Kitabı oku: «Tote und andere Entdeckungen», sayfa 3

Yazı tipi:

Irmgard Hannoschöck

So long, Marianne

Ich fange dich ein

mit wilden Sommerrosen

und tanze für dich

den uralten Tanz.

Noch einmal halt mich so fest

wie blaue Sommerwinden

und verliere dich an mich

in unserer letzten Nacht.

Leo:

Ein absoluter Wahnsinn: diese Szene aus „Léon – der Profi“ mit Jean Reno und Natalie Portman in der Küche, und dazu läuft dieses völlig geile „Venus as a boy“ von Björk. Im Film gibt es zwar keine Sexszene zwischen den beiden, aber es ist eindeutig eine Liebesgeschichte. Warum die ihm im Film diese schrecklichen Secondhand-Klamotten angezogen haben, frage ich mich bis heute. In denen sieht er überhaupt nicht aus wie ein Profi. Trotzdem ist er großartig.

Ich bin vom Aussehen eher der Bond-Typ. Meine Aufträge erledige ich immer in Anzug und Krawatte. Karl sagte einmal zu mir: „Der Tod steht dir, Leo. Außen Gentleman, innen Killer.“ Aber ist Bond nicht auch letztendlich einer von uns? Habe ich früher viel drüber nachgedacht.

„Keine Frauen, keine Kinder“. Léon hat das durchgezogen. Das ist was vollkommen anderes, ob du einem Mann, einer Frau oder einem Kind eine Kugel zwischen die Augen jagst. Das wurde mir klar, als mir Karl vor vielen Jahren den Auftrag gegeben hatte, Gudrun Maifeld zu erschießen. Ich habe damals gezögert. Es war so, als ob Marianne vor mir stehen würde. Ich konnte sie nicht umbringen. Bruchteile von Sekunden entscheiden in meinem Job darüber, ob man’s kann oder nicht. Karl konnte es.

Im Endeffekt ist das zwar kein Job wie jeder andere, aber ein ziemlich gut bezahlter. Und eigentlich sollte es für einen Profi egal sein, ob er einem Mann oder einer Frau das Licht ausmacht. Nicht, dass ich für Quote bin. Nein, das mit der Quote ist so ne Art Running Gag in unserer Szene. Ich sage mir immer: Ich liefere einen ordentlichen Job ab, kassiere mein Geld und warte, bis Karl sich wieder meldet.

Karl hat gestern angerufen. Er hatte sich seit Monaten rar gemacht. Habe ihn auch sofort darauf angesprochen, damit die Frage nicht zwischen uns steht. „Jüngere müssen auch mal eine Chance haben“, antwortete er, und da hatte er schon recht. Wenn er mir damals keine gegeben hätte, dann wäre ich auch nicht so weit wie heute. „Aber dieser Auftrag“, sagte Karl, „ist speziell. Den kannst nur du ausführen. Es handelt sich um eine Frau aus Radevormwald, die entschieden zu viel weiß. Die hat mir gestern im ,Matt‘ zu viele Fragen gestellt.“ Karl meinte dann noch, dass die Sache ein gordischer Knoten sei, den nur ich zerschlagen könne. Mehr wolle er mir jetzt noch nicht sagen. Er schlug vor, dass wir uns um acht Uhr auf der Pflaumenkirmes treffen und „das Ding“ klar machen. Da wäre so viel los; da würden wir niemandem auffallen. Wir wären einfach nur zwei Männer auf einer Kirmes.

Marianne:

„Now so long Marianne, it’s time that we began to laugh and cry and cry and laugh about it all again …“ Ich kam gerade aus der Dusche, als der Cohen-Song im Radio lief. Jedes Mal, wenn ich den höre, könnte ich kotzen. Ich kann ihn nicht mehr hören, muss diesen Mist ausschalten. Wie kamen sich die Leute immer cool vor, wenn sie mir die deutsche Fassung des Songs zum Geburtstag schenkten. Ich habe ihn in der Originalfassung und in jeder Cover-Version, die auf dem Markt ist. Es gibt immer noch genug, die die Finger von „Marianne“ nicht lassen können. Manches habe ich doppelt und dreifach. Ich kann diesen ganzen Plunder nicht wegwerfen. Das wäre so, als würde ich mich selber wegschmeißen.

