Kitabı oku: «Zehn unbekümmerte Anarchistinnen», sayfa 2

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ZWEITES KAPITEL
in dem COLETTE UND JULIETTE, zwei ­ineinander verliebte junge Uhr­macherinnen, als Erste beschließen, nach ­Amerika auszuwandern, dort aber ein ­trauriges Schicksal erleiden.

Unsere Eltern glaubten an den Fortschritt, denn im Schweizer wie im französischen Jura florierte die Uhrenindustrie. Édouard Heuer hatte neben der Kirche eine Uhrenfabrik eröffnet. Und Léon Breitling an der Place Neuve. Le Jura bernois, die Tageszeitung von Saint-Imier, kündigte den Bau einer Eisenbahnlinie an, die bis ins Tal führen und uns erlauben würde, Genf an einem einzigen Tag zu erreichen. Der Telegraf wurde eingeweiht. Wenig später stellte ein öffentlicher Regulator in der Vorhalle der Post alle Uhren auf dieselbe Uhrzeit ein.

Die große Neuerung kam, als Francillon, der Ge­schäftspartner von Auguste, beschloss, eine Fabrik zu er­öffnen, in der sämtliche Teile einer Uhr unter einem Dach hergestellt würden, also eine Manufaktur. Dafür wählte er ein Gelände tief im Tal, an einem Ort namens Longines. Er nutzte das Wasser der Suze, ließ eine große Halle bauen, in die durch eine Fensterreihe Licht fiel, kaufte Drehbänke, Bohrer, Walzwerke, schwere Gesenke und nummerierte Meißel und holte einen aus Amerika heimgekehrten Uhrmacheringenieur dazu. Dieser stellte mehrere Werkmeister ein, die die Hilfsarbeiter anleiteten, darunter auch einige von uns Mädchen. Unsere Eltern ermunterten uns, in die Uhrmacherei zu gehen.

Trotz des Wechsels zur Manufaktur gab es Höhen und Tiefen, weshalb viele von uns oftmals ganz plötzlich entlassen wurden. Liefen die Geschäfte schlecht, kehrten wir zu unseren Eltern zurück. Vater Grimm fand sich damit ab: Nicht der Unternehmer sei schuld, sondern die Konjunktur. Andere verfielen der Trunksucht, schliefen jeden Montag ihren Absinthrausch aus, weil, so sagten sie, das Elend den Säufer mache und nicht umgekehrt. Unsere Väter aber wollten daran glauben, dass die Industrie uns am Ende Glück bringt. Von wegen!

Die Heimwerkstätten verschwanden, jetzt verkauften wir uns für drei Franken pro Tag, wo doch schon die Mittagskantine fünfundfünfzig Rappen kostete. Wir verdienten ein Viertel weniger als die Männer. Keine von uns wäre jemals, falls sie es überhaupt gewollt hätte, eine Vorgesetzte geworden. Die Unternehmer wollten uns geschickt, geduldig, gründlich. Untereinander redeten wir über die Liebe. Darüber, wie man merkt, ob es die wahre ist, wie man ihr zur Blüte verhilft, wie lange sie hält. Uns fehlte es an Erfahrung. Die Mädchen, die schon Abenteuer erlebt hatten, traurige oder fröhliche, sagten, dass das Herz geht, wohin und wann es will. Selbst mit den besten Vorsätzen sei es unmöglich, einem Kuss zu widerstehen. Manche, zum Beispiel Valentine, hatten noch nie einen Jungen geküsst. Eine wie Adèle mit ihren schönen roten Haaren hatte schon mehrere ausprobiert, und als sie schwanger wurde, weigerte sie sich, zur Engelmacherin zu gehen. Sie musste sich al­lein um die kleine Clémence kümmern. Andere wollten nicht darüber sprechen. Und eine sagte, wenn man zum Tanz gehe, müsse man aufpassen, dass man nicht von einem Kuss auf den Mund schwanger würde, aber das war nur Spaß, sie meinte das, was wir alle eines Tages machen würden. Aber nicht irgendwie und mit irgendwem. Die einen wussten aus sicherer Quelle, dass es beim ersten Mal wehtut, andere dagegen behaupteten, sie hätten gar nichts gespürt.

