Kitabı oku: «Schnulzenroman», sayfa 2

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»Also, erzähl mir was über deine Eltern. Damit könnten wir anfangen«, sagte Jessy neben mir auf dem Beifahrersitz. Wir waren bereits auf der Autobahn und hatten unsere Verfolger abgehängt. Zumindest schien es so.

Als wir nämlich an der Pforte des Lerchenhofs meinen Arztbrief abholten und uns von Johann, dem Pförtner, verabschiedeten, sagte dieser, dass zwei Herren nach mir gefragt hätten und deutete auf den Parkplatz der Klinik. Dort stand ein ziemlich auffälliger schwarzer Oldtimer, ein Sportwagen und darin zwei Männer, ein älterer mit Vollbart und ein jüngerer, der, wie ich flüchtig schätzte, in den Dreißigern war. Beide beobachteten die Pforte und gerieten, als sie uns sahen, in Bewegung. Der Ältere wollte die Beifahrertür öffnen, aber sie schien zu klemmen. Daraufhin versuchte er, bei dem jüngeren Mann auszusteigen, der aber zu spät reagierte, weil er mit seinem Smartphone beschäftigt war. Der Alte wollte sich an ihm vorbeiquetschen, aber da er ein wenig übergewichtig war, dauerte das alles sehr lange, sodass ich Zeit hatte, schnell zu dem wartenden Taxi zu laufen, das Gepäck einzuladen, einzusteigen und davonzufahren. Im Vorbeirennen fiel mir auf, dass das Auto der beiden ein Facel Vega war, das gleiche Modell, in dem Camus vom Sohn seines Verlegers Gallimard zu Tode gefahren worden war.

Jessy blieb die ganze Zeit an meiner Seite, sprang wortlos ebenfalls ins Taxi und fuhr mit mir zusammen zu dem Parkplatz, auf dem mein Mercedes 200 auf mich wartete. Als wir den Parkplatz in meinem Wagen verließen, stellten wir fest, dass der schwarze Facel Vega es geschafft hatte, uns aufzuspüren. Auf der Autobahn schienen wir ihn allerdings abgehängt zu haben. Ich hielt unsere Verfolger für Presseleute, die nach meinem Suizidversuch an einer Titelstory mit mir für irgendein Boulevardblatt interessiert waren.

»Also gut«, seufzte ich. »Ich mache dir einen Vorschlag. Wenn wir diese Fahrt schon zusammen machen, was du einfach so beschlossen hast, dann können wir uns auch unterhalten. Aber unterhalten bedeutet, dass beide sprechen. Ich erzähle dir etwas aus meinem Leben und du mir etwas aus deinem. Einverstanden?«

»Okay, einverstanden. Also, das Wichtigste von mir zuerst: Ich bin schwanger.«

Diese Nachricht brachte mich völlig aus dem Konzept, wie man sich vorstellen kann, und ich war froh, dass ich keinen Unfall baute. Ich stellte ihr einige Fragen dazu, besonders was sie denn jetzt weiter vorhabe. Aber sie winkte ab.

»Nein, nein, nein. Jetzt bist du erst mal dran. Das musst du erst mal einholen. Also: Wer und wie waren deine Eltern?«

Die Geschichte kennt Gewinner und Verlierer. Möchte man manchmal glauben. Aber es gibt natürlich auch Gewinner, die Verlierer waren und umgekehrt. Als ich jung war, war Heinrich Lübke Bundespräsident. Man möchte meinen, ein Gewinner. Aber Lübke kennt man heutzutage nur noch durch seinen Spruch: »Meine Damen und Herren, liebe Neger!« Also was für ein Gewinner ist ein Bundespräsident, den man nur noch durch den rassistischen Anfang einer Rede kennt?

Oder man denke an den Fürsten von Pückler, ein seinerzeit sehr erfolgreicher und gebildeter Literat, der auch berühmte Landschaftsgärten entwarf und baute. Heute sieht man seinen Namen ziemlich häufig in Gefriertruhen im Supermarkt.

Meinen Vater kennt kaum noch jemand, obwohl er früher sehr berühmt war. Und das ist wahrscheinlich auch besser so. Mein Gesangstalent liegt nämlich in der Familie. Georg Fraunhofer war Schlagersänger, aber in erster Linie Schauspieler. Er war auch der Grund, warum ich einen Künstlernamen annahm. Er muss ein träumerisches Kind gewesen sein, 1910 im Rhein-Main-Gebiet als Sohn eines Winzers geboren, begeisterte er sich als junger Mann für die Romantik, träumte davon, Künstler zu werden und nach Italien auszuwandern. Er zitierte immer Gedichte aus Des Knaben Wunderhorn von Wackenroder und Tieck. Als ich vierzehn war, schenkte er mir die Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. Ich wusste eigentlich nicht genau, was ich damit sollte, habe sie auch nie gelesen, besitze das Buch aber noch heute.

