Kitabı oku: «Ellenbogenfreiheit»
Daniel C. Dennett
Ellenbogenfreiheit
Die erstrebenswerten Formen
freien Willens
CEP Europäische Verlagsanstalt
© e-book Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2015
© Erweiterte Neuauflage CEP Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2015
Die Neuauflage 2015 ist erweitert um die „Einleitung zur Neuauflage“ und den anlässlich der Verleihung des Erasmus-Preises 2012 von Daniel Dennett verfassten Aufsatz „Erasmus: Manchmal liegt ein Spindoktor richtig“ (Originaltitel „Erasmus: Sometimes a Spin Doctor is Right“), übersetzt aus dem Englischen von Tobias Schlicht.
© der deutschen Erstausgabe 1986 Verlag Anton Hain Meisenheim GmbH, Frankfurt/Main. Aus dem Englischen übersetzt von Uta Müller-Koch
Titel der englischen Originalausgabe
ELBOW ROOM
© 1984 Daniel C. Dennett
eISBN 978-3-86393-527-6
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Übersetzung, Vervielfältigung (auch fotomechanisch), der elektronischen Speicherung auf einem Datenträger oder in einer Datenbank, der körperlichen und unkörperlichen Wiedergabe (auch am Bildschirm, auch auf dem Weg der Datenübertragung) vorbehalten.
Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeische-verlagsanstalt.de
Daniel C. Dennett hat mit seinem international sehr beachteten Buch „Ellenbogenfreiheit“ einen originellen Vorschlag zur Frage erbracht, wie man unsere Intuition über Freiheit, Rationalität und Verantwortung mit dem Bild von einer deterministischen Welt in Einklang bringen könne. Nach Dennett ist das für all jene Intuitionen möglich, an denen uns für unser Selbstverständnis wirklich gelegen sein muss. Und dort, wo keine Vereinbarkeit möglich erscheint, handelt es sich immer um ein Überbleibsel einer unhaltbaren philosophischen Theorie. Die Debatte selbst hinterfragt Dennett, indem er die entscheidende Frage reflektiert, warum uns am freien Willen so viel gelegen ist.
Ein aktuelles Vorwort von Daniel C. Dennett ist der Neuausgabe vorangestellt, und als neuer Beitrag zum Thema sein anlässlich der Verleihung des Erasmus-Preises 2012 verfasster Essay „Erasmus: Sometimes a Spin Doctor is Right“.
Daniel Clement Dennett, geboren 1942 in Boston, US-amerikanischer Philosoph und einer der führenden Vertreter in der Philosophie des Geistes. Heute ist er Professor für Philosophie und Direktor des Zentrums für Kognitionswissenschaft an der Tufts University. 2001 wurde er mit dem Jean-Nicod-Preis ausgezeichnet, 2007 mit dem Richard-Dawkins-Award der AAI, 2012 erhielt er den Erasmus-Preis.
Dem Andenken an Gilbert Ryle gewidmet
Inhalt
Einleitung zur Neuauflage
Erasmus: Manchmal liegt ein Spindoktor richtig
Vorwort
KAPITEL I
Bitte keine Schreckgespenster
1. Das ewige, fesselnde Problem
2. Die Butzemänner
3. Sphexhaftigkeit und andere Sorgen
4. Überblick
KAPITEL II Die Vernunft wird praktisch
1. Woher kommen Gründe?
2. Semantische Maschinen, das Perpetuum Mobile und eine defekte Intuitionenpumpe
3. Reflexion, Sprache und Bewußtsein
4. Gemeinschaft, Kommunikation und Transzendenz
KAPITEL III Kontrolle und Selbstkontrolle
1. „Dank der Umstände außerhalb unserer Kontrolle“
2. Einfache Kontrolle und einfache Selbstkontrolle
3. Kontrolle ohne Handelnden und unser Begriff der Verursachung
4. Handelnde im Wettstreit
5. Der Nutzen der Unordnung
6. „Laß’Dich gehen“
KAPITEL IV Das selbstgemachte Selbst
1. Das Problem des verschwindenden Selbst
2. Die Kunst der Selbst-Definition
3. Unser Glück versuchen
4. Überblick
KAPITEL V Handeln unter der Idee der Freiheit
1. Wie kannst du jetzt noch überlegen?
2. Ein Entwurf des vollkommenen überlegenden Wesens
3. Wirkliche Gelegenheiten
4. „Vermeiden“, „vermeidbar“, „unausweichlich“
KAPITEL VI „Hätte anders können“
1. Machen wir uns darüber Gedanken, ob wir anders gekonnt hätten?
2. Worüber wir uns Gedanken machen
3. „Kann“ – der Frosch in Austins Bierkrug
KAPITEL VII Warum wollen wir freien Willen?