Manche von uns, wie Colette oder Juliette, die als Zeigermacherinnen an derselben Werkbank saßen, hatten Verwandte in anderen Schweizer Kantonen, aus denen Leute nach Brasilien, Kalifornien oder Australien auswanderten. Sechshundert Schweizer hatten sich auf den Weg in die eroberten Gebiete Algeriens gemacht. Dorthin hatte man auch diejenigen deportiert, die beim Pariser Aufstand von 1848 verurteilt worden waren. Die Schweizer, die nach Algerien gingen, bekamen eine Hütte, Saatgut, ein Nutzungsrecht für zwei bis zehn Hek­tar, und durften die Ureinwohner verjagen.

Colette hatte von einem Cousin einen Brief aus Al­ge­rien erhalten: «Von den fünfzig Familien unseres Dorfes sind innerhalb eines Jahres vierundachtzig Personen gestorben. Wir konnten nicht mehr arbeiten, sodass Teile unserer Ernten, vor allem der Mais, verdarben oder von den Schweinen verwüstet wurden, weil es nicht genug Hände zum Mithelfen gab.» Um ihre Rückreise bezahlen zu können, hatten sie alles verkauft, was ihnen geblieben war.

Unsere beiden Zeigermacherinnen sagten, sie hielten es nicht mehr aus, als Lesben beschimpft zu werden, und drüben in Amerika sei jede Art von Liebe frei. Sie lasen die Werbeannoncen im Jura bernois: Von Basel bis zur Meeresküste werde alles organisiert, hieß es, ebenso die Überseereise und die Ankunft auf dem anderen Kontinent. Bis zur Kolonie werde man sich um sie kümmern. Wie sollte man einem so schönen Versprechen widerstehen? Aus ihrer Bluse zogen sie den Zeitungsausschnitt mit der Adresse der Agentur.

Sie nannten sich selbst Anarchistinnen, brachten uns das Wort bei. Sie sagten, Anarchie bedeutete die Abschaffung von Eigentum. Und wenn kein Eigentum zu verteidigen sei, bräuchte man auch keine Regierung mehr. Valentine fand sie versponnen, gab zu bedenken, dass allzu simple Ideen nichts taugten, um die Welt zu verändern. Sie hatten Briefe aus Amerika bekommen, in denen es hieß, dort könne man sein Glück machen. Bettelarm fahre man hin und kehre reich zurück. Dort drüben siebe man ein paar Stunden lang Kieselsteine aus einem Fluss und verdiene auf einen Schlag so viel wie hier in einem Jahr. Dort drüben kaufe man Land für zehn Rappen den Meter. Über Nacht klettere der Preis so hoch, dass ein Koffer nicht genüge für all die Scheine, die ei­nem das einbringe.

In einem anderen Brief stand: «In Amerika hängst du dir ein Schild an die Tür, auf dem Zahnarzt oder Ar­chitekt steht, und niemand nennt dich einen Betrüger, auch wenn du nur Zahnklempner, Buchhalter oder Mau­rer bist.» Die Alten im Tal warnten, man müsse auf der Hut sein, diese Agenturnamen, diese Kompanien aus Basel und Neuchâtel riefen üble Erinnerungen wach. Ob denn das nicht dieselben seien, die damals die Neger aus Afrika nach Amerika verfrachtet hätten? Also wirklich, Herzog, van Berchem, de Pury, sagt Ihnen das denn nichts? Immer das Gleiche, schimpften die Alten, jetzt, wo sie uns nicht mehr im Dienst fremder Länder in den Tod schicken können, verführen sie unsere prächtige Jugend zum Auswandern. Drohend schwangen sie die Zeitung, sie verkrafteten es einfach nicht.

Im Jura bernois standen beunruhigende Dinge zum Thema Auswanderung, Statistiken über Skorbut, Wind­pocken, Blattern, Cholera. Diese Zeitungsausschnitte klebten wir in unser grünes Heft: «19,4 Prozent der Auswanderer sterben während der Reise.» – «Weil es bei der Ankunft des Schiffes in New York an Nahrung fehlte, starben dreiundzwanzig Schweizer Kinder.» – «Auf seiner Route von Antwerpen nach New York verbrannte das Segelschiff William Nelson auf offenem Meer mit Mann und Maus. Von den hundertsechsundsiebzig Schweizern überlebten nur vierundzwanzig.» Die Alten sagten: Das geschieht mit denen, die ihren Gelüsten nicht widerstehen können.

Colette und Juliette arbeiteten gemeinsam in der Werkstatt von Longines, polierten Zeiger, regulierten und bemalten sie. Flüsternd bereiteten sie ihre Abreise vor. Hörten nicht auf die Mahnungen missgünstiger Alter. Die konnten ja nicht mehr, sehnten sich zurück zu Feile und Stichel aus der Zeit vor den Manufakturen und hielten Moralpredigten. Als schließlich die Werber kamen, zählten die beiden ihre Ersparnisse zusammen und unterschrieben.