Während der älteste Bruder das elterliche Weingut übernehmen sollte, wurde mein Vater nach der Schule nach Frankfurt geschickt, um eine Lehrstelle in einer Bank anzutreten. Aber die Arbeit langweilte ihn. Er interessierte sich mehr für Theater und Oper und nahm privat Schauspielunterricht. Es gelang ihm, mit zwanzig Jahren Komparse am Frankfurter Schauspielhaus zu werden. Einer der Regisseure bemerkte, dass mein Vater ein gewisses Charisma besaß und ließ ihn einmal eine Nebenrolle übernehmen. Von da an ging es bergauf mit seiner Karriere. Er kündigte in der Bank, nachdem er seine erste Hauptrolle in einer Komödie namens Die Kommunionsfeier bekommen hatte. Nebenbei feierte er große Erfolge im rheinischen Karneval, wo er regelmäßig bei Sitzungen auftrat. Aber die lokale Berühmtheit, die er geworden war, reichte ihm nicht. Als 1933 alle Theater gleichgeschaltet wurden, witterte Georg Fraunhofer seine große Chance. Er biederte sich bei dem neuen Intendanten Hans Meissner an und wurde der Star des völkischen Theaters in Frankfurt.

Ungefähr zu diesem Zeitpunkt muss Joseph Goebbels, der immer auf der Suche nach neuen deutschen Talenten war, auf ihn aufmerksam geworden sein. Kann sein, dass er ihn einmal bei den Römerberg-Festspielen auf der Bühne gesehen hatte, jedenfalls holte er meinen Vater nach Berlin und brachte ihn bei der UFA unter. Dort stieg Georg Fraunhofer als Gesangstalent und Schauspieler in der Propaganda-Maschinerie kometenhaft zu einer Berühmtheit auf. Er betörte die Reichsdeutschen über den Volksempfänger mit einer Mischung aus Heimatkitsch und melancholischen Sehnsuchtsliedern nach Liebe und Vaterland, aber sein Hauptgeschäft wurde der Film. Ab 1934 spielte er in vielen schnulzigen Liebesfilmen mit, in denen er immer den jungen Liebhaber mimte. Seichte Unterhaltung ist also gewissermaßen bei uns eine Familientradition.

Meine Mutter, Margarete Hammerstein, sang in einem Berliner Varieté, als mein Vater sie 1938 kennenlernte. Sie war fünf Jahre jünger als er und stammte aus einer Textilfabrikantenfamilie. Ihr Vater hatte sie vor dem Ersten Weltkrieg in Berlin gegründet und war schnell zu Wohlstand gelangt. Die Gesinnung in der Familie meiner Mutter war deutsch-national. Mein Großvater empfand den Vertrag von Versailles als großes Unrecht und sympathisierte mit den sogenannten Freikorps, die einen Bürgerkrieg gegen die Regierung in Weimar führten. Er muss schon sehr früh ein Anhänger Hitlers gewesen sein, jedenfalls weiß ich, dass er ein Exemplar von Mein Kampf in erster Auflage besaß.

Diese politische Haltung übertrug sich auf meine Mutter. Da ihr Vater mit den Nazis sympathisierte, tat sie es eben auch. Wie sie als Bürgerstochter aus gutem Hause auf den Gedanken gekommen war, in einem etwas zwielichtigen Amüsierlokal zu arbeiten, weiß ich nicht. Aber sie tat es, sang Chansons, tanzte dazu und träumte von einer Karriere in einem großen Varieté in Paris. Mein Vater zerstörte diese Träume meiner Mutter auf seine Art: Er heiratete sie.

Bis zu seinem Tod war sie lediglich seine Ehefrau und begann eine Karriere als Alkoholikerin.

Ich wurde 1945 geboren, knapp vier Wochen nach Kriegsende, nachdem die Deutschen es geschafft hatten, dass ihr eigenes Land in Trümmern lag. Man könnte meinen, der verlorene Krieg hätte für meinen Vater das Ende seiner Karriere bedeutet. Er war einer jener Unterhaltungskünstler, die im Dritten Reich ein behagliches Leben geführt hatten und von ihrem Übervater Goebbels wie kleine Kinder, denen jeder Wunsch erfüllt wird, gehätschelt worden waren.

