heruntergegangen wäre.

Diego zu befördern war der letzte Ausweg gewesen und dieser hatte es bewundernswert geschafft, wieder Leben in den Laden zu bringen. Er schuldete dem anderen Mann viel mehr als nur Dankbarkeit für jeden Tag, den er hier blieb und die Bar am Laufen hielt, weil Jo das nicht mehr konnte.

Sich in der Bar umsehend, glaubte Jo in jeder Ecke seinen Mann zu sehen, immer außerhalb seiner Reichweite. Die Erinnerungen waren überall und auch nach beinahe zwei Jahren zu schmerzhaft, um sich ihnen komplett zu stellen. Um sich abzulenken, griff er nach einem Lappen unter der Kasse und wischte über den Tresen. Diego beobachtete ihn eine Weile, doch Jo weigerte sich, seinem Blick zu begegnen. Es gab keine Flecken auf der Theke, aber er konnte nicht aufhören. Er musste zumindest die Illusion von Beschäftigung aufrechterhalten.

Diego schenkte einige Biere aus, dann kam er zu Jo hinüber. Eine dunkle Hand legte sich auf seine, stoppte seine Bewegungen. „Bist du okay, Chef?“

Jo nickte, rückte vom Tresen ab und gab Diego ein flüchtiges Lächeln. „Ja, alles klar. Hab‘ nur gerade ziemlich viel im Kopf. Ich dachte, ich komm‘ vorbei, um mir die neuesten Zahlen anzusehen, die Rechnungen zu begleichen, mal schauen, wie viel Kapital wir flüssig hätten. Ich denke darüber nach, den Boden der Bühne zu erneuern, vielleicht auch eine Erweiterung. Wir hatten schon ewig keine Live-Auftritte mehr und es gibt eine Menge toller lokaler Bands, die wir buchen könnten. Müssen uns etwas einfallen lassen, um den Laden interessant zu halten.“ „Das wäre ein guter Start. Die Bühne ist viel zu lange leer gewesen.“

Diego schüttelte seinen Kopf, gab zwei weitere Drinks aus, bevor er sich zu Jo umdrehte. „Du solltest wirklich darüber nachdenken, die Bar auszubauen. Am Wochenende erreichen wir regelmäßig unser Limit und müssen sogar Leute wegschicken. Die Seitenwand auf der linken Seite könnte raus, damit hätten wir doppelt so viel Platz. Wir könnten eine zweite Bar auf der anderen Seite aufstellen, mit einem so richtig offenen Grundriss, wo man von einem Ende zum anderen sehen kann.“ Diegos Augen schimmerten vor Aufregung, als er die Möglichkeiten aufzählte.

Jos Kehle verengte sich und er dachte an die Zeit zurück, als er noch diese Leidenschaft für das Geschäft gehabt hatte und zahlreiche Hoffnungen für die Zukunft. Torsten und er hatten dieselben Pläne einige Monate vor dem Unfall diskutiert. Die Aussicht erfüllte ihn jetzt mit Furcht und Erschöpfung anstelle der Aufregung, die er bei seinem Geschäftsführer sah. „Wie gesagt, ich denke darüber nach, aber ich glaube, ich werde alt, müde.“

Diego schnalzte missbilligend mit der Zunge. Er kam auf Jo zu, die Hände in die Hüften gestützt, mit einer grimmigen Miene. „Wie kommst du darauf, dass du alt bist? Müde bist du, weil du dich selbst runterziehst und dir die Schuld für etwas gibst, dass du gar nicht kontrollieren konntest. Torsten hat dich geliebt und er würde nicht wollen, dass du ihm ewig nachtrauerst. Vor allen Dingen würde er nicht wollen, dass du deinen Traum, deine Existenz aufgibst. Es sind beinahe zwei Jahre, Jo. Lass los. Warum gehst du nicht da raus auf die Tanzfläche, suchst dir einen Freund für eine Nacht, hast ein wenig Spaß?“