Meine nassen Haare tropfen das Laminat und die Wollmäuse voll, die auf ihm herumhuschen. Ich müsste hier mal wieder gründlich durchsaugen, aber dazu fehlt mir nach der Arbeit einfach die Kraft. „So long, Marianne“, rufen mir die Kolleginnen immer hinterher. „It’s time that we began to laugh and cry …“, ja, ich möchte manchmal am liebsten laut losschreien, weil mir mein verdammtes Leben einfach nicht gelingen will.

Gestern habe ich Karl in Gensters Imbiss in der Nähe vom Corso-Kino getroffen. Da fragt der mich doch tatsächlich, wie es mir gehen würde. Tut mir leid. Was soll ich dem Kerl auf so eine Frage denn bitte schön antworten? Er hat mein Leben kaputtgemacht und Leo in die Scheiße gezogen, aus der ich ihn mit meiner Liebe auch nicht mehr herausziehen konnte. Ich habe das versucht, und am Ende war meine Angst größer als meine Liebe. Ja, ich begann, Angst vor Leo zu haben. Vor dem Mann, den ich so sehr geliebt habe.

Leo:

„Suzanne takes you down to her place near the river …“ Wenn ich frühstücke, dann lasse ich immer diesen Song laufen. Ich brauche keine Abwechslung morgens, wenn ich vom Joggen komme. Am besten ist, man hat seine Routinen, da verbraucht man am wenigsten Energie, und man kann sich auf das Wesentliche konzentrieren. Wenn ich „Suzanne“ höre, dann ist das für mich wie die Gewissheit, dass der Tag gut wird. Warum sollte ich mir da eine andere Musik aussuchen?

Wenn ich den Song höre, muss ich immer an Marianne denken. Ich habe sie während meiner Ausbildung bei einem Telefonbuchverlag in Remscheid kennengelernt. Mein damaliger Chef sagte immer: „Telefonbücher sind Gelddruckmaschinen.“ Als ich Karl dann kennenlernte, habe ich eine noch viel bessere Gelddruckmaschine gefunden, und das habe ich jedenfalls bis heute nicht bereut.

Es war an einem Sommertag. Marianne und ich sind über unsere Wiese im Wiebachtal gelaufen und haben uns mal wieder wegen Karl gestritten. Als ich dachte, dass ich das wieder eingerenkt hätte, wollte ich ihre Hand nehmen. Da ist sie plötzlich losgelaufen. Als ich sie eingeholt hatte, habe ich sie einfach aufs Gras geworfen und wollte sie küssen. Ja, ich wollte sie haben. Sie hat es dann irgendwie geschafft, sich unter mir hervor zu quetschen und ist zurück zum Auto gelaufen. Da war eigentlich schon Schluss, aber das hatte ich in dem Moment nicht gecheckt. Wochen später war dann alles aus zwischen uns. Danach habe ich nur noch die harten Sachen für Karl gemacht.

Marianne:

Auf Radio Berg läuft gerade ein Song nach meinem Geschmack. „Hit the road, Jack, and don’t you come back no more, no more, no more, no more.“ Mit einem Riesentritt hätte ich dich auf die Straße kicken sollen, Leo. Vielleicht wärst du dann endlich aufgewacht.

Leo und Karl haben beide nicht geschnallt, dass mir klar war, was da hinter den Kulissen los war. Sie glaubten, dass sie mich von allem abgeschirmt hätten. Aber ich bin doch nicht blöd. Wer hat denn damals die Staatsanwältin Gudrun Maifeld, die in Vogelsmühle lebte, erschossen? Das war doch entweder Karl oder Leo. Ich habe so gehofft, dass es Karl war und habe mir damit lange etwas vorgemacht. Aber wenn man mit einem Mann zusammen ist, den man liebt, dann merkt man, wenn er am Abend als ein Anderer nach Hause kommt.

Manchmal habe ich mich gefragt, ob es mir lieber gewesen wäre, er hätte mich mit einer anderen betrogen oder wäre einer dieser Drogendealer, die dafür sorgen, dass Radevormwald wieder die Drogenhochburg Nummer zwei nach Frankfurt wird – so wie früher. Ja, verdammt noch mal. Ja, das wäre mir lieber gewesen als diese Außendienstler-Geschichte, die du mir jeden Tag vorgespielt hast. Verdammt, ich habe dich so geliebt, Leo.