1. Der vernachlässigte Nihilismus
2. Verminderte Zurechnungsfähigkeit und das Gespenst der schleichenden Exkulpation
3. Das schreckliche Geheimnis wird bestritten
Literaturverzeichnis
Register
Einleitung zur Neuauflage
Als ich Ellenbogenfreiheit im Jahre 1984 veröffentlichte, nahm ich an, es bliebe das einzige Buch über Willensfreiheit, das ich je zu schreiben für nötig halten würde. Und ich glaube, dass es nach dreißig Jahren nach wie vor eine sehr effektive, wenn auch schwerlich umfassende Argumentation für den Kompatibilismus darstellt. Die Varianten des freien Willens, die erstrebenswert sind, die Varianten, die moralische und künstlerische Verantwortung garantieren, werden nicht nur nicht durch die Fortschritte in den (Neuro-)Wissenschaften gefährdet; sie werden sogar unterschieden, erklärt und detailliert gerechtfertigt. Daneben sind noch andere, einfach zu definierende Varianten der Willensfreiheit in Umlauf, die nicht vereinbar sind mit unserem derzeitigen Wissen darüber, wie Menschen ihr Verhalten kontrollieren, wie etwa „libertarische Freiheit“ oder „Agenskausalität“. Sie existieren aber nicht und können auch nicht existieren; selbst wenn einige Philosophen sie immer noch ernst nehmen, sind sie bloß von historischem Interesse wie Meerjungfrauen und Kobolde.
Man kann sagen, dass ich die Hartnäckigkeit einiger der Ideen unterschätzt habe, die ich in den 1980er Jahren zu demontieren und zu diskreditieren versuchte. Obwohl der Kompatibilismus, wie ich ihn in Ellenbogenfreiheit verteidigt habe, unter Philosophen wohl immer noch mehrheitlich vertreten wird, gibt es nach wie vor tapfere Verfechter all dieser anderen Ismen, die ihre Positionen weiterhin in Büchern und Artikeln verteidigen. Etwas beunruhigender ist die Tatsache, dass sich einige eminente Wissenschaftler seit kurzem für den freien Willen interessieren und ihn selbstsicher als Illusion bezeichnen. Unter ihnen finden sich der Physiker Stephen Hawking, der Evolutionsbiologe Jerry Coyne sowie die Kognitionswissenschaftler Wolf Singer, Chris Frith und Paul Bloom. Sie beschränken sich dabei auf jene nur von Minderheiten vertretenen Willensfreiheitskonzeptionen, ignorieren aber den Kompatibilismus, statt ihn zu berücksichtigen. Oder aber sie akzeptieren dankbar Kants berüchtigte Abweisung (eine „elende Täuschung“) ohne weitere Diskussion.
Warum? Warum konzentrieren sich diese Wissenschaftler auf die am wenigsten wissenschaftlich fundierten Konzeptionen von Willensfreiheit? Als ich einige von ihnen befragt habe, stellte sich heraus, dass sie zum einen Bestürzung über unsere gegenwärtigen Strafsysteme umtreibt (eine Bestürzung, die wir alle teilen sollten), zum anderen folgende Intuition: Könnten wir uns nur dieses antiquierten Mythos des freien Willens entledigen, dann könnten wir moralische Verantwortung verbannen und Strafe (punishment) – die sie nicht von Sühne (retribution) unterscheiden – durch etwas Besseres ersetzen, etwas, das freilich selten angegeben wird. Es fällt ihnen relativ leicht, zu zeigen, dass die Idee eines Ich oder einer Seele, das oder die sich auf wundersame Weise (ohne eine kausale Vorgeschichte) für die eine Handlung statt für eine andere entscheidet, reine Phantasie ist, die die Wissenschaft zurückweisen muss. Dies, so glauben sie, eliminiert den freien Willen und öffnet einer Revolution unserer Behandlung gemeingefährlicher Menschen, deren Handlungen eingeschränkt werden müssen, Tür und Tor. Da sie der Meinung sind, dass man die Details dieser rechtlichen und ethischen Reform besser den Experten für Recht und Ethik überlassen sollte, weisen sie lediglich in die Richtung einer kärglich erdichteten Zukunft ohne die schreckliche und überflüssige Last der moralischen Verantwortung. Wenn sich doch nur diese Bescheidenheit bezüglich ihrer Expertise auch auf ihre Analyse der ausschlaggebenden Konzeption von Willensfreiheit erstreckte!
