Kitabı oku: «Spielzeit»
Dani Merati
Spielzeit
Schwarz auf Weiß
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Impressum neobooks
Kapitel 1
Köln, Freitag, 26.9.14
Er betrat das Spielzimmer, als gehörte es ihm. Seine Selbstsicherheit war greifbar und brachte jeden im Raum dazu, den Neuankömmling anzusehen, ihn zu begehren. Sebastian lehnte sich an die Wand zurück. Er brauchte die Dunkelheit, die der Schatten ihm gab, um sich auf die Präsenz des anderen Mannes vorzubereiten.
Niemand ging wie er, mit einem wiegenden Schritt, als lausche er einer nur ihm zugänglichen Melodie und bewegte sich in ihrem Rhythmus. Keiner sah aus wie er, groß und ein wenig schlaksig, mit Muskeln genau an den richtigen Stellen und einer Haut wie Milchschokolade. Und nicht einer hatte die Fähigkeit ihm den Atem zu rauben, wie Diego Mahler es tat.
Auch nach den mittlerweile fünf Jahren, die er ihn jetzt kannte - und unzähligen Affären später - zwang ihn dieser Typ in die Knie.
„Du bist dran.“ Bedauernd riss Sebastian die Augen von seinem Traummann los und konzentrierte sich auf den Mann vor ihm. Jo Weber, sein bester Freund seit dem Sandkasten. Bis vor einigen Jahren waren sie sogar ein Trio gewesen, mit Torsten als Dritten im Bunde. Dessen Tod hatte einen riesigen Krater hinterlassen und Jo beinahe zerstört, der ihn unendlich geliebt hatte. Unwillkürlich glitt sein Blick zu dem Lockenkopf, der auf einem Barhocker thronte und dem Billardspiel nur zusah. Andy hatte seinem Freund wieder neues Glück gebracht und allein das war schon Grund genug für ihn, den Kleinen ins Herz zu schließen.
Der zwinkerte ihm jetzt zu. „Willst du nicht mal loslegen? Ich hatte eigentlich gehofft, Jo heute noch zu entführen, aber ...“ Er zeigte zum Billardtisch, wo die Kugeln unangefochten auf den Anstoß warteten.
Sebastian runzelte die Stirn, nahm den Billardstock entgegen und studierte den Tisch. Es fiel ihm schwer sich zu konzentrieren, da er Diego aus den Augenwinkeln näher kommen sah. Verdammt, er mochte Billard nicht einmal. Er lernte es nur, weil es ihm die Gelegenheit gab, eine Beziehung zu seinem Objekt der Begierde aufzubauen. Der Barkeeper war ein Profi und gewann eigentlich immer und hatte nach anfänglichem Zögern eingewilligt, ihm die Regeln und alles andere beizubringen.
Er lehnte sich letztendlich über den Tisch und nahm seinen Stoß wahr. Er war überrascht, dass die weiße Kugel genau das tat, was er wollte und zwei der getroffenen Kugeln tatsächlich versenkte. Sebastian sah rasch hoch und fragte sich, ob Diego seinen Schuss gesehen hatte. Obwohl er sich sofort einen liebeskranken Idioten schalt, waren das Lächeln und das anerkennende Nicken ausreichend, um ihm Hoffnung zu geben.
„Ausgezeichneter Stoß, Bastian“, meinte der Barkeeper mit seiner samtweichen Stimme. „Du lernst schnell.“ „Das liegt am hervorragenden Lehrer“, wiegelte er ab und beobachtete, wie der Mann an den Tisch kam.
„Stimmt.“ Diego lachte leise und trat nah genug an ihn heran, dass Sebastian die anziehende Mischung aus Aftershave und frischem Schweiß wahrnehmen konnte. Unauffällig sog er den betörenden Duft tief ein. „Aber ich hatte auch einen begierigen Schüler.“
Oh, ich bin begierig. Gierig danach, mit dir allein zu sein, dir zu zeigen, was ich mit einem langen Stock, zwei Bällen und einer flachen Oberfläche anstellen kann. Bastian schluckte den Kloß in seinem Hals mühselig hinunter. Er hatte sich geschworen, sich nicht mehr diesen Tagträumen und erregenden Vorstellungen hinzugeben. Sie brachten ihm nichts als Kummer. Doch diesen Mann aus seinem Kopf zu verbannen, war ein sinnloses Unterfangen.