Leo:

Ich habe Marianne nie erzählt, dass Karl mir bis zu dem Tag, an dem Schluss war, nur kleine Aufträge gegeben hatte. Kleine Fische. Meinen ersten richtigen Auftrag habe ich erst durchgezogen, als sie von heute auf morgen abgehauen ist. Vorher wollte ich auf dem schnellsten Weg eine Existenz für uns beide aufbauen. Aber als Schluss war, war mir alles egal. Die Situation auf unserer Wiese war der Moment, auf den Karl immer gewartet hatte.

Marianne:

Gestern saß ich mit ein paar Leuten in meiner Stammkneipe „Am Matt“ am Markt. Dann kam plötzlich Karl herein und setzte sich zu uns an die Theke. Ich habe ihn dort noch nie gesehen. Wie viel Bier ich an dem Abend getrunken habe, weiß ich nicht mehr. Ich hatte wohl ziemlich einen im Kahn, denn sonst hätte ich meinen Mund bestimmt nicht so weit aufgerissen. Ich weiß bei Gott nicht mehr, was ich da alles losgelassen habe. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass Karl wollte, dass ich mit ihm vor die Tür gehe. Das kam überhaupt nicht in Frage. Ich bin doch nicht bescheuert!

Von einem Bekannten habe ich mich nach Hause bringen lassen. Der blieb dann über Nacht, und es blieb auch nicht dabei. Ich habe eine Scheißangst vor Karl. Aber eigentlich hat Karl ja seinen Mann dafür: Leo!

Leo:

Warum Karl mir das auf der Pflaumenkirmes sagen wollte? Alles Berechnung. Er hat mit den Fakten angefangen. Hat sich mit ihrer Hilfe einen Weg durch meine Gefühle gebohrt. Hat so lange auf mich eingeredet, bis mein Hirn nicht mehr leugnen konnte. „Marianne ist ein Sicherheitsrisiko. Sie muss weg!“, sagte Karl eindringlich. „Sofort! Was das bedeutet, ist dir klar, oder? Die Szene im Matt haben zig andere Gäste mitbekommen. Leute, die Fragen stellen könnten, die Marianne beantworten kann. Wir beide sind ab jetzt nicht mehr sicher. An den Fakten gibt es nichts zu rütteln, Leo. Und du bist der Einzige, der diesen Auftrag erledigen kann“, sagte Karl und ich nickte. Das schwöre ich dir, Karl: Würdest du einen der anderen den Auftrag erledigen lassen, würde ich ihn ausfindig machen. Auch die Besten ermorden niemanden, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Hinter dem Autoscooter musste ich kotzen. Karl stand neben mir und tat so, als ob er mich sichern würde. Mensch, Karl. Das kann doch nicht wahr sein, was du mir da gerade gesagt hast. Was für ein Albtraum!

Marianne:

Ich bin mitten in der Nacht neben meinem Kneipenkumpel aus einem Albtraum aufgewacht. Ich habe Leo gesehen, wie er mit einer Pistole vor mir stand. Mit dem Finger am Abzug. Ich schrie und schrie im Traum. Dieses Gefühl von Leere, mit dem ich dann aufgewacht bin, war vollkommen. Ich arbeite für einen Telefonbuchverlag. Ich habe nicht das Geld, um mich irgendwo auf der Welt zu verstecken. Wenn ich zur Polizeiwache nach Wipperfürth fahre, folgt Leo mir, sobald ich sie verlasse. Falls die mir nicht versprechen, mich als Kronzeugin ins Zeugenschutzprogramm aufzunehmen. Ja, dann werde ich einer dieser leeren Menschen sein, die keine Vergangenheit mehr haben dürfen und deren Gegenwart nur noch ein wackeliges Lügengerüst ist. Die Polizei melkt mich, bis der Prozess vorbei ist. Danach bin ich nur noch teuer für sie und am Ende verrät mich so ein kleiner Beamter, der ein bisschen Kleingeld für die Abzahlung seines Kredits für sein langweiliges Reihenhäuschen braucht.