Am Abend vor ihrer Abreise fanden wir uns alle zu­sammen, um ihnen ein Geschenk zu überreichen. Colette und Juliette bekamen jede eine Zwiebeltaschenuhr, ein 20-Linien-Kaliber, Longines’ erstes Modell, die 20A, die ein Uhrwerk mit Ankerhemmung und Bügelaufzug be­saß. Da kamen ihnen die Tränen. Wir hatten Geld gesammelt, manche von uns hatten es sich geliehen. Colette und Juliette würden ihre Zwiebel nicht in einer Uhren­tasche, sondern an einer Kette zwischen den Brüsten ­tragen. An der Place Neuve stiegen sie in die Postkutsche. Im letzten Moment zogen sie ihre Zwiebel aus der Bluse, um die genaue Zeit unseres Abschieds zu überprüfen.

Wir beneideten sie um ihren Mut und fühlten uns wie sie für ein anderes Leben unter einem abenteuer­licheren Himmel geschaffen, wo man für Handel, Fa­milie, Freundschaft neue Regeln erfinden müsste. Von morgens bis abends redeten wir darüber: Sollten wir es genauso machen wie sie? Lange Zeit warteten wir auf Nachricht von unseren beiden Auswanderinnen. Bis uns eines Tages zwei Todesanzeigen erreichten, abgeschickt vom Schweizer Botschafter in Talcahuano aus der chilenischen Region. Es hatte drei Monate gedauert, bis sie im Tal ankamen.

Einen Monat später trafen ein paar persönliche Gegenstände und eine Erklärung ein: Tod durch Erdrosseln. Waren sie erhängt, vielleicht gelyncht worden, weil zwei sich liebende junge Mädchen womöglich auch in Amerika auf Ablehnung stießen? Der zurückgeschickte Koffer enthielt zwei indianisch aussehende Wollröcke, ein Heft, in dem die gemeinsamen Ausgaben notiert waren, Zeitungsausschnitte des Jura bernois, zwei Haarnadeln aus Walfischelfenbein, aber keine Spur der beiden Zwiebeln.

Colette Colomb und Juliette Grosjean waren die beiden Ersten, die starben, weil sie unbedingt fortwollten. Wenn die Nächsten mit Verschwinden an der Reihe wären, wenn schließlich nur noch Valentine übrigbleiben, um die Geschichte zu erzählen, immer würden wir diese beiden als Erste nennen, obwohl wir trotz zweier Fotografien, die uns als Erinnerung geblieben waren, nicht mehr genau sagen konnten, welche Farbe ihre Au­gen hatten. Dunkel waren sie, besonders die von Colette mit ihrem Pferdeschwanz, Juliettes etwas weniger, die erkannte man an einem braunen Fleck auf der Stirn. Auf den Fotos sehen sie traurig, fast niedergeschlagen aus, als hätten sie beide bereits gewusst, was sie erwartete. Deshalb achteten wir im Übrigen, als wir dann selbst auswanderten, darauf, dem Apotheker für die Fotografie ein fröhliches Gesicht zu zeigen.

Damals kam die Bevölkerung von Paris ein paar Monate lang ohne Regierung aus. Uns schien, dass die Pariser Kommune in Sachen Freiheit ein gutes Experiment war, vielleicht ein historisches und politisches Vorbild. Ein Emailleur aus Sonvilier, der die Barrikaden und die roten Fahnen gesehen hatte, erzählte sehr bewegt davon, wollte uns mit seiner Begeisterung anstecken.

Als die Freimaurerloge eine öffentliche Konferenz zu den Ereignissen in Frankreich veranstaltete, gingen wir alle gemeinsam hin, um einem Schwadroneur zuzuhören, der aber sehr theoretisch blieb, ohne die Einzelheiten zu erzählen, die uns interessiert hätten. Soviel wir verstanden, war in Paris etwas Ähnliches passiert wie bei uns im Jahr 1851 mit dem guten Doktor Basswitz: Wenn die Konservativen sich bedroht fühlen, verbünden sie sich mit ihren früheren Feinden, um die Aufständischen im Namen der Republik zu unterdrücken. Wir hatten keine Hemmungen, lästige Fragen zu stellen.