Georg Fraunhofer wirkte zusammen mit Stars wie Willy Birgel, Johannes Heesters, Marika Röck oder Willy Fritsch besser als die ausgefeilteste Propaganda-Rede. Joseph Goebbels, Doktor der Germanistik und den Künsten zugewandt, war sich dieser Leistung seiner Schützlinge bewusst und förderte sie, wo er nur konnte, wenn ihm nicht Hermann Göring, der zweite Mann in Hitlers Reich und ein weiterer bedeutender Kunstexperte der Nazis, dazwischen funkte. Aber meistens gab es keine Probleme.

Mein Vater jedenfalls lebte wie ein Fürst und wie alle anderen Stars dieses Staates, ohne sich darum zu kümmern, dass er durch seinen raschen Aufstieg nur die Lücke gefüllt hatte, die durch die verschleppten, exilierten und verhafteten Regimegegner und jüdischen Künstler entstanden war.

Er sagte später, dass er sich nie sonderlich für Politik interessiert habe, sondern für Kunst und schöne Frauen. Letzteres ist wörtlich zu nehmen. Er hatte bei jedem seiner Filme eine andere Geliebte vor und hinter der Kamera. Meine Mutter schwieg stets dazu und trank.

Goebbels, der ebenfalls an Schauspielerinnen interessiert war und deshalb hinter vorgehaltener Hand »der Bock von Babelsberg« genannt wurde, war meinem Vater ganz besonders zugetan. Bei offiziellen Anlässen war Georg Fraunhofer häufig in der Menschentraube zu sehen, die den Propaganda-Minister umgab. Er begleitete ihn auch oft ins Theater oder ins Kino. Mein Vater sagte später, er habe das nur für seine Karriere getan, die ja auch seiner Familie zugute kam, so wie sich heutzutage auch Künstler mit ihren Mäzenen aus Politik und Wirtschaft öffentlich zeigten. »Aber diese Verbrecher habe ich eigentlich immer verabscheut.« Diese Verbrecher verschafften meinem Vater eine feste Anstellung bei der UFA. Mehr noch, die UFA behielt eine bestimmte Summe der Gage in Absprache mit ihm ein und legte das Geld für ihn an, kaufte Immobilien, Aktien, sorgte für ihn wie eine gute Mutter.

Als ich zur Welt kam, war Joseph Goebbels bereits tot und mir blieb ein Propaganda-Minister als Patenonkel erspart. Ich wuchs in Mainz auf, wo meine Eltern eine Wohnung bezogen hatten, in einem Haus, das von den Bombardierungen verschont geblieben war. Es stand in der Oberstadt. Für ein paar Jahre wohnte im Nebenhaus der Arzt und Schriftsteller Alfred Döblin, was meinen Vater wahrscheinlich genauso wenig interessierte wie unseren berühmten Nachbarn. Georg Fraunhofer konnte mit moderner Kunst nichts anfangen und mit Literatur noch weniger. Abgesehen von den Gedichten der Romantiker habe ich ihn nur einmal Ludwig Ganghofer lesen sehen. Allerdings hatte ich auch nie Gelegenheit, mit ihm über Kunst zu sprechen.

Das große schauspielerische Vorbild meines Vaters war Buster Keaton. Warum er, der sein Leben lang in Schnulzen die Hauptrollen gespielt hatte, sich einen der größten Stars der Filmgeschichte zum Vorbild auserkor, weiß Gott allein. Wahrscheinlich braucht jeder Mensch jemanden, zu dem er aufblicken kann. Ich erinnere mich an einen Film von Keaton, in dem er, der die männliche Hauptrolle spielt, sieht, wie ein Mann seine Frau misshandelt. Keaton will einschreiten und die Frau beschützen, die ihn aber wegstößt und sich bereitwillig weiter von ihrem Mann schlagen lässt. So ähnlich könnte man die Beziehung zwischen meinem Vater und meiner Mutter beschreiben. Mit dem Unterschied, dass er sich in der Rolle Keatons sah, während ich, und wahrscheinlich auch meine Mutter, in ihm nur den schlagenden Mann wahrnahmen.

Die Karriere meines Vaters ging nach dem Krieg einfach weiter, weil er als Künstler nicht direkt in die Verbrechen des Regimes involviert gewesen war und immer noch über die alten Kontakte verfügte. Bis auf eine kurze Episode in den unmittelbaren Nachkriegsjahren, an die ich mich nicht erinnern kann, ging es uns finanziell immer sehr gut.