Leo:

Karl sagte noch, ich sei der einzige, bei dem Marianne nicht leiden würde. Ich bin Präzisionsschütze. Meine Stärke richtet sich nun gegen mich. Vielleicht hätte ich Karl meine Pistole auf der Pflaumenkirmes an genau diese Stelle legen sollen, an der es kein Zurück ins Leben gibt. Aber ich mache mir nichts vor: Wenn ich abdrücke, dann lässt sein Nachfolger Marianne und mich umbringen. So einfach ist das. Die Strukturen sind völlig berechenbar. Mariannes Tod ist daher sogar ökonomisch. Weil er Menschenleben schont.

Marianne:

Ich bin auf einmal so klar wie schon seit langem nicht mehr. Angst kann dich dazu bringen, wegzulaufen oder zu kämpfen. Auf jeden Fall schärft sie deine Sinne. Und da mir klar ist, was sein wird, bin ich plötzlich wieder im Spiel. Es gibt nur einen einzigen Ort, an dem ich überleben kann. Und den Ort kennen nur wir beide – Leo und ich: unsere Wiese im Wiebachtal. Dort, wo er mir auf seine Art zu verstehen gegeben hatte, dass er mich begehrt, mich haben will.

Ich werde Leo auf unsere Wiese locken.

Leo:

Ich habe Marianne seit Jahren nicht mehr gesehen. Damals im Wiebachtal hatte sie diesen federnden Gang einer ganz jungen Frau, die weiß, dass ihr die Männer hinterher schauen. Dass sie gar nicht anders können. Wenn ich eine Frau von weitem gesehen habe, konnte ich sie an ihrem Gang erkennen. Wird es noch wie damals sein? Solche Gedanken gehen mir durch den Kopf. Ich werde aber nicht zu einem Rendezvous gehen, sondern eine Frau umbringen, die ich immer noch liebe.

Marianne:

Ich werde mein Sommerkleid mit den Rosen anziehen.

Für Leo.

Für meinen letzten Tag oder meinen ersten.

Ich fange dich ein

mit wilden Sommerrosen

und tanze für dich

den uralten Tanz.

Noch einmal halt mich so fest

wie blaue Sommerwinden

und verliere dich an mich

in unserer letzten Nacht.

Die Autorin: Irmgard Hannoschöck

Irmgard Hannoschöck lebt und arbeitet in Hückeswagen. Sie ist mit Leidenschaft Fachkraft für Suchtvorbeugung, Künstlerin, Autorin und Lektorin. Zahlreiche ihrer Kurzgeschichten hat sie bereits bei Lesungen vorgestellt. In der Anthologie „Morde und andere Gemeinheiten“ wurden drei ihrer Geschichten veröffentlicht. Sie ist Mitbegründerin und Mitglied der Autorengruppe „Die Schreib Weisen“ sowie Mitglied der Autorengruppe „Wortschmiede“.

Christine Kaula

Martinimarkt

Mit unerfüllten Wünschen

Fängt es an

Gier verlangt nach mehr

Steigert sich unendlich

Gewalt ist die Folge

Tod das Ende.

I

Max und Justus streiften über den Martinimarkt. Dieser Event mit seinem mittelalterlichen Gepräge fand traditionell Ende Oktober auf dem Wipperfürther Marktplatz statt. Man konnte sich an diesem Tag in der ältesten Stadt Oberbergs, mit ihren von alten Kaufmanns- und Bürgerhäusern gesäumten Straßen und Gassen, sehr wohl in frühere Zeiten versetzt fühlen. Hölzerne Buden mit allerlei altertümlichem Kram reihten sich vor dem Rathaus aneinander.

Durch die Budengassen flanierten wackere Ritter mit ihren Knappen, Edeldamen mit ihrem Gefolge, Gaukler und Musikanten neben den vielen Besuchern. Nützliches und Nutzloses wurde zum Kauf angeboten. Fladenbrot, Spanferkel vom Spieß, Wildschweinwürste, Würzwein, Feuerzangenbowle und Met waren bereit für hungrige und durstige Abnehmer. Das Wetter hatte ausnahmsweise mitgespielt, und die Sonne schien von einem fast wolkenlosen Himmel.