Um besser gemeinsam überlegen zu können, wie es auch in unserem Tal zu derart rühmlichen Ereignissen kommen könnte, trafen wir uns mehrmals bei Adèle. Ihr Vater hatte den Schlüssel zu einem großen Schuppen, denn er war Straßenwärter, das heißt, die Gemeinde­verwaltung hatte ihn dafür angestellt, auf dem Marktplatz die Pferdeäpfel wegzukehren und im Winter Salz auf die Stufen der Kirche zu streuen. Adèles Mutter war Wäscherin und arbeitete hauptsächlich bei der Familie von Francillon, dem Chef von Longines, einmal die Woche kochte sie dort die Wäsche. Wir überlegten ge­meinsam, wie man Francillon eines Tages im Namen der Gleichheit zum Schneeschippen verpflichten könnte und seine Frau dazu, die Waschküche feucht auszu­wischen. Aber wenn wir nicht wollten, dass uns die zu Hilfe gerufenen Truppen niedermetzelten, mussten wir listig vorgehen. Wir würden die Kommune des Tals, die Gleichheit der Bürger und, warum nicht, der Bürgerinnen ausrufen.

Unterdessen war der Winter zurückgekehrt. Der Schnee, der die Landschaft in sanfte, runde Formen kleidet, lag so hoch, dass die Fabrikbesitzer eine Schließung ohne Lohnfortzahlung anordneten. Wir nutzten diese Zeit, um Marmelade einzukochen, Sauerkraut umzufüllen und wieder einmal Julie oder Die neue Heloïse zu lesen, die uns immer zu Tränen rührte. Der Schnee verschwand erst im Frühjahr und brachte mit einem Mal Krokusse und knospende Osterglocken zum Vorschein.

Als der Sommer nahte, ließ der Straßenwärter uns über Adèle – auch die Rote Rolli genannt, weil sie Zapfen rollierte – mitteilen, dass die Revolutionäre aus ganz Europa in Saint-Imier einen Kongress abhalten würden. Zur Vorbereitung auf das Ereignis würde der große Bärtige, den man in den Cafés von Sonvilier sitzen sah, Vorträge halten, würde die wichtigsten Heraus­for­de­run­­gen einer nicht nur nationalen, sondern – so sagte der Straßenwärter Bourquin mit einem neuen Wort – internationalen Revolution erklären. Anfangs hielten wir den Bärtigen für Garibaldi, den Mann, der in Südamerika und in Italien gekämpft hatte. Doch dem Straßenwärter zufolge hieß dieser Garibaldi Bakunin und war in seiner Heimat Russland nichts Geringeres als ein Prinz.

Bei seinem ersten Vortrag im Café de la Place saßen wir hinten im Raum in einem Grüppchen zusammen und prägten uns jedes seiner Worte ein. Valentine rührten sie besonders ans Herz. Dem großen Bärtigen zufolge war der Kapitalist, der von der zu billig verkauften Arbeit des Werktätigen lebte, der Feind des Menschengeschlechts. Soweit klar. Außerdem müsse man sich vor der Autorität in Acht nehmen, sagte er, selbst dann, wenn sie von den Antikapitalisten komme. Er erzählte, dass in London ein gewisser Karl Marx, der von sich behaupte, Sozialist zu sein, eine Organisation kleiner Vorsit­zen­der gründen wolle, um besser Revolution ma­chen zu können. Er wolle den öffentlichen Delegier­tenkongress durch eine private Konferenz ersetzen, die beschließen würde, sich an Wahlen zu beteiligen. Wo man doch wisse, was Wahlen seien! In Italien und Spanien stünden wunderbare Dinge bevor, die Massen seien bereit, sich zu erheben, nicht um an die Macht zu kommen, sondern um sie abzuschaffen. Es lebe die so­ziale Revolution, es lebe die Pariser Kommune!

Anfang September 1872 war unser Dorf voller Anarchisten, die aus ganz Europa zum Kongress ihrer Föderation gekommen waren. Sie schlugen vor, in den Sälen der Cafés Vorträge zu halten. Statt abends heimzugehen, gingen wir also dorthin, um uns diese Vorträge anzuhören, um Fragen zu stellen, Zweifel zu äußern. Es rumorte, und man debattierte. Es herrschte die allgemeine Ansicht, dass die Revolution vor der Tür stehe, den Unternehmern Angst mache und des Proletariers Herz erfreue. Bald werde eine Zeit kommen, da man alles, auch die Wissenschaft, neu erfinden müsse. Auf die Vergangenheit dürfe man nicht mehr zählen, die Situation sei so neu, dass sie mit nichts zu vergleichen sei. Man erlebe nichts anderes als die Heraufkunft einer neuen Menschheit. Valentine, Ihre Berichterstatterin, hatte da ihre Zweifel, aber da ihre große Schwester Blandine das behauptete, zog sie es vor, sich nicht mit ihr anzulegen, Blandine konnte unangenehm werden.