Das Vibrieren seines Handys gab ihm die willkommene Ausrede, sich von dem laufenden Spiel zurückzuziehen. Er hielt den Apparat hoch und warf Jo einen fragenden Blick zu. Der nickte und konzentrierte sich dann darauf, von Diego nicht ungespitzt in den Boden gerammt zu werden. Bastian grinste, verließ das Billardzimmer und suchte sich seinen Weg zu den hinteren Räumen, um in Jos Büro den Anruf zu beantworten.
Es war die Klinik. Seine Mutter hatte einen ihrer heftigen Anfälle erlitten und man fragte nach, ob er noch heute kommen könnte. Sebastian bestätigte und legte mit einem dicken Kloß in seinem Hals auf. Wann wurde das endlich besser? Schweren Herzens hatte er sich vor beinahe zehn Jahren entschlossen, seine Mutter einweisen zu lassen, denn selbst die rund um die Uhr Pflege hatte weder sie noch andere schützen können.
In den letzten Jahren war es zwar sehr viel besser geworden - doch besser war relativ. Von der brillanten, lebenslustigen Frau, die er als Junge in Erinnerung hatte, war nur eine leere Hülle übrig geblieben. Seine Besuche wurden immer seltener, während sein schlechtes Gewissen sprunghaft anstieg, aber Sebastian fühlte sich einfach nicht in der Lage, dem Verfall weiter zuzusehen.
In Gedanken versunken kam er aus dem Büro und stieß mit Diego zusammen, der es gerade betreten wollte. „Sorry, ich wusste nicht ... Ist alles in Ordnung, Bastian?“ Samtbraune Augen bohrten sich bis tief in seine Seele, brachten sein Herz zum Rasen und seinen Schwanz zum Anschwellen. Der Blick der dunklen Iriden trieb ihn beinahe dazu etwas völlig Dummes zu tun - wie sich vorbeugen und die vollen Lippen zu verschlingen, um endlich den Geschmack dieses Mannes zu kosten. Weil das jedoch ein fataler Fehler wäre, wich er zurück und sagte barscher, als beabsichtigt: „Mir geht’s gut“, und mit schnellen Schritten ging er den Flur retour ins Billardzimmer, um sich von den anderen zu verabschieden. Dann verließ er fluchtartig die ‚Spielzeit‘.
***
Diego sah dem Mann, der ihm in den vergangenen Wochen den letzten Nerv geraubt - und schlaflose Nächte bereitet - hatte verwundert hinterher. Etwas war heute anders gewesen, anstatt mit ihm zu flirten, hatte es eher so ausgesehen, als würde Sebastian ihm aus dem Weg gehen. Solltest du nicht froh darüber sein, fragte ihn seine innere Stimme sarkastisch. Du hast schließlich alles dafür getan, dass er dich für unausstehlich hält.
„Ach, halt doch die Klappe.“ Genervt marschierte Diego ins Lager. Er hatte das Spiel so rasch wie möglich für sich entschieden und war dann mit der gemurmelten Ausrede, er müsse etwas überprüfen hierherkommen. Neugier hatte ihn zum Büro geführt und was hatte es ihm gebracht? Noch miesere Laune als vorher. Unzufrieden murmelte er vor sich hin, als er die Bestandsliste mit dem tatsächlichen Vorrat verglich.
Er verstand nicht, warum ausgerechnet dieser Kerl nicht aus seinem Kopf verschwinden wollte. Es war ja nun nicht gerade so, dass er keine freie Auswahl hatte. Sein exotisches Aussehen - Diego schnaubte abfällig, als er an die Aussage eines Exliebhabers dachte - bescherte ihm mehr als genug Bewunderer. Doch immer kehrten seine Gedanken zu Sebastian zurück. Wenn der Mann nicht Jos bester Freund wäre, hätte er ihn schon vor Wochen aus seinem System gevögelt.
Obwohl das wahrscheinlich ebenfalls nicht funktionieren würde. In Bastian, mit seinem sonnigen Gemüt, seinem ansteckenden Humor, steckte eine Intensität, die ihm eine Heidenangst einjagte. Er würde sich nicht mit einem einmaligen Fick zufriedengeben, nein, der Mann wollte viel mehr - und das mehr konnte Diego ihm nicht geben. Hinzu kam noch die Tatsache, dass er vermutete, dass Sebastian kein Bottom war. Und egal, wie sein Magen auch flatterte, wenn er daran dachte, wie dieser Mann ihn in Besitz nehmen könnte ... Stopp! Vergiss es gleich wieder, Diego. Du liegst nicht unten. Nie!