Zwei zehnjährige Schüler der St. Antonius-Grundschule konnten gar nicht genug von allem bekommen. Immer wieder umrundeten sie den Markt. Ein paar Minuten verweilten sie beim Schmied am Marktbrunnen, wo man gegen einen kleinen Betrag einen Nagel oder ein Hufeisen aus Metall schmieden durfte. Dann wieder lockte das Martinslied sie ans andere Ende des Marktes, wo ein jugendlicher Ritter zu Pferde einem Bettler die Hälfte seines roten Mantels reichte. Viel mittelalterlich gekleidetes Volk gaffte und gab lautstarke Kommentare ab wie „Verschwinde, du dreckiger Bettler“, und „Lasse den Herrn Ritter zufrieden“. Die anderen Marktbesucher lachten, starrten und staunten.

Max, in billigen Jeans und grünem Anorak, fasste seinen Freund um den Hals und fragte leise, dicht an seinem Ohr: „Ob das echt so war, damals?“

„Quatsch“, gab Justus zurück, „das ist doch alles ausgedacht.“ Der pausbäckige Justus war stämmig und bevorzugte Baggy Jeans. In der fand er sich supercool. War sie gerade in der Wäsche, zog er seine anderen Hosen so tief herunter, dass sie ihm fast bis zu den Knien hingen. So verschieden die Freunde auch waren, so gut verstanden sie sich aber in den meisten Dingen. Die Stände mit mittelalterlichen Waffen zogen sie ganz besonders an. Ewigkeiten verweilten sie vor der Auslage mit Schwertern, Messern, Rüstungen und Schilden. Justus starrte auf ein besonders prächtiges Messer in einem Glaskasten.

„Ist das geil“, seufzte er, „so eins hätte ich auch gern.“

„Dafür hast du doch gar keine Kohle“, wies Max ihn zurecht. Justus zog ein Gesicht: „Wetten doch?“ Dann liefen sie weiter.

Später drängten sich die Menschenmassen so über den Markt, dass man sich nur schiebend durch das Gewühl bewegen konnte. Max und Justus standen vor dem Mäuseroulette.

„Komm, da machen wir mit. Kostet nur ’n Euro?“ Max starrte kribbelig auf das Glücksspiel.

„Ich hab da eh kein Glück“, hielt Justus dagegen, „ich gehe lieber nochmal zu dem Messerstand.“

Während Max mit einem Euro sein Glück wagte, lief Justus ein paar Stände zurück zu den Messern. Max hatte seinen Euro an die Maus verloren und schlenderte weiter, ohne auf seinen Freund zu achten. Nebenan wollte er Bogenschießen probieren. Nachdem Justus sich an den Messern sattgesehen hatte, standen die beiden wieder beisammen und schauten anderen beim Versuch zu, den mittelalterlichen Bogen so zu spannen, dass der Pfeil möglichst weit flog und die Mitte der Strohscheibe traf. Dann wollten sie es auch einmal wissen, aber nach zwei vergeblichen Versuchen ließen sie davon ab.

„Scheiße, Mann“, ärgerte sich Justus, „jetzt hab ich nur noch fünf Euro.“

„Ich hol mir was zu essen“, beschloss Max und kramte in seiner Hosentasche. Justus nickte. Beide kauften sich eine Bratwurst und bissen hungrig hinein. Mit der Wurst in der Faust wanderten sie weiter.

Max schaute auf seine Armbanduhr. „Mist, ich muss nach Hause.“

Er hatte völlig die Zeit vergessen.

„Ich bleibe noch“, meinte Justus, „ich muss erst um acht zu Haus zu sein.“ Inzwischen war es dunkel geworden.

„Bis morgen, Alter.“ Max rannte über die Marktstraße weiter Richtung Untere Straße. Er wohnte mit Mara, seiner Mutter, in einem der Häuser an der Brandgasse unter der Marktstraße. An ihr hing er sehr. Sie ließ ihm ein paar Freiheiten, achtete auf der anderen Seite aber peinlich genau darauf, dass er seine Schulaufgaben erledigte, bevor er nach draußen ging. Handy und Computer konnten warten, bis er die weiterführende Schule besuchen würde. Max, kleiner als seine Schulfreunde, wurde von Justus, der trotz seines jugendlichen Alters schon zu Übergewicht neigte, um eine halbe Kopflänge überragt. Das machte ihm nichts aus. Er wusste, dass er alle auf seine Weise übertraf. Das gab ihm Selbstbewusstsein genug, um nicht unter seiner geringeren Körpergröße zu leiden.