Mein Vater drehte in den Fünfzigern noch zehn Filme. Damit brachte er es insgesamt auf 43, bei denen er Haupt- und Nebenrollen gespielt hatte, nicht mitgezählt seine Theaterauftritte. Die Themen der Filme waren stets dieselben. Es ging um Heimat, Liebe und klar definierte Geschlechterrollen, nur dass mein Vater aufgrund seines Alters nicht mehr den jugendlichen Liebhaber sondern den liebenden und gütigen Vater spielte.

Dass ich in Mainz geboren wurde und aufwuchs, hatte mehrere Gründe. Meine Eltern glaubten, sie seien bei den Amerikanern besser aufgehoben als bei den Russen und ihnen gelang, natürlich mit Hilfe alter Kameraden, im März 1945 die Flucht aus Berlin. Goebbels hatte meinen Vater auf die sogenannte »Gottbegnadeten-Liste« gesetzt, auf der die Leute aufgeführt waren, die im Reich unentbehrlich waren und nicht an der immer enger werdenden Front eingesetzt werden durften. Hinzu kam, dass Georg Fraunhofer nicht nur vor und während des Krieges einer der beliebtesten Schauspieler Deutschlands war, sondern auch noch danach, eigentlich bis zu seinem Tod. Er rangierte an oberster Stelle in der Publikumsgunst. Nur Heinz Rühmann und Willy Fritsch konnten sich mit ihm messen. Dementsprechend hatte er nicht nur viele Bewunderer, sondern auch viele Freunde, besonders im Rhein-Main-Gebiet, aus dem er in die Welt ausgezogen war und wo er ja so große Erfolge in der Fastnacht gefeiert hatte.

Georg Fraunhofer, der sein Leben lang nur Komödien drehte, verstand ein echtes menschliches Drama nicht, wenn er es vor sich hatte. Ich habe mir die Flucht meiner Eltern immer in einer Filmsequenz ausgemalt.

In der ersten Szene sieht man den vollbeladenen Zug mit Flüchtlingen, Waggon an Waggon zieht er an der Kamera vorbei. Die Leute haben die Türen geöffnet und lassen die frische Frühlingsluft herein, dann Bilder aus der Nahen und der Großaufnahme, einzelne Gesichter, Erschöpfung, Unsicherheit, Angst, schwangere Frauen, meine Mutter. Der Zug bremst. Eine Kontrolle. Deutsche Soldaten rufen. Alles raus. Noch ist Krieg. Die meisten Männer müssen zum Volkssturm. Mein Vater nicht. Er hat die Papiere mit der Unterschrift des Propagandaministers. Er und einige andere dürfen weiterfahren. Der Großteil der jungen Männer bleibt zurück, um den Amerikaner aufzuhalten, den Engländer oder den Russen. Die meisten dieser Einheiten werden sich ergeben oder sterben. Der Zug rollt wieder an. Weiter geht es Richtung Westen. Später, während des Wirtschaftswunders, werden die meisten Deutschen, die dies miterlebt haben, es als die schlimmste Zeit ihres Lebens bezeichnen. Hunger, Kälte, Elend. Kaum vorstellbar, dass jemand etwas Schlimmeres erlebt hat. Doch. Die Juden. Aber die kommen im Film meines Vaters nicht vor. Er hat die Hauptrolle. Hoffnungsfroh schaut er wieder in die Zukunft. Er träumt vielleicht schon von einer Karriere in Hollywood. Am nächsten Tag hält der Zug wieder, diesmal endgültig. Die Kunde ist durchgedrungen, dass die Eisenbahnbrücke bei Mainz gesprengt worden ist, die bei Gernsheim auch. Verbrannte-Erde-Befehl. Alle steigen aus und müssen zu Fuß weiter. Die Amerikaner sind nicht mehr weit. Mein Vater versucht, sich zu orientieren. Aber meine Mutter ist die bessere Pfadfinderin. Sie findet sich in der ganzen Situation sowieso besser zurecht, trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer Schwangerschaft.

Sie zieht meinen Vater abseits des Pfades durch die Weinberge. Stunden sind sie unterwegs. Dann begreift auch mein Vater. Sie sind ganz in der Nähe seiner Eltern. Eine Sekunde zögert er. Er möchte zurück. Sich von den Amerikanern verhaften lassen. In die USA gelangen. Warner Bros. Hollywood. Oscar. Meine Mutter zieht ihn weiter. Sie gelangen zu seinen Eltern. Das Haus. Totale. Abspann.