Schweren Herzens beschloss er, sich Bastian ein für alle Mal aus dem Kopf zu schlagen. Sollte doch wohl nicht so schwierig sein, es gab ja genug Auswahl. Und schließlich suchte er nicht den Partner fürs Leben, sondern nur einen schnellen Fick. Mehr wollte er nicht! Niemals!
***
Zu dem Zeitpunkt, als Sebastian sein Haus betrat, war er körperlich und emotional so ausgelaugt, dass er alles für eine Abwechslung gegeben hätte. Doch nur Stille empfing ihn, als er die Haustür schloss und mit schweren Schritten ins Wohnzimmer ging. Ohne sich auszuziehen, plumpste er auf die Couch und lehnte den Kopf in den Nacken.
Er wusste nicht, wie viel Druck er noch ertragen konnte. Nach einer hitzigen Diskussion mit dem behandelnden Psychiater seiner Mutter hatte er schließlich zugestimmt, dass sie in Ausnahmesituationen - und nachts - fixiert werden durfte, um ihre eigene und die Sicherheit der anderen Patienten zu gewährleisten. Die Dosis ihrer Medikamente wurde ebenfalls erhöht.
Stöhnend sank Sebastian nach vorne. Es wollte ihm einfach nicht gelingen, die sanftmütige Frau von früher, die keiner Fliege ein Leid zufügte, mit dem keifenden Teufel in Verbindung zu bringen, die heute eine andere Patientin mit einem zerbrochenen Stuhlbein attackiert hatte.
In Momenten wie diesen wünschte er sich wirklich jemanden zum Reden, zum Anlehnen, einen Partner, der die Bürde mit ihm teilen würde. Samtbraune Augen und Haut wie Milchschokolade flackerten durch sein Bewusstsein, wie so oft in den letzten Wochen. Egal, was er auch anstellte, er bekam Diego Mahler einfach nicht aus dem Kopf. Verärgert stand er auf, ging zurück in den Flur, wo er hastig Jacke und Schuhe auszog. Der Mann, den er im Grunde nur flüchtig kannte, hatte mit einem einzigen Blick aus diesen dunklen Iriden ein Brandmal auf ihm hinterlassen, von dem er fürchtete, es nie mehr loszuwerden.
Tja, nur umgekehrt war das leider nicht der Fall. Der Barkeeper hatte sein Desinteresse nur allzu deutlich gemacht. Anfangs hatte Bastian ihre Kabbeleien noch genossen, gedacht, er müsse nur die Schale des anderen Mannes knacken. Aber rasch war ihm klar geworden, dass er sich an diesem wohl sein gesamtes Gebiss ausbeißen würde.
Hinzu kam, dass jedes Mal, wenn Sebastian ihn eingeladen und eine Ablehnung kassiert hatte, Diego später mit irgendeinem Twink verschwunden war. Ob er ihm damit nur vor Augen führen wollte, auf welchen Typ Mann er stand oder etwas ganz anderes kaschierte, konnte Bastian beim besten Willen nicht sagen. Er wusste nur, dass es wehtat. Nicht, dass er einen Anspruch auf den Barkeeper besaß, aber das kleine grünäugige Monster störte sich nicht an solchen Formalitäten.
Er sollte sich den Kerl einfach aus dem Kopf schlagen, dachte er müde, als er zwischen die Laken krabbelte. Vielleicht ein Hobby suchen. In den letzten Jahren hatte er so viel gearbeitet, die Firma aufgebaut, dass sein Privatleben irgendwie auf der Strecke geblieben war. Jetzt, wo Jo wieder eine Rolle in seinem Leben spielte, wurde ihm bewusst, wie sehr er seine alten Freunde vermisst hatte. Also, welchen Grund hatte er bitteschön zu jammern? Ein gutgehendes Unternehmen, Freunde, auf die er sich verlassen konnte, er war finanziell abgesichert und dennoch ... Hoffentlich war er mit Mitte dreißig noch nicht in der Midlife-Crisis, wundern täte ihn das allerdings auch nicht mehr. Sollte er morgen mal googeln, wenn er die Energie dafür aufbrachte - oder die Lust. Mit diesem Gedanken driftete er weg.