Man kann meiner Meinung nach ebenso sagen, dass die Konzeption von Willensfreiheit, die ich in Ellenbogenfreiheit verteidige, weniger eine unvoreingenommene Analyse darstellt denn eine Reform unserer Alltagskonzeption – und zwar mehr, als ich damals zuzugeben bereit war. In den 1980ern hatte die Philosophie der normalen Sprache die dominante Stellung, die sie in den 1960ern innehatte, bereits eingebüßt, während ich, als verständnisvoller Schüler Ryles, immer noch mit dem Projekt beschäftigt war, zu verstehen, welcher Sinn sich hinter dem, was wir gewöhnlich sagen, verbirgt, statt es von vornherein als mythischen Unsinn zu verwerfen. Tatsächlich bin ich immer noch mit diesem Projekt beschäftigt – einem, wie ich meine, wesentlichen Element der Aufgabe des Philosophen, wie Wilfrid Sellars sie in Philosophy and the Scientific Image of Man (1962) formulierte:
„Das Ziel der Philosophie besteht, abstrakt formuliert, darin, zu verstehen, wie Dinge im weitesten Sinn des Wortes miteinander zusammenhängen im weitesten Sinn des Wortes.“
Die stillschweigenden Annahmen der Philosophie der normalen Sprache geben kein Bollwerk ab gegen die imperialistischen Übergriffe der Wissenschaft – wie einige Fanatiker vor fünfzig Jahren meinten –, aber sie sind in Kraft und legen die Bedingungen fest zu Beginn jeder Untersuchung, sei sie wissenschaftlicher oder anderer Art. Die Frage „Woraus bestehen die Dinge?“ ist nicht in wissenschaftlichen Begriffen formuliert, sondern drückt eine Neugier aus, die die Wissenschaft stillen muss – direkt oder indirekt. Daher muss man die Dinge (im weitesten Sinn des Wortes), die wir gewöhnlich für wirklich erachten, verstehen, wenn man angeben will, wie sie mit den Dingen zusammenhängen, die die Wissenschaften postulieren. Verstehen beruft sich immer auf das Prinzip der wohlwollenden Interpretation (um meinen anderen Mentor, Quine, zu zitieren), so dass es niemals eine klare Trennlinie gibt zwischen purer Analyse und Reform. Etwas einen Sinn zu verleihen heißt immer, ihm den besten Sinn zu verleihen, den man finden kann, und das kann oft – sogar typischerweise – dazu führen, dass man im Zuge der Analyse eine alltägliche Konzeption reinigt und sie ihres Übergepäcks, der Wunden ihrer Geschichte, entledigt.
Das ist es, was ich in Ellenbogenfreiheit zu tun gedachte. Ich wollte alles retten, was am alltäglichen Begriff der Willensfreiheit von Bedeutung war, aber alles Hinderliche über Bord werfen. Wenn meine Bemühungen um einen Hausputz viele unbeeindruckt ließen, könnte man mit einiger Berechtigung folgern, ich hätte versucht, das Unrettbare zu retten, und sollte es nun als aussichtslose Sache aufgeben. Mein zweites Buch zu diesem Thema, Freedom Evolves (2003), blieb der Aufgabe treu, sowohl den Ausdruck als auch den Begriff zu retten. Aber im Lichte der etwas jüngeren Diskussionen über Willensfreiheit war ich versucht, dieser Empfehlung nachzukommen, und in unveröffentlichten Vorlesungen habe ich den Ausdruck „freier Wille“ versuchsweise aufgegeben – weil er einfach zu viele unglückliche und scheinbar unwiderstehliche Konnotationen mit sich bringt, die jeder Reform standhalten –, während ich dem Thema jedoch treu blieb: der Untersuchung der Bedingungen, die der moralischen Verantwortung normaler erwachsener Menschen zugrunde liegen.1