Ich habe das aus den Erinnerungen meiner Mutter gebastelt. Meinen Vater habe ich nie danach fragen können. Auf dem Land ließ es sich damals für Flüchtlinge besser leben. Es gab mehr zu essen als in der Stadt. Bei meinen Großeltern sowieso. Die Amerikaner kamen, stellten Fragen, forderten meinen Vater auf, zur Registrierung mitzukommen, verhafteten ihn aber nicht. Seine deutschen Ausweispapiere mit der Goebbels’schen Empfehlung hatte er bereits vernichtet. Er war ja kein Idiot. Als der Krieg im Mai endlich zu Ende war, beschlossen meine Eltern nach Mainz zu ziehen. Es hieß, die Franzosen, die inzwischen auch da waren, suchten Leute für den Rundfunk. So kam ich dort zur Welt.

Die nächsten Jahre verbrachte Georg Fraunhofer bei einem französischen Radiosender als Moderator in einer Unterhaltungssendung für Deutsche. 1951 stand er dann bei einer größeren Filmproduktion wieder vor der Kamera. Der einzige ernsthafte Film, den mein Vater nach dem Krieg und überhaupt drehte, war ein Militärfilm, in dem er den guten Wehrmachtsoffizier mimte, der sich gegen die bösen SS-Männer zu behaupten hatte. Prompt wurde er mit Preisen überhäuft. Es war, als hätte man nur darauf gewartet, ihn auszuzeichnen.

Meine Mutter tat inzwischen das, was sie seit dem Ende der eigenen Karriere die ganze Zeit schon getan hatte: Sie trank.

Wir hatten einen Onkel, einen Bruder meiner Mutter, Onkel Erwin. Er war Schneidermeister, wohnte in Westberlin und hatte riesige Hände. Außerdem war er in der SPD, sozusagen das schwarze Schaf der Familie. Alle Altnazis waren in der CDU oder in der FDP. Aber Onkel Erwin war einfach kein Nazi gewesen. Später erfuhr ich, dass er sich mit seinem Vater, meinem Großvater, schon lange überworfen hatte und sogar enterbt worden war. Er besuchte uns nicht oft, aber wenn er kam, brachte er mir immer ein Geschenk mit und nahm mich auf den Schoß. Sein Atem roch nach Tabak und Schnaps und ich bewunderte seine großen Hände. Einmal kam er zum Geburtstag meiner Mutter. Ich weiß noch, dass ich bereits im Bett lag und schlief. Aber plötzlich wurde ich von lautem Stimmengewirr aufgeweckt. Ich schlich in Strümpfen und Nachthemd aus meinem Zimmer durch den Flur und lugte durch den Türspalt ins hell erleuchtete Wohnzimmer.

Am Tisch saß Onkel Erwin. Er war der letzte Gast. Etwas war zu Bruch gegangen. Unsere Haushälterin Anna war damit beschäftigt, die Scherben eines Glases wegzuräumen. Mein Vater stand mitten im Raum und schien sehr aufgebracht, während meine Mutter mit erhobenen Armen versuchte, ihn zu besänftigen.

»Das nimmst du zurück, Erwin«, schrie mein Vater.

»Ich denke nicht daran. Was wahr ist, muss wahr bleiben.«

»Woran sollen wir denn noch alles schuld sein? Die Russen sind auch nicht gerade Waisenknaben gewesen, falls du dich erinnerst. Sind sie immer noch nicht.«

»Es geht hier nicht um die Russen, sondern um das, was du und deine Sippschaft getan haben oder eben nicht getan haben. Eure Köpfe steckten bei Goebbels doch ganz tief da drin.« Damit erhob er sich kurz und deutete auf seinen Hintern.

»Ich glaube, du gehst jetzt besser, Erwin«, schaltete sich meine Mutter ein.

»Ja«, sagte mein Onkel. »Es ist auch schon spät geworden. Zu spät.« Er stand auf und machte Anstalten das Zimmer zu verlassen. Ich schlüpfte schnell zurück in mein Bett, stellte mich schlafend und wartete bis Onkel Erwin weg war und Anna die Scherben aufgesammelt hatte. Ich wusste, dass sie noch einmal nach mir sehen würde und hatte mich nicht geirrt. Aber nachdem sie sich überzeugt hatte, dass ich schliefe, zog sie sich in ihr Zimmer zurück. Im Wohnzimmer brannte immer noch Licht. Ich stand auf und nahm meinen Beobachtungsposten wieder ein. Mein Vater lief wütend im Raum auf und ab. Ich hörte, wie er sagte: »Mit Leuten wie ihm kann man nicht reden. Die glauben doch, sie hätten die Moral auf ihrer Seite und immer das Richtige getan. Und jetzt blicken sie auf uns hinab. Aber das lass ich mir nicht gefallen.«