***
Müde schob Diego die letzten Gläser in die Spülmaschine, schloss die Tür und stellte sie an. „Vorne ist alles klar Schiff. Ich nehme den Müll mit raus, wenn du willst!“
Erschrocken machte er einen Satz weg von der Maschine und drehte sich wütend zu Nguyen um, der ihn unschuldig ansah. „Jesus! Musst du dich so anschleichen?“
Der vietnamesischstämmige Kellner betrachtete ihn von Kopf bis Fuß, klickte mit der Zunge und grinste frech. „Ich hab zweimal gerufen, ehe ich reingekommen bin. Vielleicht wird es Zeit, dass du dir ein Hörgerät besorgst, alter Knacker.“
Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte Diego den zierlichen Mann. „Nur, wenn ich dir mit deinem Krückstock den Hintern versohlen darf, Opi.“ Beide lachten. Dann legte Nguyen eine Hand auf sein Herz, verdrehte theatralisch die Augen und sagte todernst: „Das kann ich nicht verantworten. Ich möchte ja nicht, dass du einen Herzanfall erleidest bei so viel Aufregung. Und außerdem würde Bastian mir den Arsch verhauen - und nicht auf die angenehme Art - falls ich dich mit irgendeinem Körperteil von mir anfasse.“
Diego versteifte sich. „Was hat Sebastian damit zu tun?“ „Oh bitte.“ Nguyen sprang auf den großen Tisch, der mitten in der Küche stand, und ließ die Beine baumeln. „Das sieht man auch als Blinder mit einem Krückstock. Da läuft was zwischen euch. Komm schon, spann mich nicht so auf die Folter. Wie ist er in der Kiste?“
Heiß und kalt durchfuhr es ihn bei den Worten seines Kollegen. „Ich weiß es nicht.“ Aber ich würde es unheimlich gerne herausfinden. Nur leider geht das nicht. Sebastian Hellmann ist tabu!
Nguyens Mund klappte auf und imitierte einen Moment lang einen Fisch auf dem Trockenen. „Du verarscht mich gerade, oder? Du willst mir doch nicht ernsthaft weismachen, dass du an diesem absoluten Traumtypen kein Interesse hast?“
Ungläubig funkelten ihn die honigfarbenen Augen an. Ja, warum nimmst du ihn dir nicht, Diego. Weil er mir gefährlich werden könnte, darum. Feigling! „Wenn du ihn so toll findest, versuch du doch dein Glück“, schnappte er irritiert und wünschte sich die Worte im gleichen Augenblick zurück.
„Hab ich ja schon - ohne Ergebnis.“ Diego versuchte verzweifelt die Wut - und den Schmerz - die diese Worte auslösten, zurückzuhalten. Es gelang nicht. Scheiße! Es war hoffnungslos.
„Aber es ist ja nicht so, dass er der einzige tolle Kerl auf Erden ist. Hey, wieso kommst du heute Abend nicht mit ins ‚Darkside‘? Dann wirst du auch wieder lockerer.“ Stirnrunzelnd sah er seinen Freund an. Was wollte Nguyen denn in dem abgehalfterten Schuppen? „Nein, danke, kein Bedarf. Und wenn ich dir einen Rat geben darf? Du solltest da ebenfalls nicht hingehen.“
Mandelaugen blinzelten ihn verwirrt an. „Warum? Ist doch nur ein Gay-Club wie alle anderen. Man kann unverbindlich und schnell Spaß haben und ...“ „Nicht wie jeder andere Club. Im ‚Darkside‘ gibt es keine Security, niemanden, der sich daran stört, falls irgendetwas nicht ganz koscher ist. Du solltest zumindest nicht ohne Begleitung dort rumhängen.“
„Oh Mann, bist du mein Vater oder was? Und außerdem hatte ich nicht vor allein loszuziehen. Ich hab dich doch grad gefragt, ob du mitkommst oder?“ Nguyen rollte mit den Augen. „Hör zu, ich bin weg. Ich brauch meinen Schönheitsschlaf. Schick mir einfach eine SMS, wenn du Lust hast. Ich bin ab 21 Uhr dort. Ciao!“
Scheiße! Es sah wohl so aus, als ob er heute Abend etwas vorhatte. Aber vielleicht war das auch genau das Richtige. Er musste Sebastian endlich aus seinem System kriegen.
***
Samstag, 27.9.14
Diego verzog das Gesicht, als er den x-ten Twink in die Wüste schickte. Es war ein Fehler gewesen, ins ‚Darkside‘ zu gehen. Nervös hielt er nach Nguyen Ausschau, der bis eben auf der Tanzfläche den Jägern den Kopf verdreht hatte.