Jo biss seine Zähne zusammen und sah über die Bar hinweg auf die Tanzfläche, wo sich heute hauptsächlich junges Publikum zu den beschwingten Rhythmen austobte. „Du gehst zu weit, Diego. Es mögen beinahe zwei Jahre sein, aber Torsten und ich kannten uns dreißig, sechs davon waren wir ein Paar. Ich bin fünfunddreißig! Ich weiß, dass ich noch nicht tot bin und ich weiß auch, dass ich als guter Fang angesehen werden kann. Doch ich suche nicht irgendeinen blutjungen Kerl für einen schnellen Fick. Ich suche überhaupt nicht, klar? Lass es gut sein.“

So rasch, wie der Ausbruch gekommen war, verschwand sein Zorn wieder. Er fühlte sich ausgelaugt und beschämt. Diego hatte ihm nur helfen wollen und er hatte eigentlich auch recht. Obwohl Jo sich nicht einmal vorstellen konnte, wieder auszugehen, er musste öfters raus seinem Schneckenhaus, wieder Spaß haben, sonst würde er komplett in Depressionen versinken. Er hatte bloß keine Ahnung mehr, wie das ging. Schwer schluckend wandte er sich von der verletzten Miene Diegos ab.

„Es tut mir leid. Was ich gesagt habe, war daneben.“ Jo warf den Lappen in einen Korb hinter sich und verließ den Tresen. Über die Schulter warf er dem anderen Mann ein entschuldigendes Lächeln zu, bevor er sich rasch in sein Büro zurückzog.

An seinem Schreibtisch starrte Jo zornig auf den Packen von drei Tagen Post, die darauf wartete, sortiert zu werden. Mit einem resignierten Seufzen arbeitete er sich durch Rechnungen und Werbebriefe. Er hasste Büroarbeit, aber sie musste getan werden und es auf jemand anderen abzuwälzen war undenkbar. Wenn auch nichts anderes, zumindest die Buchhaltung lag noch in seiner Verantwortung.

Endlich das Ende des Stapels erreichend, gefroren seine Hände über einem großen, rosafarbenen Briefumschlag. Als er das verdammte Ding anhob, zitterten seine Finger und ein schneller Blick auf den Absender bestätigte seine Befürchtungen. Der Brief war von Oliver und Bettina Marquardt.

In seinem Kopf begann es zu hämmern und es bildeten sich sogar Tränen in seinen Augen. Was hatte er getan, um so grausam an sein erstes gebrochenes Herz erinnert zu werden? Er versuchte, die schmerzhaften Erinnerungen abzublocken und riss den Umschlag entschlossen auf. Beinahe hätte er laut gelacht, als eine fast identische Karte wie damals hinausfiel.

‚Nach zehn Jahren erneuern Oliver und Bettina Marquardt ihr Ehegelübde ...‘

Zehn Jahre. Oliver war jetzt bereits seit einem Jahrzehnt verheiratet. Verdammt, irgendwie kam ihm das alles unreal vor. Er liebte Oliver nicht mehr, doch er war nie in der Lage gewesen, komplett loszulassen. Die Bitterkeit darüber, wie ihre Beziehung geendet hatte, verfolgte ihn weiterhin. Auf seine zitternden Hände starrend, realisierte er, dass er damit abschließen musste und sein Herz wurde von Schuld überflutet. Er hatte sechs Jahre lang einen wundervollen Mann geliebt, der diese Gefühle erwidert hatte, aber all die Zeit hatte ein winziger Teil von ihm an dem Wunschtraum festgehalten, den er mit Oliver geteilt hatte.

Verflucht noch mal, sein Traum hatte sich erfüllt, nur eben mit Torsten und nicht mit seinem Ex. Er hätte etwas tun müssen, um seinem Mann zu zeigen, wie sehr er ihn schätzte, öffentlich anerkennen, welch große Rolle er in seinem Leben eingenommen hatte. Den Namen der Bar ändern, als Oliver abgehauen war. Torstens Einfluss war überall sichtbar, in der Deko, bei der Musik, die sie spielten, aber Olivers verdammter Stempel hing immer noch über der Tür.

Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Überlegungen und er sah hoch, als Diego das Büro betrat. Er kam langsam hinein, betrachtete ihn einen Moment schweigend. „Du bist schon lange hier drin. Ist alles Okay, Chef?“

Jo umfasste die Einladung in seiner Hand fester, wusste nicht, was er seinem Freund antworten sollte. Der Barkeeper streckte seine Hand aus, berührte ihn und griff dann nach der Karte. „Darf ich?“

Er nickte und Diego nahm die Einladung in seine Hand. Jo faltete seine Hände zusammen und studierte sie, während sein Freund die Karte las. Er schnaubte und Jo riss seinen Kopf hoch, überrascht, als er Diego grinsen sah. „Was ist so lustig?“

Der Barkeeper schüttelte seinen Kopf und wedelte mit der Einladung vor ihm herum. „Das ist perfekt! Genau das, was du brauchst. Ein Tapetenwechsel. Das sind Freunde von dir, richtig? Ein Schlosshotel in der Nähe von Berlin. Perfekt, um zu entspannen, ein wenig Frieden zu finden.“

Der Ausdruck auf Diegos Gesicht war triumphierend und Jo musste lächeln. Sein Freund hatte keine Ahnung, wer Oliver war, kannte die Vergangenheit nicht und verstand somit auch nicht, was er da vorschlug, aber Jo musste zugeben, dass er recht hatte. Er brauchte einen Tapetenwechsel und das war die perfekte Gelegenheit. Er brauchte nicht nur Urlaub, er musste endlich mit diesem Lebensabschnitt abschließen.

Wenn er Oliver mit seiner Ehefrau zusammen sah, immer noch glücklich nach einem Jahrzehnt, vielleicht half ihm das dann, ihre gescheiterte Beziehung endlich abzuhaken. Vielleicht fand er danach einen Weg seine erste Liebe zu begraben und den Schatten zu vertreiben, der über seinem Leben lag.

Jo nahm Diego die Karte wieder ab und hob eine Augenbraue. Studierte den jüngeren Mann, als er seine Optionen abwägte. „Nun, ich wäre mindestens eine Woche weg. Denkst du, du kannst diesen Laden so lange allein am Laufen halten?“

Sein Barkeeper sprang vom Schreibtisch und stieß die Faust in die Luft. Die Rastalocken wirbelten wild hin und her, als er einen Freudentanz aufführte. Jo schüttelte schmunzelnd den Kopf. War er auch mal so sorglos gewesen? Schließlich beruhigte sich der jüngere Mann. Er beugte sich über den Tisch, sah Jo ernst an. „Ich halte diese Bar zusammen, solange du es brauchst, Chef. Komm‘ wieder auf die Beine.“

Jo sah noch einmal auf die Einladung und nickte dabei entschlossen. Die Reise würde ihm guttun und vielleicht gab sie ihm endlich den Frieden, den er so verzweifelt suchte. Seine Affäre mit Oliver hatte mit einer Hochzeit geendet, und obwohl er es zu diesem Zeitpunkt nicht realisiert hatte, seine Beziehung zu Torsten war genau an diesem Tag geboren worden.

Jo wollte diese Augenblicke noch einmal einfangen, sie sortieren. Er wollte in der Lage sein, Oliver zu gratulieren und danach würde er den Club aufsuchen, wo er und Torsten ihren ersten betrunkenen Kuss geteilt hatten. Er sah Diego an. „In Ordnung, ich fahre.“ Sein Freund grinste und klopfte ihm auf die Schulter. „Du wirst es nicht bereuen, du wirst sehen.“ Jo erwiderte sein Lächeln und zuckte mit den Achseln. „Das will ich doch hoffen.“

Kapitel 3

Berlin, 11. August 2014

Andreas von Stetten zog an seinem Hemdkragen, rutschte auf dem Rücksitz des Taxis hin und her, während sich Schweißperlen auf seiner Stirn und in seinem Nacken bildeten. Es war furchtbar schwül geworden in den letzten Tagen und ausgerechnet jetzt musste er sich in Schale werfen. Er rieb sich über das feuchte Genick, hob seine etwas längeren Locken an, die dort festklebten.