Die öffentlichen Diskussionen fanden im Café Schüpbach auf Deutsch, im Lion d’or auf Spanisch, im Bahnhofsrestaurant, im Boulevard, im Midi auf Französisch statt. Hier bekam man schöne Worte zu hören wie:

«Bedenkt man, dass die endgültige Emanzipation der Arbeit nur mittels einer Umwandlung der auf Pri­vileg und Autorität basierenden politischen Gesellschaft in eine auf Gleichheit und Freiheit basierende ökonomische Gesellschaft herbeigeführt werden kann, dass jegliche Beteiligung der Arbeiterklasse an der bürgerlichen Regierungspolitik zu nichts anderem führen kann als zur Konsolidierung der bestehenden Ordnung der Dinge …»

Das entsprach genau dem, was wir von unserer lo­ka­len Geschichte wussten, von der Vertreibung des gu­ten Doktor Basswitz, weil er zu viel Gutes über Jean-Jacques Rousseau gesagt hatte. Es gab uns zu denken, und jede einzelne von uns bekam Lust, fortzugehen. Valentine konnte sich gut vorstellen, nach Genf auszuwandern, aber nicht weiter weg. Die anderen wollten ans Ende der Welt.

Uns alle beeindruckte der Feuereifer eines jungen italienischen Anarchisten, den sie Benjamin nannten. Er war erst achtzehn Jahre alt und hing an den Lippen von Bakunin, der achtundfünfzig Jahre alt war, von denen er zehn im Gefängnis verbracht hatte. Eines Abends erzählte der russische Prinz im Café de la Place von seiner Flucht aus Sibirien, wohin er deportiert worden war. Er war über Japan, Kalifornien, New York geflohen, bevor er nach London zurückgekehrt war, um mit Karl Marx zu streiten, dessen Bücher er ins Russische übersetzt hatte. Benjamin spendierte die Runde, sagte, es sei ganz natürlich, für eine Idee um die Welt zu reisen. Dem stimmte Bakunin hinter seinem Bart mit zusammen­gekniffenen Augen zu. Einige von uns, besonders Mathilde, konnten ihre Augen nicht mehr von dem jungen begeisterten Italiener wenden.

Seine Locken waren zerzaust, sein Gesicht leicht verfinstert von jugendlichem Bartwuchs. Er erzählte, dass er in einer Stadt in der Nähe von Neapel geboren sei. Mit sechs Jahren hatte er die Ankunft von Garibaldi miterlebt, erinnerte sich aber nur daran, dass der rote Bart seines Helden und dessen rotes Hemd gut zusammenpassten. Mit vierzehn kannte er Rousseaus Werke auswendig und verfasste ein Pamphlet gegen den italienischen König. Der Präfekt ließ ihn verhaften. Sein Vater, ein reicher Kaufmann, holte ihn aus dem Gefängnis und mahnte ihn: Mein Sohn, mit solchen Ideen wirst du dein Leben im Straflager beenden. Recht hat er, mein Vater, sagte Benjamin, aber nicht mehr lange, denn wir machen Revolution.

Im Jahr zuvor hatte er nochmals sechs Monate im Gefängnis gesessen und wurde anschließend in Neapel der Universität verwiesen. Er nahm Kontakt mit der In­ternationale auf, um über die Pariser Kommune zu diskutieren, und gründete in Italien eine Sektion. Sechs Wochen vor seiner Reise nach Saint-Imier war er nach Zürich zu dem großen Bärtigen gefahren. Beide verteidigten mit derselben Verve dieselben Ideen. Bakunin fand, Benjamin sehe schlecht aus. Wie sein Vater sagte er ihm voraus, er werde an Erschöpfung zugrunde ge­hen.

Genau das machte aber Benjamins Charme aus: seine düstere, kränkliche, romantische Ausstrahlung. Mit richtigem Namen hieß er Errico Malatesta. Wir waren alle ein bisschen in ihn verliebt. Sein nächstes Ziel war Bologna, wo bald, so sagte er, die libertären Ideen triumphieren würden. Wir wären ihm gern gefolgt, besonders die Jüngste von uns, die sechzehnjährige Mathilde. Mehr als einmal hatte sie Benjamin abends in sein Logis begleitet.