Ein lautes Grölen lenkte seine Aufmerksamkeit Richtung Darkroom und er sah gerade noch einen großen, schlanken Mann zu Boden stürzen. Im nächsten Augenblick drängte sich sein Freund durch die gaffende Menge und Diego kam ihm in höchster Alarmbereitschaft entgegen. „Was ist passiert?“, rief er über den tosenden Lärm der Musik.
Nguyen schüttelte den Kopf und zog an seinem Arm. „Lass uns bloß verschwinden. Für heute ist mein Bedarf an Arschlöchern gedeckt.“ Nur zu willig ließ er sich aus dem dunklen Club ziehen, nicht ohne kurz zurückzuschauen. Der Kerl, den der Kleine aufs Kreuz gelegt hatte, stand wieder und sah ihnen hinterher, machte allerdings keine Anstalten ihnen hinterherzukommen. Dennoch spürte er den Blick, der sie verfolgte, auch wenn das Gesicht des Typen im Schatten lag und nicht zu erkennen war.
Draußen hielt sein Freund nicht an und zog ihn direkt zur gegenüberliegenden Bushaltestelle, wo Diego sich schließlich von ihm löste und ihn aufmerksam ansah. „Raus mit der Sprache. Was war da los?“ Starr sah der beinahe einen Kopf kleinere Mann ihn an. „Ein Irrtum“, antwortete er tonlos. „Nur eine Verwechslung, nichts weiter.“
Das glaubte er keine Sekunde. Dafür wirkte Nguyen viel zu aufgewühlt. Er sah aus, als hätte er etwas sehr Wichtiges verloren. „Okay, Amigo, wie du meinst. Aber wenn du reden willst ...“ Nguyen winkte ab. „Nicht nötig, doch gegen ein bisschen Trost hätte ich nichts einzuwenden.“ Mit diesen Worten fasste der andere ungeniert in Diegos Schritt, was ihm wider Erwarten eine Gänsehaut bescherte. Trotzdem schob er die Hand seines Freundes behutsam beiseite. Auch wenn sie schon öfters miteinander im Bett gelandet waren, ihm stand heute nicht der Sinn nach bedeutungsloser Vögelei. Bereits seit langem nicht mehr, wenn er ernsthaft darüber nachdachte.
„Sorry, Kleiner, kein Interesse. Komm, ich ruf ein Taxi und wir teilen uns die Kosten.“ Kurz glaubte er so etwas wie Enttäuschung in der Miene des jungen Mannes zu erkennen, aber dann zwinkerte Nguyen ihm zu. „Dein Verlust, Amigo.“
Während sie auf das Taxi warteten und angeregt plauderten, wurde Diego das Gefühl nicht los, dass jemand sie beobachtete. Doch ein unauffälliger Rundumblick zeigte ihm keine auffälligen Schatten. Auch vor dem ‚Darkside‘ war keine Menschenseele zu sehen. Vermutlich war er einfach überlastet. Er arbeitete seit dem Umbau beinahe nonstop, wollte Jo beweisen, dass er sich hundertprozentig auf ihn verlassen konnte. Ja klar rede dir das nur weiter ein. Du arbeitest so viel, damit du Sebastian so oft wie möglich siehst und ihn gleichzeitig auf Abstand halten kannst.
Diego war klar, dass ihr Spiel sich langsam dem Ende zuneigte. Einer von ihnen musste irgendwann nachgeben. Und er hatte das untrügliche Gefühl, dass es nicht Bastian sein würde.
Kapitel 2
Samstag, 27.9.14
Wie jeden Morgen seit drei Wochen erwachte Andy von Stetten in den Armen seines Freundes Jo. Müde blinzelte er die Spinnweben vor seinen Augen weg und schielte auf den Wecker. Kurz nach elf. Jo würde noch mindestens eine Stunde schlafen, das gab ihm die Gelegenheit alles in Ruhe vorzubereiten.
Mit einem letzten sehnsüchtigen Blick auf seinen Geliebten trottete er ins Bad und sprang unter die Dusche. Nachdem er der alltäglichen Morgentoilette gehuldigt hatte, zog er sich rasch an, schlüpfte danach aus der Wohnung und lief zum Bäcker um die Ecke.