Justus war im Denken bedächtig und phlegmatisch, versuchte aber, wechselnden Vorbildern nachzueifern. Gegen seinen siebzehnjährigen Bruder Emil kam er natürlich nicht an. Emil war verschlagen und gemein gegen Schwächere. Justus bewunderte, fürchtete und hasste ihn zugleich. In manchen Dingen eiferte er ihm nach. War er dagegen mit Max zusammen, wollte er lieber so sein wie er. Das aber zerriss ihn innerlich. Und so war er oft unglücklich.

Justus umrundete den Platz noch einmal, schob sich an den flanierenden Paaren und Familien vorbei, kurvte um Mütter mit Kinderwagen herum und bahnte sich seinen Weg an Omas mit Rollatoren vorbei bis zur Messerbude. Voller Bewunderung starrte er auf das teure Outdoormesser, das es ihm schon drei Stunden vorher angetan hatte. Er würde es sich niemals kaufen können. Er sah nur eine Möglichkeit und fasste einen raschen Entschluss. Er schaute den Verkäufer an, der sich ihm zuwandte: „Darf ich das mal anfassen, bitte?“

Gerald Fischer, der Besitzer der Messerbude, reichte ihm vorsichtig das Messer, behielt ihn aber fest im Blick. Geschickt klappte Justus die Klinge auf und tat so, als verstünde er etwas von der Qualität solcher Messer. Wie ein Großer prüfte er die Schärfe mit dem Daumen. Als sich drei Erwachsene mit Kindern an den Stand quetschten und den Verkäufer mit Fragen bedrängten, forderte er das Messer von Justus wieder zurück.

„Da ist mein Papa“, wehrte Justus ab, „ich möchte es ihm zeigen. Papa!“, rief er laut nach hinten und hielt das Messer hoch in die Luft. Der Budenmann suchte mit den Augen nach dem vermeintlichen Vater. Dabei verlor er den Jungen für eine Sekunde aus dem Blick. Als er sich wieder an Justus wenden wollte, war dieser verschwunden. „Der hat das Messer geklaut“, schrie der Budenmann laut und fuchtelte mit den Armen. „Ein Dieb, ein Dieb!“ Er griff nach seinem Handy, um die Polizei zu rufen.

Theo Hoffmann, ein Polizist, der über den Marktplatz Streife lief, hatte das Schreien gehört und kam herbei.

„Gerade hat mir so ein Rotzbengel ein teures Outdoormesser geklaut. Habe sowieso kaum was verdient und dann so was …“, der Budenbesitzer war völlig außer sich und rang die Hände.

„Langsam, langsam“, antwortete Theo, „beruhigen Sie sich erst einmal. Und dann erzählen Sie mal von Anfang an.“

„Beruhigen? In das Kaff fahre ich nicht mehr! Hier wird man ja nur beklaut! Den Tag kann ich abschreiben“, klagte Fischer, „dafür steht man hier stundenlang rum und hat absolut nix verdient.“

Der Polizist nahm ein Protokoll auf und vertröstete den Budenmann. Man würde Nachforschungen anstellen. Sollte man etwas herausfinden, würde ein Kollege ihn umgehend informieren.

II

Justus hatte sich klein gemacht und war in der Menge abgetaucht. Als er aus dem Getümmel heraus war, lief er, was er nur konnte, in Richtung evangelische Kirche. Dort bog er nach rechts ab und rannte an der Penne vorbei in die Gaulstraße. Am Kreisverkehr an der Einmündung zur Langenbick hielt er schwer atmend inne und griff in die Tasche. Das Messer war noch da. Was hatte er getan? Aber das Messer war so cool …

Langsam ging er die Langenbick hinauf, wo er mit seinen Eltern und Emil in einer Seitenstraße wohnte. Wohin jetzt damit? Vorsichtshalber steckte er das Messer in den Schaft seiner kurzen Stiefel.

Nach einigen Minuten war er an seinem Haus angekommen. Da er keinen Hausschlüssel besaß, klingelte er. Als es summte, trat er in den Hausflur und flitzte die Treppe hoch. In der geöffneten Wohnungstür stand Emil, zum Ausgehen bereit. „Na, du Zwerg?“, begrüßte der Bruder ihn und verwehrte ihm mit ausgestrecktem Arm den Eintritt. Mit der anderen Hand griff er dem Jungen in die Tasche seines Anoraks.