»Ja, Erwin war schon immer anders. Mit Vater gab es auch ständig Streit wegen Politik.«

Mein Vater setzte sich an den Tisch und schüttete sich einen Schnaps ein. Was er dann sagte, werde ich nie vergessen:

»Das waren einfach andere Zeiten. Ohne Hitlers Einmarsch wäre ich nie dorthin gekommen, wo ich heute bin. Ich habe nur die Gelegenheit genutzt. Das kann man mir doch nicht vorwerfen. Ich wollte die Welt erobern. Und das habe ich getan.«

Nach diesem Abend kam Onkel Erwin überhaupt nicht mehr zu Besuch.

3

Ich fragte Jessy, ob sie vielleicht bereit sei, unsere Abmachung einzuhalten und auch etwas aus ihrem Leben zu erzählen, nachdem sie mich mit der Nachricht ihrer Schwangerschaft geschockt hatte. Sie ließ sich darauf ein und berichtete, dass es ihr nach ihrem positiven Schwangerschaftstest sehr schlecht gegangen sei und sie nicht mehr gewusst hatte, was sie tun sollte.

»Ich konnte mit keinem darüber sprechen, am allerwenigsten mit meinen Eltern. Die hätten mir sowieso nur Vorwürfe gemacht. Als meinem Vater irgendwann klar wurde, dass ich kein kleines Mädchen mehr war, glaubte er ernsthaft, ich würde so ein Leben wie meine Eltern führen, irgendwann einen Mann kennenlernen, am besten einen Ingenieur, heiraten, eine Schar von Enkelkindern bekommen und Hausfrau und Mutter werden. Ich wusste schon in der Pubertät, dass ich das nicht wollte. Als ich meinen ersten Freund hatte, fragte ich, ob ich ihn mit nach Hause bringen dürfe. Mein Vater rastete aus und schrie, solche Dinge dulde er in seinem Haus nicht und ich solle froh sein, dass er so viel Geld verdiene und wir uns überhaupt ein Haus leisten konnten. Ich meine, okay, meine Eltern sind keine Nazis, aber komplett durchgeschossen.«

Ich sagte nichts dazu, stimmte ihr aber heimlich zu. Nach einer Weile fragte ich sie, wie sie eigentlich in den Lerchenhof gekommen sei.

»Ich meine, das ist ja immerhin eine Privatklinik und ziemlich teuer.«

Aber sie sagte nur: »Ich habe jetzt keine Lust, darüber zu reden. Erzähl weiter!«

Ich verlebte also meine Jugend in Mainz und wuchs in großbürgerlichen Verhältnissen auf. Mein Vater war ständig unterwegs und brachte das Geld nach Hause, viel Geld. 1955 kaufte er etwas außerhalb ein Haus für uns, idyllisch inmitten von Obstplantagen und Weinbergen gelegen. Die Wohnung in der Oberstadt behielten meine Eltern als Stadtresidenz. Unser Hausmädchen Anna, eine burschikose Frau, die mit ihrer Mutter vor der Roten Armee aus Ostpreußen geflohen war, versorgte Haus und Wohnung und kümmerte sich um meine Erziehung, und meine Mutter kümmerte sich um sich selbst.

Das alles änderte sich eigentlich erst, als mein Vater überraschend starb. Er erlag im Alter von 50 Jahren einem Herzinfarkt. Bis zu seinem Tod war er einer der beliebtesten deutschen Volksschauspieler geblieben, auch wenn ihn heute niemand mehr kennt. Die Beerdigung fand im kleinen Rahmen statt. Nur die engste Familie war eingeladen. Der Pfarrer, der die Trauerpredigt halten sollte, war furchtbar aufgeregt. Er erzählte mir, dass es ihm eine Ehre sei, einen so berühmten Toten beerdigen zu dürfen. Er habe ihn einmal bei irgendeinem Festakt zu Ehren eines Politikers gesehen. Er beschrieb mir ganz genau, wie der Auftritt meines Vaters gewesen war, wer damals dabei war und so weiter. Am Schluss stellten wir beide fest, dass er nicht meinen Vater, sondern Johannes Heesters gesehen hatte.