Von meiner schwankenden Loyalität gegenüber dem Ausdruck „freier Wille“ einmal abgesehen, würde ich auch heute keine der substantiellen Thesen und Argumente aus Ellenbogenfreiheit widerrufen wollen. Im Gegenteil bin ich der Meinung, dass das Buch auch zur gegenwärtigen Diskussion maßgebliche Beiträge liefert. Zum Beispiel glaube ich, dass ich der erste Philosoph war, der die Kontrolltheorie und ihre verkürzte Konzeption der Autonomie in die Untersuchung eingeführt hat. Auch habe ich meines Wissens als Erster die Bedeutung des deterministischen Chaos als völlig akzeptablen Ersatz für den indeterministischen Zufall diskutiert. Jüngere Debatten über diese Themen legen keine Revision meiner Theorien nahe. Ich glaube auch, dass meine Diskussion von Austins Putt und seiner fälschlichen Betonung der „Verhältnisse, wie sie nun einmal waren“,2 wiederaufgenommen und weitergeführt von Christopher Taylor und mir3, außerdem in Freedom Evolves, einen unwiderlegten und unwiderlegbaren Einwand gegen die zentralste Annahme enthält, die Philosophen und andere bezüglich des Determinismus und der Fähigkeit, „anders handeln zu können“, machen. Es ist einfach nicht von Bedeutung, ob Sie unter exakt denselben Bedingungen immer dasselbe tun würden oder nicht, und diejenigen, die darauf beharren, dass es sehr bedeutsam sei (dass es, kurz gesagt, wichtig sei, ob unsere Welt deterministisch oder indeterministisch ist), schulden uns allen ein Argument dafür, warum das so ist. Wir führen unser Leben voller Hoffnung und Strebsamkeit, Freude und Bedauern, Lob und Tadel. Was am Indeterminismus würde irgendetwas davon gestatten, und was am Determinismus würde irgendetwas davon untergraben? Ich warte immer noch auf eine überzeugende Antwort auf diese Herausforderung.
Ich beginne Ellenbogenfreiheit mit der Ermahnung „Bitte keine Schreckgespenster“ und hebe damit hervor, dass Philosophen dazu neigen, sich düstere Szenarien auszumalen, um ihre Positionen über den freien Willen zu „motivieren“: den gebieterischen Puppenspieler, den ruchlosen Neurochirurgen, das unglaublich schrumpfende Selbst und vieles andere. Die Panikmache ist zumeist ungerechtfertigt, was an den übersehenen Unterschieden zwischen unseren Umständen und den in jenen fürchterlichen Szenarien beschriebenen liegt. Meine Mahnung hat sicherlich ihr Ziel nicht erreicht. In den letzten Jahren sind neue Wellen von Neurochirurgen und Puppenspielern sowie verschwindenden Selbsten ersonnen worden, um die Argumente zu (miss)illustrieren. Vielleicht vermag diese Neuauflage von Ellenbogenfreiheit die Rolle einer Kontrollleuchte zu spielen. Sie kann den Werbern „neuer“ Perspektiven auf dieses Thema anzeigen, dass ihre Ideen nicht nur alte Hüte sind, sondern bereits widerlegte alte Hüte. Wie dem auch sei, ich bin gespannt, ob mein Buch neue Leser von seinen zentralen Schlussfolgerungen überzeugen kann, nun, da wir so viel mehr erhellendes Wissen über die darin diskutierten Themen angehäuft haben.
Literaturangaben
Dennett, D. (2010). „My Brain Made Me Do It: When Neuroscientists Think They Can Do Philosophy“, Max Weber Lecture Series, Europäisches Universitätsinstitut Florenz, unveröffentlichtes Manuskript.
Dennett, D. (2012). „Reflections on Free Will“, Free Press; seit Januar 2014 auch online unter: www.naturalism.org.
Taylor, C. und D. Dennett (2002). „Who’s Afraid of Determinism? Rethinking Causes and Possibilities“, in: The Oxford Handbook of Free Will, hrsg. von R. Kane, Oxford, S. 257-277.
Taylor, C. und D. Dennett (2010). „Who’s Still Afraid of Determinism? Rethinking Causes and Possibilities“, in: The Oxford Handbook of Free Will, hrsg. von R. Kane, 2. Aufl., Oxford, S. 221-241.
1 Meine jüngsten veröffentlichten Diskussionen des Themas finden sich alle auf meiner Internetseite: http://ase.tufts.edu/cogstud/dennett/recent.html. Siehe auch: Dennett 2010; „Erasmus: Manchmal liegt ein Spindoktor richtig“, in diesem Band; und meine Rezension des Buches „Free Will“ von Sam Harris aus dem Jahr 2012.