„Na, einen Euro hast du ja noch. Her damit!“ Damit steckte er die Münze ein und schubste den Jungen in den Flur hinein. Justus stolperte und fiel hin. Sein Bruder blickte sich nach ihm um und grinste. Justus richtete sich auf und sah mit Erschrecken, dass das Messer ein Stück aus dem Stiefelschaft hervorragte. „Was hast du denn da?“ Neugierig bückte sich Emil und zog das Messer heraus. „Guck an“, sagte er, klappte die Klinge auf und musterte sie von allen Seiten.

„Gib das her“, schrie Justus, „es gehört mir!“ Wütend stürzte er sich auf Emil und hieb verzweifelt mit den Fäusten auf ihn ein.

„Dir?“, höhnte Emil und hielt seinen Bruder am Oberarm in Schach, „so viel Geld hattest du gar nicht. Gib’s zu, geklaut hast du es!“ Damit klappte er das Messer zusammen und steckte es in seine Hosentasche.

„Nein, es gehört mir, Max’ Mutter hat es mir gekauft!“, log Justus in der Hoffnung, den Bruder vielleicht doch noch umzustimmen.

„Verarsch mich nicht!“ Schallend lachend verließ Emil die Wohnung und schlug die Tür hinter sich zu. Justus heulte vor Wut und rannte in die Küche. Wie erwartet, war sonst niemand im Haus, sonst wäre der Krach sicher nicht unbemerkt geblieben. Es war vielleicht auch ganz gut so, denn er wäre mit Sicherheit wieder der Dumme gewesen. Jetzt würde er sich an Emil rächen, das stand fest. Mit diesem Gedanken betrat er das gemeinsame Zimmer und schaltete den Laptop ein, den er, wenn Emil mal großzügig war, auch ab und zu für Spiele benutzen durfte. Wieder Mist! Emil hatte ihn mit einem neuen Passwort gesichert. So ein Arsch! Was sollte er tun? Justus fühlte sich so einsam wie der Mann im Mond.

„Das ist so unfair!“, schimpfte er vor sich hin. Doch da fiel ihm etwas ein.

Die Budenbesitzer hatten begonnen, ihren Kram zusammenzupacken. Auch Gerald Fischer von der Messerbude verstaute seine Waren. Wütend knallte er Äxte, Messer und Schwerter in die bereitstehenden Kisten und verfrachtete sie in seinen kleinen Transporter, an den ein winzig kleiner Wohnwagen angehängt war. Da er aus Frust schon ein paar Schnäpse getrunken hatte, wollte er nicht mehr nach Hause fahren.

Nach und nach leerte sich der Marktplatz. Fischer war fast fertig mit Einpacken, als ihn ein dringendes Bedürfnis überfiel. Er schloss die Autotür und lief hinüber ins Hansecafe, wo sich die nächste Toilette befand.

Danach trank er dort noch ein paar Bier. Um Mitternacht war außer leeren Kisten und viel Abfall nichts mehr auf dem Markt zu sehen. Die Marktleute, die nicht mehr nach Hause fahren wollten, hatten sich in ihre mobilen Unterkünfte zurückgezogen. Auch die Kneipen rund um den Marktplatz waren alle geschlossen.

Plötzlich unterbrach ein Wortwechsel die Stille. Darauf folgte ein erstickter Schrei, gefolgt von einem weiteren, leiseren, dann einem jämmerlichen Stöhnen und Gurgeln, als ob jemand ersäuft würde. Stille. Schließlich hastige Schritte, die sich entfernten, dann wieder Stille. In einem Wohnwagen wurde es hell, ein Mann steckte seinen Kopf aus der schmalen Tür der Behausung, schaute nach rechts, nach links, zog ihn kopfschüttelnd wieder zurück. Das Licht erlosch. Kirchhofsruhe lag über dem Platz. Dichte, unheilvolle Lautlosigkeit.