Die Szenerie draußen wurde mit jeder Kurve immer vertrauter und sein Unwohlsein wuchs. Es war lächerlich. Er war zwanzig Jahre alt, ein erwachsener Mann, aber er hatte Angst vor seinen Eltern. Er studierte, damit er irgendwann in die Fußstapfen seines Großvaters und Stiefvaters treten konnte, obwohl ihn Hotelfach nicht im geringsten interessierte, doch bisher hatte er nicht den Mut gefunden, etwas zu sagen. Er fragte sich nicht zum ersten Mal, wann er endlich genug Selbstbewusstsein entwickelte, sich gegenüber seiner Familie zu behaupten.

Eine kleine Rebellion hatte er bereits geplant und sie lag ihm schon jetzt schwer im Magen mit der Aussicht auf eine unschöne Auseinandersetzung. Seine Eltern erwarteten ihn zwar, aber weder sein strenger Stiefvater noch seine unbeteiligte Mutter rechneten mit seinem Begleiter.

Sein Blick fiel auf den attraktiven Mann an seiner Seite, seinen Freund Philipp Heger. Der große, schlanke Mann war ein berühmtes und gut bezahltes Model gewesen, der jetzt bequem von seinen Ersparnissen und Investitionen lebte. Er war als Kind entdeckt worden und hatte nach zwei Jahrzehnten im Geschäft die Schnauze voll gehabt.

Philipp sah, wie er starrte, und schüttelte seinen dunklen Kopf, wo nicht ein Haar aus der Reihe tanzte. Er griff mit seinen perfekt manikürten Händen zu ihm hinüber, strich ihm eine seiner unbändigen dunkelblonden Locken aus der Stirn, zwirbelte sie um einen seiner Finger und rutschte rüber zu ihm.

„Du solltest mich etwas mit deinen Haaren machen lassen, Schätzchen.“ Er zog an der Haarlocke, versuchte sie zu entwirren. „Deine Eltern könnten die Nachricht vielleicht besser verkraften, wenn du präsentabler aussiehst.“

Andy befreite sich aus Philipps Griff und verdrehte die Augen. Dann schüttelte er entnervt den Kopf. „Ich bin keine Modepuppe, Philipp. Außerdem wird es meinen Eltern egal sein, wie ich aussehe, wenn ich ihnen eröffne, dass ich schwul bin. Ich will es einfach nur hinter mich bringen.“

Als sein Freund sich zurückzog und seine Unterlippe in einem geübten Schmollen vorschob, wusste er, dass er wiederholt das falsche gesagt hatte. Manchmal ging ihm die Empfindlichkeit seines Geliebten tierisch auf die Nerven. „Wirklich, Andy, ich glaube langsam, dass du mich meiner schämst!“

Er kam wieder näher und stakte einen Finger in Andys Brust. „Ich werde nicht dein kleines schmutziges Geheimnis sein, verstanden? Wenn es dir zu peinlich ist, es deinen Eltern zu sagen, nun dann ...“ Philipp ließ den Satz unbeendet, schniefte und schlug eine Hand vor die Augen, als wolle er Tränen abwehren.

Andy sah nervös nach vorne zu dem Taxifahrer, fing dessen amüsierten Blick über den Rückspiegel ein. Der Mann zwinkerte ihm zu. Er lehnte sich erleichtert zurück und rutschte zu seinem Freund hinüber.

„Liebling, du weißt, dass das nicht stimmt. An der Uni und bei unseren Freunden bin ich doch geoutet. Hab‘ ich dich jemals versteckt? Aber meine Eltern und ich ... wir stehen uns nicht besonders nah. Mein Stiefvater lebt für das Hotel, wir haben nie eine richtige Bindung aufgebaut und meine Mutter? Ihr ist ihre Wohltätigkeit für fremde Menschen wichtiger als der eigene Sohn. Für mich ist diese Zeremonie eine Pflichtveranstaltung, die ich so schmerzlos wie möglich hinter mich bringen möchte. Mich ihnen gegenüber zu outen wird schwer sein und ich hab‘ einfach Angst. Ich will nicht, dass sie dich verletzen. Hab‘ ich dir eigentlich schon gesagt, wie froh ich bin, dass du mich begleitest?“