2 In diesem Band, S. 187.
3 Taylor und Dennett 2002 und 2010.
Erasmus: Manchmal liegt ein Spindoktor richtig*
Vor etwa 500 Jahren gab es eine bedeutsame Debatte zwischen Martin Luther und Desiderius Erasmus über Willensfreiheit. Luthers Text Assertio (Behauptung) von 1520 wurde erwidert von Erasmus’ Gespräch oder Unterredung über den freien Willen aus dem Jahre 1524, gefolgt wiederum von Luthers Vom unfreien Willen von 1525. Damals stand sie im Zentrum der intellektuellen Aufmerksamkeit in Europa, aber zu meiner Studienzeit gehörte sie nicht mehr zur Pflichtlektüre, und ich muss zugeben, im Laufe meiner Forschungen über den freien Willen habe ich sie nicht gelesen, bis vor kurzem, als ich eingeladen wurde, einen Aufsatz – diesen Aufsatz – über Erasmus zu schreiben. Für diese Einladung bin ich besonders dankbar, weil sie mir die Augen öffnete für einige unerwartete Parallelen zu einer Debatte zum selben Thema, in die ich zurzeit verwickelt bin und in der ich auf Erasmus’ Seite stehe, wenn auch unter ganz anderen Prämissen. Zu meiner Überraschung und Freude entdeckte ich, dass die Luther/Erasmus-Debatte, wenn ich sie mit einem halben Jahrtausend Abstand betrachte, meine Sicht auf die gegenwärtigen Auseinandersetzungen korrigiert und bereichert hat.
Luther argumentierte, wie Sie sich erinnern, lebhaft für die These, dass Menschen keinen freien Willen haben, ja gar nicht haben könnten, und dass sie daher auch keine Erlösung verdienten für irgendwelche guten Werke, die sie vollbracht haben, da alle ihre Taten letztlich durch Gottes Schöpfung bestimmt seien. Wir seien lediglich die Werkzeuge Gottes und sollten aus diesem Grunde für das, was wir tun, nicht gelobt oder belohnt werden. Erasmus beunruhigten diese Thesen zutiefst, die seiner Meinung nach menschliches Streben generell untergraben, so dass er kunstvoll eine Verteidigung der Willensfreiheit entwickelte, die sorgsam zwischen den verschiedenen durch die Heilige Schrift geschaffenen Hindernissen hindurchnavigierte, wobei er sich derjenigen Stellen in der Bibel bediente, die (nach seiner Interpretation) behaupteten oder darauf hinausliefen, dass wir einen freien Willen haben. Die Heilige Schrift war die einzige Autorität – abgesehen von der Vernunft selbst –, auf die sich Luther und Erasmus beriefen. (Die Wissenschaft war im Entstehen begriffen, aber noch lange nicht am Horizont sichtbar: Kopernikus machte astronomische Beobachtungen und sprach über seine Idee des Heliozentrismus, aber es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis er seinen revolutionären Traktat Über die Umschwünge der himmlischen Kreise veröffentlichte. Wie Stephen Greenblatt in seinem brillanten Essay im New Yorker1 zeigt, hatte die Wiederentdeckung des antiken, aber erstaunlich modernen protowissenschaftlichen Gedichtes Über die Natur der Dinge von Lukrez im Jahre 1417 den epikureischen Atomismus wiederaufleben lassen, samt den zufälligen Abweichungen der Atome (atomic swerve), die uns angeblich einen freien Willen zugestehen. Diese subversiven Ideen fanden in den folgenden Jahrhunderten immer mehr Verbreitung, wurden jedoch ebenso schnell von der Kirche verurteilt und unterdrückt und werden in der Debatte zwischen Erasmus und Luther, die sicherlich beide mit ihnen vertraut waren, mit keinem Wort gewürdigt.)