Die Kommune hatte der Fantasie an die Macht verholfen, hatte Dinge in Gang gebracht, auf die vorher kein Mensch gekommen wäre. Die Beziehungen zwischen den Leuten, den Kindern, die Arbeit, alles war für kurze Zeit anders gewesen, hatte jeden überzeugt, Männer wie Frauen, auch die, die nichts dazu beigetragen hatten wie wir. Wir nannten uns ab jetzt Kommunardinnen, obwohl wir bei der Verteidigung von Paris gar nicht dabei gewesen waren. Hat man das Glück gehabt, Bakunin zu begegnen und in Malatesta verliebt zu sein, wenn auch nicht ganz so heftig wie Mathilde, blickt man von da an mit dem Lachen des einen und der Ironie des anderen auf die Welt. Ein kurzer Moment kann den Tag hell erstrahlen lassen. So ließ die Kommune, die wir nur von Weitem gesehen hatten, unser Leben erstrahlen.

Jeanne war in Übersee aufgewachsen, besaß aber kaum noch Erinnerungen an ihre frühe Kindheit. Wir im Tal, sagte sie, hätten einen Akzent, über den sich die Leute in Québec lustig machten, diesen Jura-Akzent, den der aus Frankreich stammende Lehrer uns auszutreiben versucht hatte. Jeanne, unsere hübsche Dunkelhaarige, sollte ihr Leben lang einen leichten Québec-Akzent behalten. Ihr Mann, der bei Blancpain entlassen worden war, arbeitete im Eisenbahnbau. Er saß auf einem Stapel Gleise, als in der Kurve vor Courtelary die ganze Ladung vom Waggon rutschte. Er wurde zermalmt und hinterließ drei kleine Knaben mit wachen Augen: Joseph, Louis und Thomas. Jeanne arbeitete weiter als Email­leurin, konnte sich und die Kinder aber nur mit Mühe und Not durchbringen.

Auf noch schlimmere Weise hatte Lison ihren Mann und ein Kind verloren. In Saint-Imier, wo sie sie vom Zug abholen wollte, hatten es die beiden nicht geschafft, rechtzeitig auszusteigen, und waren bis zum Bahnhof von Sonvilier weitergefahren. Der Vater war mit dem kleinen Knaben an der Hand zu Fuß entlang der Gleise nach Hause gelaufen und hatte den zurückkehrenden Zug nicht kommen hören. Nun musste Lison ihre vier Töchter Albertine, Alphonsine, Anna und Alice alleine aufziehen. Von der Gemeinde bekam sie Armenhilfe. Aber um ihr diese fünfzig Franken im Monat nicht länger zahlen zu müssen, hatten die Herrschaften ihr ei­nen Handel angeboten: Vierhundert Franken auf einen Schlag, genug für eine Reise nach Amerika, aber nur un­ter der Bedingung, dass sie nie mehr zurückkehrte, denn mit dieser Summe sollten sämtliche Forderungen beglichen sein. Das hat sie dann schließlich unterschrieben.

Für Jeanne, deren Eltern einst bei der Auswanderung nach Québec auf jede weitere Hilfe von der Gemeindeverwaltung verzichtet hatten, stand keinerlei Unterstützung in Aussicht, weder für die Erziehung ihrer drei Knaben hier im Tal noch für eine erneute Reise.

Die beiden Frauen, die wir die Eisenbahnwitwen nann­ten, standen mit ihrem Elend nicht alleine da. Eines Abends trafen wir uns im Schuppen des Straßenwärters, um ihre Lage zu besprechen. Wir waren alle zwischen siebzehn und einunddreißig Jahre alt und entschlossen, unser Leben selbst in die Hand zu nehmen. Wir hätten gern eine Hilfsgesellschaft gegründet, aber so etwas auf die Beine zu stellen, schien uns unmöglich. Wir hatten keine Ersparnisse, die wir hätten zusammenlegen können, kamen nur selten durch die Woche, ohne das Brot anschreiben lassen zu müssen.

Nach der Abreise der Kongressteilnehmer diskutierten wir umso mehr über unseren Wunsch nach einem anderen Leben. Eine Bäckerin, eine Modistin, die anderen sechs in unsicheren Uhrmacherberufen: Schmelzarbeiterin, Vergolderin, Wicklerin, Verstifterin-Zentriererin, Regleuse, Einsetzerin, und alle von Zeit zu Zeit, je nach Konjunktur, arbeitslos. Wir fassten die Emigration ins Auge, um uns ein neues Leben zu erfinden. Sobald ganz Europa Arbeit hätte und anarchistisch geworden wäre, sagte Blandine, kämen wir wieder zurück. Valen­tine widersprach ihrer großen Schwester lieber nicht, wollte aber mit ihrer Entscheidung noch warten.