Das Taxi bog in diesem Moment auf den großen Kiesweg vor dem Hoteleingang ein und Philipp wurde einer Antwort enthoben, als er begeistert aus dem Fenster schaute. Andy seufzte. Sie stiegen aus, er bezahlte den Fahrer und ein junger Page nahm sich ihres Gepäcks an. Er griff nach Philipps Hand und zog ihn in die Lobby. „Verdammt, Schätzchen, als du sagtest, deine Eltern besäßen ein Hotel, war mir nicht bewusst, dass es die Topadresse Berlins ist. Wow!“

Andy lächelte, angetan von Philipps Reaktion. Sein Freund war im Laufe seiner Karriere bereits in vielen Luxushotels abgestiegen und er hatte befürchtet, dass das alte Schlosshotel da nicht mithalten konnte.

„Andy, du bist wieder da!“ Ein ohrenbetäubendes Kreischen ließ ihn zusammenzucken und er drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um den sommersprossigen Rotschopf aufzufangen, der sich in seine Arme warf. Er taumelte zurück, denn obwohl zwei Jahre jünger, war das dünne Mädchen beinahe zehn Zentimeter größer als er mit seinen 1,70 m.

Annika war die Tochter des Chefportiers Karl Franke. Ihre Mutter Sabine arbeitete hier im Hotel in der Küche. Wenn er in den Ferien vom Internat hierherkam, verbrachte er mehr Zeit bei Anni und ihren Eltern als bei seiner eigenen Familie. „Verdammt, Mädchen, ich werd‘ nicht mehr lange hier sein, wenn du mich nicht atmen lässt!“

Annika löste sich von ihm, grinste ihn an und wackelte mit dem Finger. „Du bist zäh, du hältst das schon aus.“

Der Portier hinter dem Empfangstresen lächelte und legte dann den Telefonhörer auf, in den er gerade gesprochen hatte. „Hallo, Herr von Stetten. Ihre Eltern erwarten Sie in der Wohnung. Haben Sie für ihren Gast ein Zimmer reserviert?“

Instinktiv griff Andy nach Philipps Hand. „Das wird nicht nötig sein, Bernhard. Mein Freund ist ein Gast der Familie und als solcher wird er in unserer Wohnung nächtigen. Sorgen Sie doch bitte dafür, dass unser Gepäck hinaufgebracht wird.“

Keine Gefühlsregung zeigte sich auf dem Gesicht des älteren Mannes, aber Andy hörte die Missbilligung nichtsdestotrotz in seinem kalten Tonfall. „Selbstverständlich, Herr von Stetten.“

Annika musterte seinen Begleiter neugierig mit offenem Mund, als sie die beeindruckende Erscheinung bewunderte. Sie beugte sich verschwörerisch zu ihm herunter. „Ich erwarte später einen vollständigen Bericht. Ich kann nicht glauben, dass du mir so ein Prachtstück verschwiegen hast. Aber jetzt gehst du besser hoch. Du solltest die Herrschaften nicht warten lassen.“

Er schnaubte. „Herrschaften, dass ich nicht lache.“ „Andy, es sind deine Eltern“, rief sie empört, und funkelte ihn an, bevor sie vergnügt zwinkerte. Sie wusste genau, was er von dem vornehmen Getue seiner Familie hielt.

„Danke, Anni. Wir sehen uns später.“ Nervös ging er in Richtung Fahrstuhl, Philipp dicht hinter ihm, der ungewöhnlich still geworden war. Die Aufzugtüren schlossen sich und Andy kam sich gefangen vor. Seine Hände zitterten und Schweiß bildete sich in den Handflächen, als er den Knopf für die oberste Etage drückte.

Der Aufzug setzte sich in Bewegung und Philipp drängte ihn in eine Ecke, beugte sich über ihn und platzierte seine Hände an der Wand neben Andys Kopf. „Endlich allein, wenigstens für einen Augenblick.“ Er neigte seinen Kopf, wollte einen Kuss, aber Andy duckte sich unter seinem Arm weg, ging zur anderen Seite der Fahrstuhlkabine. Er warf einen raschen Blick hoch in die Ecke, wo eine Sicherheitskamera hing, dann wandte er sich an seinen verärgerten Freund.