Heutzutage erklären einige prominente Neurowissenschaftler und Psychologen sowie ein paar freimütige Physiker und Biologen den freien Willen zu einer Illusion, ähnlich wie Luther, und ich gehöre zu ihren Gegnern. Die Wissenschaft ist unsere einzige Autorität – abgesehen von der Vernunft selbst –, und die Heilige Schrift besitzt für die in Frage stehenden Themen nicht mehr Relevanz als Homers Odyssee. Beide Debatten betreffen zwar exakt dieselbe Frage – die Realität des freien Willens –, doch der Kontrast auf der Ebene der Methoden zwischen damals und heute ist sehr stark. Luther und Erasmus schwingen ihre ausgewählten biblischen Passagen, aber keiner von beiden kommt je auf die Idee, zu argumentieren, dass einige dieser Passagen schlicht falsch sein könnten; immerhin handelt es sich um die Bibel, so dass alles in ihr Enthaltene einfach für wahr gehalten werden muss. Der einzige Ausweg besteht darin, alternative Deutungen für diejenigen Passagen zu finden, die der eigenen Position Probleme bereiten. Die Auslegung einer Sammlung von Stellen zu einem Thema mag uns heute als interessante Übung erscheinen, aber es fällt schwer, sie als eigenständige Suche nach der Wahrheit über dieses Thema ernst zu nehmen, verglichen etwa mit einer Metaanalyse einer Reihe von empirischen Studien zu einem Thema, die eventuelle Vorurteile oder andere Defizite in dieser Forschungsliteratur aufdecken kann. Die meisten der heutigen Argumente für oder wider die Willensfreiheit, die sich auf Experimente berufen, in denen die Gehirne von Versuchspersonen auf die eine oder andere Weise untersucht werden, oder auf Studien, die statistische Muster im menschlichen Verhalten analysieren, standen Erasmus und Luther einfach nicht zur Verfügung. Nichtsdestotrotz wimmelt es von taktischen und rhetorischen Gemeinsamkeiten in diesen beiden Debatten. Beispielsweise betrachte ich, analog zu Erasmus’ Einwänden gegen Luthers krude Fehldeutungen der Bibelstellen, die Argumente der Wissenschaftler für den illusorischen Charakter der Willensfreiheit als grob vereinfachend, philosophisch naiv und letztlich unberechtigt angesichts der angeführten wissenschaftlichen Belege. Sowohl Erasmus als auch ich selbst benutzen einfache Gedankenexperimente – die ich Intuitionspumpen nenne –, um begriffliche Probleme in den von uns kritisierten Positionen aufzudecken.2 Manche dieser Wissenschaftler meinen, ihre angeblichen Entdeckungen würden etablierte repressive Ideen über den Haufen werfen und die Menschheit von der Tyrannei überholter Autoritäten befreien, so wie es auch Luther glaubte. Das weist Erasmus und mir die weniger ergreifende Rolle des Reformers zu, der einen faden Kompromiss verteidigt, der vieles von derjenigen Tradition erhalten möchte, die die Opposition umwälzen will. Diese Ähnlichkeiten sind aufschlussreich und etwas unbequem für mich, wie ich erklären werde, aber sie verblassen neben der festen Überzeugung, die Erasmus und ich teilen: Wir sind beide der Ansicht, dass die Lehrmeinung, der freie Wille sei eine Illusion, aller Wahrscheinlichkeit nach tiefgreifende, bedauerliche soziale Konsequenzen nach sich zieht, wenn sie nicht konsequent widerlegt wird.
Für mich bringt dies eine neue Herausforderung mit sich: Erasmus lag offenbar falsch mit seiner Vorhersage, dass in Luthers Position Unheil lauere. Werden sich meine Befürchtungen nicht als ebenso schwarzseherisch erweisen? Ich denke nicht, da unsere technologische Welt es uns erlaubt, uns Möglichkeiten auszudenken – und ernst zu nehmen –, die von keinem Angehörigen der Welt der Renaissance von Luther und Erasmus ernsthaft hätten in Erwägung gezogen werden können. Die Wissenschaft hat sich als viel eindrucksvollere Autorität erwiesen, als es die Bibel je sein könnte!