Jeanne und Lison nahmen mit ihren Kindern an den Treffen teil. Émilie, die Modistin, brachte den kleinen Max mit. Adèle war damals schwanger mit Clémence. Als Mathilde mit der Idee kam, wir Frauen sollten alleine, nur mit den Kindern, aufbrechen, mochten wir nicht so recht daran glauben. Einige Wochen später aber war der Plan gereift. Was hatten wir schon zu erwarten, wenn wir im Tal blieben? Im Morgengrauen in die Fa­brik, nach elf Stunden wieder nach Hause, den Rücken von der Werkbank gekrümmt, mit schmerzenden Au­gen und Kopfweh, schlecht bezahlt, und am nächsten Tag alles wieder von vorne. Wütend auf den Werkmeister, der uns wegen fünf Minuten Verspätung eine Strafe aufbrummte, auf die Monotonie der Arbeit und die Vorschriften, die uns das Singen und sogar das Pfeifen verboten, neidisch auf die anderen Arbeiterinnen und ihren Platz im Umkleideraum, und dazu noch in ständiger Angst, beim geringsten Anlass unsere Stelle zu verlieren. Das war nicht dieses wahre Leben, von dem der russische Prinz und der schöne Benjamin gesprochen hatten.

Heftige Diskussionen. Alles Mögliche kam auf den Tisch. Die eine hatte Angst, die andere wollte um jeden Preis fort. Und viele Überlegungen: Auswandern hieß nicht nur, mit schwerem Gepäck aufzubrechen, sondern auch ein Projekt für drüben zu haben, wo man dann ein neues Leben mit Leuten beginnen würde, die weder die Wege auf den Schattenberg noch die Enge unseres Himmels gesehen hatten, die mit anderen Währungen rechneten, über Dinge lachten, die uns zum Weinen brachten. Es bedeutete auch, sich über Unverhofftes zu freuen, ohne dabei die Kraft zum Aufbegehren zu verlieren. Falls man sich an den Hintern fassen lassen musste wie im gemischten Chor, schlüpfrige ­Witze ertragen sollte wie auf dem Marktplatz, dann brauchte man gar nicht erst den Ort zu wechseln.

Schöne Worte, genug geredet. Wir fahren! Worauf die Einwände der Männer kamen, die uns Abenteuerinnen, Utopistinnen und kleine Anarchistinnen nannten. Sie, die Freiheit, Fortschritt, ewige Sonntage nur als Worte im Munde führten, störte es, dass wir das alles in die Tat umsetzen wollten. Wir lasen verlockende Werbeangebote für Peru, Australien, Kanada. Wir entschieden uns für Patagonien, weil noch niemand Schlechtes darüber gesagt, niemand je einen Fuß dorthin gesetzt hatte und der Annonce zufolge Frauen dort willkommen waren. Natürlich ging es darum, die Gegend zu bevölkern, wurden heiratswillige junge Mädchen oder Nutten gesucht. Aber das wäre für uns die Gelegenheit, zu beweisen, dass wir weder das eine noch das andere waren.

Émilie schnitt im Jura bernois einen Aufruf aus, den wir später in das grüne Heft klebten: «An alle, die ge­sund und arbeitsfreudig sind, die von eigenem Besitz träumen, die wissen, wie ungeheuer viel sich mit der Zucht und Vermehrung von Viehherden verdienen lässt, denen sage ich: Kommt zur Magellanstraße, bringt Mut und Ausdauer mit, und die Zukunft wird es euch mit Wohlstand vergelten. Euch erwartet ein angenehmes, gesundes Klima, Weideland ist reichlich vorhanden, Gruyère lässt sich leicht herstellen, hoher Absatz ist garantiert. Überdies macht die Regierung konkrete Zu­geständnisse und gestattet es auch den ärmsten Einwan­derern, sich zu Gruppen oder Verbänden zusammenzuschließen und innerhalb weniger Jahre Landbesitzer zu werden.»