Philipp lehnte an der Wand hinter ihm, die Arme über der Brust gekreuzt und starrte ihn wütend an. Seine Lippen waren zu einem Strich zusammengepresst und Andy seufzte. Seine Zurückhaltung an öffentlichen Orten war ein ständiger Streitpunkt zwischen ihnen und Philipps Reaktion war nicht neu, aber Andy hatte jetzt keine Zeit, sich dafür zu entschuldigen oder zu rechtfertigen.

„Seit einem spektakulären Diebstahl vor drei Jahren gibt es hier überall Kameras. Die einzige Privatsphäre, die du im Hotel noch bekommst, ist hinter verschlossenen Türen.“ Sein Freund rollte mit den Augen, stieß sich von der Wand ab und baute sich dicht vor Andy auf. Dieser schluckte. Er mochte es nicht, wenn Philipp seine Körpergröße benutzte, um ihn einzuschüchtern. Es erinnerte ihn zu sehr an seinen Stiefvater, der dieselbe Angewohnheit hatte.

„Ich versteh‘ nicht, warum du solch ein Theater machst. Küssen ist kein Verbrechen und die Typen hinter der Kamera werden sich höchstens daran aufgeilen.“

Andy wollte ihn darauf hinweisen, dass es wohl kaum angebracht war, dass ihn Angestellte seiner Eltern bei so etwas Intimen beobachteten. Er hielt aber inne, als er sah, dass Philipp tatsächlich wütend war und nicht nur einfach eine Szene machte. Der Aufzug stoppte mit einem Klingeln und er fragte sich für einen Augenblick, ob er noch einen Freund hatte, den er vorstellen konnte. „Es tut mir leid.“

Philipp antwortete nicht. Schweigend verließen sie die Kabine und er führte seinen Freund über den Flur zu den Privaträumen seiner Familie. Er riskierte einen Blick über die Schulter. Sein Freund runzelte nicht mehr die Stirn, seine Miene war ruhig und freundlich, aber er sah Andy nicht an. Er lächelte ihn trotzdem an, hoffte, dass er verstehen würde.

Dann öffnete sich bereits die Tür zur Wohnung seiner Eltern und seine Mutter stand vor ihm. Sie reichte ihm die Hand, als wäre er ein normaler Gast und nicht ihr Sohn. Er nahm die Hand, drückte sie kurz und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Selbst seine Mutter war einige Zentimeter größer als er - sie war groß für eine Frau, er klein für einen Mann - und er fühlte sich immer wieder wie ein dummer Junge in ihrer Gegenwart. „Hallo, Mutter.“

„Andreas, willkommen zuhause!“

Seine Mutter musterte Philipp kritisch, nahm die elegante Erscheinung zur Kenntnis und streckte eine Hand aus, um ihn ebenfalls zu begrüßen. Eine leicht angehobene Augenbraue in Andys Richtung war das einzige sichtbare Zeichen ihrer Überraschung.

„Du hast einen Freund mitgebracht? Wie wundervoll!“ Kurz erhellte ein strahlendes Lächeln ihre Züge, dann wandte sie sich an ihren Sohn. „Möchtest du ihn nicht vorstellen, Schatz?“ „Doch, natürlich, aber können wir zuerst hineingehen? Ich möchte das alles nicht zweimal erzählen.“

Aus dem Augenwinkel sah Andy, wie Philipp die Stirn runzelte, doch er ignorierte es. Es war besser, wenn er die Ankündigung nur einmal machen musste. Er musste das auf seine Art bewerkstelligen. Hoffentlich konnte er das später mit Philipp klären, wenn sie sich in seine Räumlichkeiten zurückzogen.

Sie betraten die geräumige Diele und folgten seiner Mutter, die sie ins Wohnzimmer führte, wo sein Stiefvater wartete. Andys Unwohlsein wuchs. „Oliver, Schatz. Andreas ist hier und er hat einen Freund mitgebracht.“

„Das sehe ich. Willkommen zuhause, Andreas!“ Die Zeit, die Andy mit seinem Stiefvater verbrachte, machte ihn immer unbehaglich. Auf der einen Seite versuchte er natürlich, ihn zu beeindrucken und kämpfte um seine Aufmerksamkeit. Andererseits war er froh, wenn das Augenmerk des Stiefvaters nicht allzu deutlich auf ihm lag.