Ein Gedankenexperiment wird meine Bedenken verdeutlichen und uns helfen zu erkennen, inwiefern sich unser Dilemma von ihrem unterscheidet. Wir stehen am Anfang der neurochirurgischen und neuropharmakologischen Behandlung belastender psychischer Zustände. Um nur ein eindrucksvolles Beispiel dafür zu nennen, was uns bevorsteht: Tiefe Hirnstimulation durch implantierte Elektroden erweist sich als effektiv bei der Behandlung von Zwangsstörungen (OCD: obsessive compulsive disorder), wie die Pionierarbeit von Damiaan Denys in Amsterdam zeigt.3 Das ist ein wissenschaftliches Faktum, aber lassen Sie uns dieses für ein wenig Science Fiction benutzen:
Eines Tages sagte eine brillante Neurochirurgin zu ihrem Patienten, dem sie gerade in ihrem Hochglanz-Hightech-OP etwas implantiert hatte:
„Das Gerät, das ich Ihnen gerade implantiert habe, kontrolliert nicht nur Ihre Zwangsstörung; es kontrolliert alle Ihre Entscheidungen, dank unseres Hauptkontrollsystems, das per Funkkontakt mit Ihrem Mikrochip 24 Stunden am Tag kommuniziert. Mit anderen Worten, ich habe Ihren bewussten Willen ausgeschaltet; Ihr Gefühl, einen freien Willen zu haben, wird fortan eine Illusion sein.“
Tatsächlich hatte sie nichts dergleichen getan; es war lediglich eine Lüge, die sie ihm erzählte, um zu sehen, was passieren würde. Es funktionierte; der arme Geselle ging hinaus in die Welt, davon überzeugt, kein verantwortlicher Akteur, sondern bloß eine Marionette zu sein, und sein Verhalten begann dies zu belegen: Er wurde verantwortungslos, aggressiv, nachlässig, ließ seinen schlimmsten Launen freien Lauf, bis er gefasst und vor Gericht gestellt wurde. In seiner eigenen Verteidigung beteuerte er leidenschaftlich seine fehlende Verantwortlichkeit aufgrund des Implantats in seinem Gehirn: „Meine Neurochirurgin hat mich darüber informiert, dass sie von nun an all meine Gedanken kontrolliert.“ Die Neurochirurgin gab im Zeugenstand zu, diese Dinge gesagt zu haben: „Aber ich habe ihn nur ein bisschen durcheinanderbringen wollen – ein Schabernack, das ist alles. Ich habe nie gedacht, dass er mir glauben würde!“
An diesem Punkt könnte unsere Geschichte verschiedene Richtungen einschlagen. Der Richter könnte die Vorwürfe gegen den Angeklagten fallenlassen, die Aussage der Neurochirurgin anzweifeln und sie wegen Meineids anklagen oder erklären, dass sich die Frage der Verantwortung in diesem Falle nach dem Gesetz nicht aufklären lasse. Aber wie auch immer das Gericht Milderung oder Entlastung bemessen wird – wir können uns wohl darauf einigen, dass die Neurochirurgin das Leben ihres Patienten durch ihre unüberlegte Äußerung ruiniert, ihn seiner Integrität beraubt und seine Kraft, Entscheidungen zu fällen, gelähmt hat. In Wirklichkeit hat die falsche Nachbesprechung mit ihrem Patienten nichtchirurgisch genau das erreicht, was sie mit Hilfe des Eingriffs erreichen wollte: Sie hat ihn als moralischen Akteur unfähig gemacht. Aber wenn sie für diese schlimme Konsequenz verantwortlich wäre, besteht dann nicht die Gefahr, dass die Neurowissenschaftler, die derzeit mit Behauptungen die Medien füllen, ihre Forschungen belegten, dass der freie Wille eine Illusion sei, denselben Schaden massenhaft anrichten bei all jenen, die ihren Worten Glauben schenken? Wenn schon von Umweltbelastung die Rede ist: Neurowissenschaftler, Psychologen und Philosophen müssen ihre moralische Verpflichtung ernst nehmen und die Voraussetzungen und Implikationen ihrer öffentlichen Kommentare zu diesen unheilvollen Themen mit derselben Sorgfalt zu Ende denken, die wir von denjenigen verlangen, die sich zur globalen Erwärmung oder zu bevorstehenden Asteroideneinschlägen äußern. Ganz unabhängig davon, wie solide oder unsicher die Schlussfolgerungen sind, die die Wissenschaftler gezogen haben – da wir voraussehen können, dass zur Öffentlichkeit viele Menschen zählen, die ihre Aussagen missverstehen können, sollten die möglichen Effekte solchen Missverstehens einkalkuliert und bewertet werden. Der Schriftsteller und Sozialkritiker Tom Wolfe, um nur ein Beispiel zu nennen, hat auf ihre Ankündigungen – und die Wirkung, die diese auf die allgemeine Öffentlichkeit ausüben – in einem Essay mit dem Titel „Sorry, aber Ihre Seele ist soeben verstorben“ geantwortet.4 Hier ist seine Meinung:
„Die Schlussfolgerung, die die Menschen draußen, außerhalb der Laborwände, ziehen, lautet: Das ist doch eine abgekartete Sache! Wir sind alle verkabelt! Das – und: Beschuldigen Sie nicht mich! Ich bin falsch verkabelt!“
Falsch verkabelt? Wie wäre es dann, richtig verkabelt zu sein – oder haben die Wissenschaftler „herausgefunden“, dass in Sachen moralische Verantwortung keiner richtig verkabelt ist oder sein könnte?