Als er noch lebte, war mein Vater für mich lange Zeit einfach nur mein Vater, ein Mann, der selten zu Hause war, mir aber immer Spielsachen und Schokolade mitbrachte. Adenauer regierte das Land, Frauen durften ohne die Zustimmung ihrer Ehemänner nicht arbeiten gehen, alle waren plötzlich katholisch oder taten so und überall durfte man rauchen und trinken. Ich ging in die Schule und stellte bald fest, dass ich in beinahe allen Fächern schlecht war, bis auf Musik. Dort waren meine Lehrer begeistert und attestierten mir eine musische Begabung. Ich hatte große Schwierigkeiten Lesen und Schreiben zu lernen, und in Naturwissenschaften war ich noch schlechter. Je älter ich wurde, desto weniger ernst nahm ich die Schule. Trotzdem schickte mich meine Mutter aufs Gymnasium. Ich erinnere mich an einen Chemietest, bei dem ich eine sechs bekam. Ich hatte bei Fragen wie »Nenne drei Eigenschaften des Elementes Neon« als Antwort geschrieben: »Treue, Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit«. Oder »Unter welchen Bedingungen bildet sich bei Gülle Methangas?« »Unter schlechten.« Mein Chemielehrer schrieb unter die Note zusätzlich die Bemerkung, dass ich anfangen solle, die Schule ernst zu nehmen. Meinen Eltern schien das ziemlich egal zu sein. Allerdings verfügte meine Mutter, dass ich schon in jungen Jahren Klavier- und Gesangsunterricht bekam. Wahrscheinlich hatte sie sich das bei ihren großbürgerlichen Freunden abgeschaut und dachte, dass man das mit den Kindern so mache.

An einen Lehrer erinnere ich mich besonders gut: Dr. Werner. Er hatte immer einen roten Kopf und hinkte. Es ging das Gerücht um, er sei in Stalingrad gewesen, darum nannten wir ihn Stalingrad-Werner. Er unterrichtete Musik und Deutsch und war, wie viele andere Erwachsene, Alkoholiker. Er steigerte sich zu cholerischen Wutanfällen, und wehe, man tat dann etwas Falsches. Wenn wir in der Musikstunde im Chor singen mussten, stand er immer mit einer Stimmgabel vor uns. Falls jemand zu laut war oder etwas anderes Verbotenes tat, warf Dr. Werner die Gabel nach ihm. Der Übeltäter musste sie ihm zurückbringen und zwischen Zeige- und Mittelfinger klemmen. Stalingrad-Werner presste dann die beiden Finger mit ganzer Kraft zusammen bis der Schüler vor Schmerz aufschrie.

In Deutsch mussten wir seine beiden Lieblingsdichter auswendig lernen, Börries von Münchhausen und Hermann Löns. Dr. Werner ging während der Stunde mit einem Stock herum und rief Schülernamen auf. Wer das geforderte Gedicht nicht auswendig konnte, bekam Prügel. Ich glaube, ich könnte heute noch ein paar dieser Balladen aufsagen.

Eines Tages kam Stalingrad-Werner nicht mehr zur Schule. Es kreisten Gerüchte, er sei versetzt worden oder habe sich versetzen lassen. Manche glaubten zu wissen, dass er krank sei und sich in einem Sanatorium befände. Die anderen Lehrer gaben keine Auskunft und benahmen sich höchst seltsam. Ein paar Tage später stand seine Todesanzeige in der Zeitung. Niemand sprach offen darüber, aber Stalingrad-Werner hatte sich in seiner Wohnung erhängt. Was die Russen nicht geschafft hatten, das hatte etwas anderes geschafft. Was es war, habe ich nie herausgefunden.

Als mein Vater starb, war ich gerade fünfzehn Jahre alt. Das Geld, das er meiner Mutter und mir vermacht hatte, reichte, um uns ein angenehmes Leben zu ermöglichen und meiner Mutter ihren Alkoholismus bis zu ihrem Tod zu finanzieren. Trotzdem änderte sich plötzlich etwas.

Es hatte bereits einige Jahre vorher an einem Frühlingstag begonnen. Ich war sechs oder sieben Jahre alt und ging zur Schule, die nur ein paar hundert Meter weiter stadtauswärts lag. Eines Morgens auf dem Weg dorthin, entdeckte ich einen alten Herrn, der vor seiner Haustür stand und im Anzug mit Aktentasche auf seinen Fahrer wartete. Das war Alfred Döblin.