Zwanzig Minuten später scannte Andy den üppig gedeckten Tisch, ob er auch nichts vergessen hatte, als ihn köstliche Wärme einhüllte. Starke Arme kamen um ihn herum, zogen ihn an einen noch kräftigeren Körper und er kuschelte sich wohlig seufzend in die Umarmung seines Geliebten. „Hey Süßer. Das sieht ja verlockend aus. Du sollst dir doch nicht solche Mühe machen.“
Schlaftrunken und rau klang Jos Stimme, heißer Atem prickelte an seiner Ohrmuschel und er musste ein Kichern unterdrücken, als eine vorwitzige Zungenspitze neckend in sein Ohr stieß. „Lass das, das kitzelt.“ Jo grollte leise und dann spürte er einen sanften Biss im Nacken, der sein Gekicher schlagartig in ein Stöhnen verwandelte. „Ich spring noch rasch unter die Dusche. Fang ruhig schon an.“
Er lächelte seinen Freund an. „Es macht mir nichts aus zu warten“, sagte er und im selben Moment knurrte sein Magen. Er errötete und Jo zog eine Augenbraue hoch.
Sein Geliebter drückte ihn auf einen der Küchenstühle. „Iss. Ich beeil mich.“ Andy nahm ein Brötchen und aß es trocken, während er in der Tageszeitung blätterte, speziell die Seite mit den Wohnungsanzeigen interessierte ihn. Doch da würde er bestimmt nichts finden. Er hatte sich bereits bei einem Internetportal eingetragen, die WG-Zimmer vermittelte, aber bisher war noch nichts Passendes dabei gewesen. Große Hoffnung hegte er ja nicht, der verfügbare Wohnraum war meist schon Monate vor Semesterbeginn ausgebucht.
Als Jo wiederkam und ihm durch die Haare strubbelte, sah Andy erschrocken auf. „Wohnungsanzeigen? Suchst du was Neues? Die hier ist doch nicht schlecht.“ Er schluckte. Wie viel sollte er Jo sagen?
„Nein, ist sie nicht. Sie hat nur einen Makel. Sie gehört der Familie und ich möchte unabhängig sein. Außerdem ist die Verbindung zur Uni etwas ungünstig.“ Bei der Erwähnung seiner Familie verengten sich Jos Augen kurz, dann verwandelte sich sein Gesicht in eine ausdruckslose Maske. „Und was genau schwebt dir vor? Wahrscheinlich eine WG, oder? Sollen es Studenten sein oder ist das egal? Ich weiß nämlich von Nguyen, dass in seiner Wohngemeinschaft demnächst ein Zimmer frei wird. Soll ich ihn fragen, oder willst du das lieber selber machen?“
Jo trank hastig einen Schluck Kaffee und verschlang sein Brötchen. Dann stand er auf, beugte sich zu Andy hinunter und küsste ihn auf die Wange. „Sorry Süßer, aber ich muss leider schon los. Es ist viel Papierkram liegen geblieben, und wenn ich mich nicht bald daransetze, erschlägt mich der Stapel noch.“ Sprach’s und verschwand, ohne ihm eine Gelegenheit zur Antwort zu geben, im Flur.
Andy saß einen Moment erstarrt da. Er hatte zwar nicht erwartet, dass Jo ihn fragen würde, ob er bei ihm einzog, doch diese Nichtreaktion beziehungsweise der überstürzte Aufbruch war ... irgendwie beängstigend. Natürlich war ihm klar, dass sie sich kaum kannten, außerdem hatten sie abgemacht, es langsam angehen zu lassen. Aber, dass Jo nicht mal gefragt hatte, wieso er aus dem Apartment hier aus und in eine WG einziehen wollte, dass es ihm egal zu sein schien - das tat weh!
Du bist ja auch nicht gerade ein Vorbild an Ehrlichkeit, nicht wahr Andy? Denn der Grund, warum er so schnell eine neue Wohnung suchte, war nicht nur der Tatsache geschuldet, dass er von seiner Familie unabhängig sein wollte. Sein Magen schlug nach wie vor Purzelbäume, als er an das Einschreiben dachte, das ihm der Postbote vor einer Woche überreicht hatte. Räumungsbescheid hatte er noch gelesen, dann erst mal sein Frühstück zur Toilette befördert. Jo hatte er etwas von einer Magenverstimmung vorgeflunkert und den Brief in seinem Kleiderschrank versteckt.