Ich glaube, Erasmus hätte dieses Gedankenexperiment gefallen, da es auf so dramatische Weise sein eigenes Hauptanliegen illustriert: „Es gibt gewisse Dinge derart, daß es, auch wenn sie wahr wären und gewußt werden könnten, dennoch nicht förderlich wäre, sie gemeinen Ohren preiszugeben.“ Er erläutert:
„Ein wie großes Fenster würde diese Behauptung, wenn man sie im Volke bekanntmachte, unzähligen Sterblichen zur Gottlosigkeit öffnen, besonders bei der Sterblichen großen Trägheit, Gedankenlosigkeit, Bosheit und unverbesserlichen Geneigtheit zu jeder Art von Frevel? Welcher Schwache wird den ewigen und mühevollen Kampf gegen sein Fleisch weiterführen? Welcher Böse wird danach streben, sein Leben zu bessern?“5
Erasmus schreckt nicht vor der offenkundigen Schlussfolgerung zurück:
„Einiges ist aus sich heraus schädlich, weil es nicht geeignet ist, wie z.B. Wein für einen Fiebernden. Daher wäre es vielleicht erlaubt gewesen, solche Gegenstände in Unterredungen mit Gebildeten oder auch in den Theologieschulen zu behandeln, obwohl ich meinen möchte, daß es nicht einmal hier nütze, wenn es nicht maßvoll geschieht; im übrigen scheint mir, diese Art Theaterstücke vor einer gemeinen Menge aufzuführen, nicht nur unnütz, sondern geradezu verderblich.“6
Diese bemerkenswerte Passage verlangt zwei Bemerkungen: Erstens, verstrickt sich Erasmus hier nicht in einen pragmatischen Widerspruch, indem er einen Essay veröffentlicht, eine Unterredung gar, die die Empfehlung, über dieses Thema nur mit gedämpfter Stimme hinter verschlossenen Türen zu disputieren, jedermann preisgibt? (Eltern wissen, ein vor den Kindern ausgesprochenes „Psst! Nicht vor den Kindern!“ weckt mit Sicherheit deren Neugier auf das, wovor sie beschützt werden sollen.) Auf den ersten Blick scheint die Antwort Nein zu lauten, da die Streitschrift in lateinischer Sprache publiziert wurde, und des Lateinischen waren nur „die Studierten“ mächtig, ebendie Elite, der man zutraute, dass diese Themen innerhalb der theologischen Seminare verblieben. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass sowohl Erasmus als auch Luther berühmt waren und dass die allgemeine Öffentlichkeit, sogar die Analphabeten, ein großes Interesse an ihren Worten, wenn auch nicht wörtlich, so doch wenigstens der Sache nach, zeigte. Daher verschwindet der pragmatische Widerspruch nicht zur Gänze, und tatsächlich sah sich Erasmus einem unangenehmen Dilemma ausgesetzt: Sollte er Luther einfach ignorieren und hoffen, dass seine schädlichen Ideen irgendwann verblassen, oder sollte er ihn attackieren, auch wenn dies der Meinung seines Gegners zu noch größerer Bekanntheit verhelfen und ihr eine gehörige Portion Prestige zuerkennen würde? Im ersten Absatz bringt er seine Ambivalenz zum Ausdruck: Luthers Assertio von 1520 habe die strittige Frage nach dem freien Willen „in eher erhitzter Weise aufgegriffen“, und daher „werde auch ich, durch meine Freunde ermutigt, versuchen, durch die folgende kurze Diskussion, die Wahrheit ans Licht zu bringen“. In unseren Tagen befinden sich jene von uns, die wiederholt von den Ideologen des intelligenten Designs herausgefordert werden, in derselben Verlegenheit, wenn sie die Theorie der Evolution durch natürliche Auslese in der Öffentlichkeit verteidigen müssen. Wir weigern uns meistens und ermutigen auch andere dazu, da die kapitalkräftige PR-Maschine der Kreationisten jede so gelagerte Debatte – wie gründlich auch immer ihre Wortführer verdroschen werden – ausnahmslos als weiteren Beleg dafür verkauft, dass ihre Position es verdient, von Wissenschaftlern ernst genommen zu werden. Soweit ich es überblicken kann, ist unser Problem schwieriger als das von Erasmus, da Analphabetismus kein großes Problem mehr darstellt und die Propagandatechniken, dank der modernen Medien, garantiert jede schlechtgewählte, aus dem Kontext gerissene Phrase verstärken werden. Wissenschaftliche und philosophische Debatten hinter verschlossenen Türen sind heute fast unmöglich, so dass wir besser auf unsere Wortwahl aufpassen sollten.