Wir blickten uns an. Er schaute aus seinen kurzsichtigen Augen durch seine Nickelbrille hindurch und erweckte bei mir den Eindruck eines alten halbblinden Kauzes. Plötzlich sprach er mich an und fragte, ob ich nicht der Junge aus dem Nebenhaus sei. Ich bejahte und sagte, dass ich schnell zur Schule müsse. Er war mir etwas unheimlich. Döblin aber erwiderte: »Warte mal einen Augenblick.« Er öffnete seine Aktentasche und suchte lange nach etwas. Schließlich schien er es gefunden zu haben. »Ich habe leider keine Süßigkeiten, aber vielleicht magst du ja Musik.« Mit diesen Worten übergab er mir ein dünnes Heftchen mit Noten. Ich dankte ihm und beeilte mich, weiterzukommen. Ich habe mich danach nie wieder mit ihm unterhalten, ihn auch nie wieder alleine gesehen.

Ein Jahr später verließ Döblin zuerst Mainz und dann Deutschland, für immer. Es liefen ihm dort zu viele Nazis herum.

In dem Heft, das er mir geschenkt hatte, waren Noten von Schubert. Warum Döblin sie dabeigehabt hatte und glaubte, er würde mir eine Freude machen, wenn er sie mir schenkte, weiß ich nicht. Ich gab sie meiner Mutter und jahrelang verschwanden sie, da sich niemand um sie kümmerte. Erst als mein Vater starb, tauchten sie plötzlich wieder auf. Anna, das Hausmädchen, hielt sie eines Tages in der Hand und fragte, was damit geschehen solle, da sie sie in der Schublade einer Kommode gefunden hatte. Meine Mutter schaute das Heftchen an. Und dann geschah es. Ihr Blick veränderte sich. Ich habe diesen Blick später auch bei anderen Personen wahrgenommen, aber damals sah ich ihn zum ersten Mal. Es war, als ob irgendetwas in ihr seit Jahren nur auf diesen Moment gewartet hätte. Von diesem Tag an änderte sich unser Leben radikal.

Das heißt, zunächst veränderte sich das Leben meiner Mutter. Sie wurde plötzlich aktiver und trank weniger. Sie engagierte sich in sozialen Projekten der Kirche. Und sie begann, wieder Musik zu machen. Aber sie sang keine Chansons mehr. Stattdessen spielte sie Klavier und begleitete sich selbst mit Gesang. In erster Linie waren es Schubert und Brahms. Wir musizierten zusammen, zuerst nur manchmal, dann immer häufiger. Meine Mutter spielte und ich sang Die Winterreise, Die Forelle und Der Tod und das Mädchen. Es war, als hätte der Tod meines Vaters und das Notenheft bei ihr eine Blockade gelöst. Sie machte einfach da weiter, wo sie vor der Heirat aufgehört hatte. Bald hatte sie auch kleinere Auftritte bei Abendgesellschaften. Sie nahm mich mit und wir trugen die Stücke zusammen vor. So erlebte meine Mutter ihren zweiten künstlerischen Frühling und ich meinen ersten.

Meine Mutter wollte, dass ich das Abitur bestehe, aber gleichzeitig war sie von dem Gedanken besessen, aus mir einen Künstler zu machen. Am Anfang wünschte sie, ich solle in die Fußstapfen meines Vaters treten. Sie schaffte es auch tatsächlich durch alte Bekannte, mich in einer Filmproduktion unterzubringen. Der Film hieß Grüß mir die Heide!

Einen Sommer lang drehten wir südlich von Hamburg. Es entstand ein Heimatfilm, in dem mein Vater eine Hauptrolle bekommen hätte. Ich bekam eine kleine Nebenrolle. Der Film bestand sowieso hauptsächlich aus Bildern von Schafen und Landschaftsaufnahmen aus der Lüneburger Heide, wo er gedreht wurde. Die Geschichte war wie Shakespeare für Arme. Ein reicher Industrieller macht mit seiner Tochter Urlaub in der Lüneburger Heide, mit dabei ist sein Sekretär, der die Tochter heiraten soll. Die Tochter will aber nicht, sondern sich ihre Freiheit bewahren und selbst entscheiden, wen sie heiratet. Bei einem Fest in der Heide lernt sie einen Schäfer kennen, der von Liebeskummer geplagt ist. Er ist in die Tochter eines reichen Heidebauern verliebt und sie in ihn, aber der Vater hat die Heirat aus Standesgründen verboten. Zusammen versuchen die Industriellentocher und der Schäfer ihre Pläne zu verwirklichen. Mehrmals ergreifen bei dem Film die Frauen die Initiative, was die Geschlechterverhältnisse gehörig durcheinanderrüttelt. In einer Szene trägt die Industriellentochter sogar Hosen und flirtet wild mit dem Schäfer, aber am Ende finden doch alle Paare zueinander, auch die Industriellentochter entdeckt, dass sie eigentlich in den Sekretär verliebt ist. Männer sind wieder Männer und Frauen wieder Frauen.

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