Jetzt, als Oliver Marquardt sich von der Couch erhob und den Raum durchquerte, um sie zu begrüßen, spürte er wieder diesen Anflug von Furcht und Stress in seinem Magen. Sein Stiefvater überragte ihn beinahe um einen Kopf und bewegte sich wie ein Raubtier, geschmeidig und gefährlich. Seine Augen fixierten Andys. Sein Gesicht zeigte keinerlei Emotionen - das tat es selten - und sein starrer Blick verstärkte Andys Nervosität.

Die meisten Menschen waren eingeschüchtert von Oliver Marquardt und Andy vermutete, dass sein Stiefvater es genauso wollte. Obwohl er trotz seiner Größe relativ schlank gebaut war, übernahm er jeden Raum mit seiner Persönlichkeit. Andy streckte die Hand aus.

„Hallo Oliver. Wie geht es dir?“ „Gut, mein Sohn, gut!“ Andy schluckte. Ein Wort, das Oliver sehr oft benutzte, aber nicht mehr war als eine unbedeutende Floskel, um Außenstehende zu beeindrucken.

Sein Stiefvater erwiderte den Händedruck und zog ihn dann plötzlich in eine harte Umarmung, schlug ihm fest auf den Rücken, bevor er ihn wieder losließ. Die Umarmung war unerwartet, etwas, das Oliver noch nie getan hatte. „So, wer ist dieser junge Mann, den du mitgebracht hast?“ Als sein Stiefvater seine Aufmerksamkeit auf Philipp richtete, ihn von Kopf bis Fuß in Augenschein nahm, begann Andy zu zittern.

„Mutter, Oliver, das ist Philipp Heger.“ Er sah seinen Freund an, bat stumm um Hilfe, aber dieser hob nur erwartungsvoll eine Augenbraue und wartete darauf, dass Andy seine Anwesenheit erklärte. Andy lächelte schwach, nahm einen tiefen Atemzug und sagte mit gesenktem Blick: „Er ist mein Partner.“

Seiner Erklärung folgte Stille, die sich hinzog. Seine Eltern tauschten einen Blick, dann trat seine Mutter vor und gab Philipp erneut die Hand. „Nun, das ist eine Überraschung. Es ist mir ein Vergnügen Sie kennen zu lernen, Philipp. Bitte nehmen Sie doch Platz.“

„Vielen Dank, Frau Marquardt. Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite.“ Philipp erwiderte den Händedruck und folgte ihr zur Sitzgruppe, wo seine Mutter sich in ihrem obligatorischen Sessel niederließ, während sein Freund ihr gegenüber auf dem Zweisitzer Platz nahm.

Betäubt von der lässigen Reaktion seiner Mutter wagte er einen Blick auf seinen Stiefvater, um dessen Laune abzuschätzen. Der Ausdruck in den blauen Augen verwirrte ihn. Er konnte es nicht genau beschreiben, er schien weder wütend zu sein oder angeekelt, eher ... interessiert. Oliver lächelte ihn wissend an, schlug ihm auf die Schulter und schob ihn zur nächsten Couch. Andy setzte sich neben seinen Freund, der sofort seine Hand ergriff, während sein Stiefvater sich ihnen gegenübersetzte.

„Nun, Philipp war es, richtig? Wieso erzählen Sie uns nicht ein wenig über sich? Haben Sie sich an der Universität kennen gelernt?“ Aufgeregt und geschmeichelt über die Aufmerksamkeit, stürzte sich Philipp in Geschichten über seine Karriere. Oliver und seine Mutter schienen ihm bewundernd zu lauschen, gaben seinem Freund das Gefühl willkommen zu sein, während Andy wie betäubt danebensaß. Er kniff sich in den Arm, überzeugt, dass er träumte. Das geschieht doch gerade nicht wirklich, oder?

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