Nachmittags, als Jo in die ‚Spielzeit‘ unterwegs gewesen war, hatte er das Schreiben hervorgeholt und mehrfach ungläubig die Aufforderung zur Räumung durchgelesen. Bis zum Ende des nächsten Monats blieb ihm Zeit, aber er hatte nicht vor so lange hierzubleiben. Am Meisten aufgeregt hatte ihn die Klausel, dass die Wohnung wieder in ihren Originalzustand zu versetzen sei. Was glaubte sein Stiefvater denn, was er hier getrieben hatte?
Andy seufzte. Oliver dachte sich nur eins: Er wollte ihm klarmachen, wer weiterhin das Sagen hatte, wer die Regeln bestimmte. Ihm war klar gewesen, dass sein Entschluss auf Widerstand stoßen würde, von seinem Stiefvater hatte er es nicht anders erwartet. Was ihm wehtat, war, dass seine Mutter sich nicht einmal bei ihm gemeldet hatte, weder um auf seinen Brief zu reagieren noch auf seine zahlreichen Anrufe. Er hatte zwar schon immer gewusst, dass er keine Priorität in ihrem Leben besaß, aber dass sie so gleichgültig schien, verletzte ihn mehr, als er sich eingestehen wollte. Und jetzt benahm sich Jo sehr merkwürdig und jagte ihm damit Angst ein.
Seit dem ersten Abend in der 'Spielzeit' verbrachten sie jede freie Minute miteinander und Andy schwebte, wie auf Wolke sieben. Doch dann gab es Phasen, wenn Jo plötzlich verstummte, mit seinen Gedanken woanders schien. Auch sein Zuhause hatte er noch nicht gesehen, denn nach der Schicht in der Bar fuhren sie immer in seine Wohnung. Es war fast, als wolle Jo ihn nicht dort haben. Nun, in dem Haus hatte er jahrelang mit seinem Ehemann gelebt und nach dessen Tod war es wohl so etwas wie ein Refugium geworden.
Andy wollte ihm diese Zuflucht bestimmt nicht wegnehmen, doch er wollte - und konnte - nicht mit einem Geist konkurrieren. Aber er sollte Jo zeigen, dass er es ernst meinte. Er durfte sich nicht so schnell entmutigen lassen. Er behauptete erwachsen zu sein, eigene, vernünftige Entscheidungen zu treffen. Dazu gehörte auch, nicht sofort beleidigt zu sein, wenn sein Freund seiner Meinung nach falsch reagiert hatte.
Sobald er beim ersten Anzeichen von Problemen gleich wegrannte, dann sprach das nicht gerade für ihn oder die Gefühle, die er behauptete zu haben. Aber wie sollte er die Sache jetzt angehen? Gar nicht darauf reagieren, dass Jo so gleichgültig gewesen war oder ihn zur Rede stellen? Er wollte nicht zu aufdringlich sein und ihn möglicherweise von sich wegstoßen, doch eine innere Stimme sagte ihm, dass er ein wenig forscher sein musste. Den anderen Mann dazu bringen, über seine Gefühle zu sprechen.
Mit diesem Entschluss stand er auf und ging zu seinem Schlafzimmer. Er zögerte, dachte daran zu klopfen, aber verflucht, das war seine Wohnung. Andy drückte die Klinke runter und schob die Tür auf. Keine Ahnung, was er erwartet hatte, jedoch nicht den Anblick, der sich ihm bot.
Er erstarrte mitten in der Bewegung und jeglicher Ärger verflog, als sein Herz in tausend Stücke zersplitterte. Jo saß halb angezogen auf dem Boden, Rücken ans Bett gelehnt, die Arme um seine gebeugten Knie geschlungen. Kurze, hastige Atemzüge entwichen seinen Lungen. Andy konnte die Angst in den dunklen Augen erkennen, sah den Kampf, den Jo focht, während er versuchte die Panikattacke zurückzudrängen. Seine Lippen liefen bläulich an, als sein Körper sich abmühte, den Mangel an Sauerstoff auszugleichen.
Andy wurde ebenfalls von Panik ergriffen. Was sollte er tun? Wie vermochte er ihm zu helfen? Der Gedanke, dass es bestimmt nicht das erste Mal war, dass Jo mit solch einer Attacke kämpfte, machte ihn wütend und ließ gleichzeitig Tränen aus seinen Augen hervorquellen. Er eilte zu Jo hin, fiel praktisch auf seine Knie vor dem anderen Mann. Jo schien ihn weder zu sehen noch zu hören, war gefangen in seiner eigenen privaten Hölle.