Von Rinderzucht und Gruyère-Herstellung hatten wir zwar keine große Ahnung, fanden das aber nebensächlich. Wir träumten nicht davon, Eigentümer zu werden, da hatten wir klare Vorstellungen. Doch der Ge­danke, einen Ort zu finden, an dem wir uns ein gemeinschaftliches Leben aufbauen könnten, beschäftigte uns wochenlang. Aus Saint-Imier würden wir alles Gute übernehmen. Zum Beispiel die Genossenschaften wie die von den Arbeiterinnen verwaltete Bäckereikooperative. Un­sere Kinder würden mehrere Sprachen lernen. Wir fragten diejenigen um Rat, die verarmt aus Amerika zurückgekehrt waren. Wir überlegten, auf wie viele Männer wir würden verzichten können. Sollten wir alle zusammen aufbrechen, oder sollten einige von uns vorausfahren und für die anderen das Terrain bereiten? Am Ende taten Émilie, Jeanne, Lison, Adèle, Germaine, Mathilde und wir beiden Schwestern Grimm uns zusammen. Mit neun Kindern zwischen null und sechs Jahren. Émilie, die schwanger war von einem Liebhaber, der sie schlug, würde ihren Sohn Max mitnehmen. Jeanne ihre drei Knaben, Lison ihre vier Töchter und Adèle die kleine Clémence, die erst drei Monate alt war.

Nach dem traurigen Ende von Colette und Juliette waren wir nur noch acht mit diesem gemeinsamen, aber auch gefährlichen Auswanderungsplan. Wir wollten uns nicht mehr trennen, bevor wir nicht glückliche Greisinnen wären, vielleicht sogar anarchistische Großmütter, sagte Mathilde.

Die Reise organisierten wir nicht aus Prinzip nur unter uns Frauen, sondern weil wir uns so besser einigen konnten, als wenn wir mit Männern hätten Einverständnisse aushandeln müssen. Die treten ja ihre Privilegien nicht gerne ab. Überdies hatte jede ihre persönlichen Gründe. Wir würden es uns übel nehmen, wenn wir sie verschwiegen. Germaine, die Regleuse, wollte einen großen Kummer vergessen. Der Sohn des Milchmanns, in den sie verliebt war, hatte trotz seines Eheversprechens aus Geldgründen eine andere heiraten müssen. Germaine trauerte ihm nach. Valentine, die Ihnen hier von den Ereignissen berichtet, verstand sich nicht mehr mit ihrem autoritären Vater, der sich weigerte, ihr das Pferd zu überlassen, um nach La Chaux-de-Fonds zu reiten. Anfangs wäre sie lieber allein in die Großstadt Genf gezogen, hätte sich gern von der belastenden Gegenwart ihrer älteren Schwester befreit. Dann aber entschied sie sich mehr oder weniger aus Neugier dafür, mit der Gruppe aufzubrechen. Mathilde, von allen am stärksten von Benjamins Ideen überzeugt, war erst siebzehn und hatte gerade ihre Bäckerlehre abgeschlossen. Mithilfe ihrer Adoptions­fa­milie und unter dem Vorwand einer Fortbildung im Ausland schaffte sie es, Ausreisepapiere zu bekommen. Émilie wollte weg von den Schlägen ihres Mannes. Und auch Adèle hatte einen persönlichen Grund: Sie glaubte, sie würde nicht älter als dreißig werden und wollte noch vor ihrem Tod das Meer sehen.

Wir beschlossen, dass jede von uns versuchen würde, eine 20A von Longines mitzunehmen, eine wie die von Colette und Juliette. Als Talisman und Kriegskasse. In die Zwiebeln ließen wir drei Geheimbuchstaben und eine Zahl zwischen drei und zehn eingravieren, denn die eins und die zwei hätten ja in die Uhren der beiden Vorangegangenen gehört. Auf verschiedene Arten, die wir, obwohl sie inzwischen verjährt wären, hier lieber nicht ausplaudern wollen, gelang es uns, die Uhren zu bezahlen. Noch ahnten wir nicht, was für eine verdor­bene Welt wir durch diese Zwiebeln kennenlernen würden. Mathilde Basswitz nahm die Werke von Jean-Jac­ques Rousseau mit, die ihrem Vater gehört hatten, fünf Bände in einem Schuber.

Im Juni des Jahres 1873 umarmten, weinten, bereuten wir also ein letztes Mal. Aufbruch zur Südspitze Amerikas, an die Ufer der Magellanstraße, mit neun kleinen Kindern und acht Zwiebeln. Da wir keinen Mann an unserer Seite hatten, schworen wir uns, einander bis zum Ende beizustehen. Mathilde dachte sich ein Lied aus, das uns Mut machen sollte:

Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.