Sanft berührte er ihn an der Schulter. „Es ist okay, Jo. Konzentriere dich einfach auf ruhiges Atmen. Tiefe Atemzüge ein“, er machte es ihm vor, „und langsame Atemzüge aus.“
Er wiederholte das wieder und wieder, versuchte verzweifelt zu Jo durchzudringen. Sein Herz splitterte weiter, als er die Tränen sah, die über Jos Wangen rollten. Verdammt, was konnte er noch tun? Sollte er einen Notarzt rufen? Andy hatte keine Ahnung, wie gefährlich so eine Situation werden konnte. Aber er schwor sich, dass dies das letzte Mal war, dass Jo das alleine durchstehen musste. So rasch wie möglich würde er über Panikattacken recherchieren und so viel lernen, wie es machbar war.
Jos Atmung wurde immer hastiger und zittriger und Andy wischte ärgerlich über seine Wangen. Dumme Tränen. Die halfen Jo nicht. Verzweifelt schlang er schließlich, so gut er vermochte seine Arme um den großen Mann, wiegte ihn hin und her und murmelte irgendwelchen Unsinn, der ihm gerade einfiel.
Es erschien ihm wie eine Ewigkeit, bis Jos Atemzüge ruhiger wurden. Die keuchenden Laute nahmen ab und die Blaufärbung der Lippen ging zurück. Jos Muskeln - eingefroren von der Panikattacke - lockerten sich allmählich. Andy streichelte über Jos Rücken, seine Arme, den Brustkorb, überall wo er ihn erreichen konnte.
Als Jo endlich wieder vollständig normal zu atmen schien, war er unfähig sich weiter zurückhalten. Er legte sanft eine Hand unter Jos Kinn und zwang seinen Kopf hoch, obwohl der ihn zwischen seinen Knien verbergen wollte. Diesem großen starken Mann war die Sache natürlich peinlich und Andy musste ihm klarmachen, dass es keinen Grund gab, sich zu schämen - ohne ihm jedoch das Gefühl zu geben, er wäre schwach.
„Nein“, murmelte er, küsste Jo sanft. „Versteck dich nicht vor mir. Erlaube mir, für dich da zu sein. Ich will ... ich möchte, dass das mit uns funktioniert und das ... das kann es nicht, wenn du mich ausschließt.“
Jo versuchte sich ihm zu entziehen, aber die Attacke hatte ihn offensichtlich ausgelaugt und er hatte keine Mühe, ihn festzuhalten. Jos Kehle arbeitete, als er ansetzte zu sprechen, doch es kam kein Ton heraus. „Es ist schon okay, du musst nichts sagen.“
Andy stand auf und mit etwas größerer Kraftanstrengung zog er den zitternden Jo auf seine Füße, einen Arm um dessen Taille, um ihn zu stützen. Er dirigierte ihn zum Bett und öffnete seine Jeans. „Leg dich einfach noch eine Runde hin, du brauchst jetzt Schlaf. Der Papierkram kann warten. Auf den Rücken mit dir.“
Er bereitete sich darauf vor Jo einen kleinen Schubs zu geben, als sein Freund sich rückwärts fallen ließ und sein Becken anhob, damit Andy ihm die Hose ausziehen konnte. Er war ein wenig überrascht, dessen Erektion halbhart vorzufinden, aber vielleicht gehörte das als Begleiterscheinung dazu. Er hatte keinen Schimmer und das war inakzeptabel. Sobald er die Zeit fand, würde er alles heraus finden, was er wissen musste.
Jos kratzige Stimme riss ihn aus seinen Überlegungen. „Du hättest das nicht sehen sollen. Ich ... ich wollte nicht ...“ Andy schluckte und zog die Bettdecke über seinen Freund.
„Nicht reden. Ich hol dir etwas zu trinken und dann ruhst du dich aus.“ Erneute Tränen brannten hinter seinen Augenlidern und er huschte rasch ins Bad, um ein Zahnputzglas mit Wasser zu füllen. Als er zurückkam, fand er sich von Jos dunklen Augen verfolgt, als er mit dem Glas in der Hand auf ihn zukam.
Jo setzte sich auf, nahm das Wasser entgegen und stürzte es in einem Zug hinunter. „Danke.“ Andy wollte ihm das Glas abnehmen, doch Jo stellte es auf den Nachttisch. Dann streckte er eine Hand aus. „Komm her. Leg dich ein bisschen zu mir.“