III

Der nächste Tag war ein Montag. Justus öffnete die Augen. Seine Uhr auf dem Nachttisch zeigte sieben. Höchste Zeit zum Aufstehen. Er lief ins Bad. Als er zurückkam, bemerkte er einen starken Geruch nach Bier und Fusel. Sein Bruder, der in seinem Bett an der gegenüberliegenden Wand lag, schnarchte und rührte sich nicht. Angeekelt verzog Justus das Gesicht. Seine Kleidung hatte Emil, wie immer, auf dem Boden verstreut. Nun untersuchte Justus vorsichtig Emils Jacke und Jeans. Nichts. Kein Geld. Kein Messer. Nur ein zerdrücktes Päckchen Zigaretten und ein kleines Tütchen mit irgendetwas, das er nicht kannte. Was hatte Emil mit seinem Messer gemacht? Enttäuscht ließ er die Klamotten wieder fallen und lief in die Küche. Auf dem Tisch standen Frühstücksreste, also war sein Vater schon fort. Er arbeitete in einer Wipperfürther Metzgerei und fing sehr früh mit der Arbeit an. Elke, seine Mutter, war noch nicht aufgestanden, was den Jungen nicht wunderte. Und Emil würde noch stundenlang schlafen, denn er hatte ein paar Tage frei. Er war Auszubildender in der gleichen Metzgerei, in der auch sein Vater arbeitete. Justus schmierte sich ein Nutellabrot, goss sich ein Glas Saft ein, aß, trank, griff nach seinem Ranzen und machte sich auf den Schulweg. Viel Lust hatte er heute nicht, aber zu Hause war es auch nicht gemütlicher. Auf dem Schulhof traf er Max.

„Auf dem Marktplatz war Polizei“, erzählte der ihm, „ein ganzer Haufen Polizisten sogar, und abgesperrt haben die den.“

„Was war denn los?“, fragte Justus neugierig und ließ seinen Ranzen auf die Erde gleiten.

„Weiß nicht“, kam es von unten, denn Max band sich gerade die Schuhe neu, „vielleicht weiß meine Mutter was. Sie arbeitet doch im Rathaus. Sie sagt, da weiß man alles zuerst, was in der Stadt so passiert ist.“

Die Klingel rief zum Unterrichtsbeginn.

„Hinter dem Engelbertus hat man einen Toten gefunden“, sprudelte es aus Marlies heraus, die mit ihrer Freundin Margret mittags in der Penne bei einem Radler saß.

„Wen gefunden?“ Margret war nicht ganz bei der Sache, sie beobachtete ein Pärchen, das am Nebentisch in eine leise, aber intensive Unterhaltung vertieft war. Ein großer, dunkelhaariger Typ in schmutzigen Jeans und einem völlig zerdrückten grünen Parka sah aus, als ob er auf einer Parkbank geschlafen hätte. Seine Begleitung, eine junge, dralle Frau, in rosafarbene, hautenge Leggins und einen überhängenden blauen Pulli gekleidet, bot mit ihren Fettpolstern den Anblick eines kleinen schlachtreifen Schweinchens.

Die sind aber nicht von hier, ging es Margret durch den Kopf, die sind aber ganz und gar nicht von hier.

„Hör doch zu“, mahnte Marlies ihre Freundin, „einen Mann haben sie gefunden. Da!“, sie zeigte in Richtung des Rathauses, „hinter der Säule mit dem Engelbert hat er gelegen.“ Ehe Margret antworten konnte, wurde es plötzlich am Nebentisch laut.

„Du kriegst richtig Ärger, Rosa. Ich sage dir, wenn du nicht spurst, kannst du dich auf was gefasst machen!“ Das war der Parkatyp. Die kleine Dicke sprang behände auf, was man ihr gar nicht zugetraut hätte. „Au!“, schrie sie und hielt ihren Arm, denn der Kerl hatte seine Handkante wuchtig auf ihren Unterarm niedersausen lassen. Schmerzvoll ächzte sie noch einmal auf.

„Olaf, du bist ein Schwein“, zischte sie ihn an, „lass mich in Ruhe, oder ich geh zur …“

„Halt bloß die Schnauze“, fuhr er sie scharf an, „du weißt genau, was passiert, wenn du auch nur ein Wort sagst.“

Die junge Frau schwieg, und er redete weiter leise und heftig auf sie ein.

„Solche Kerle könnte ich ja …“, flüsterte Marlies, ohne jedoch Anstalten zu machen, etwas zu unternehmen. Die Freundinnen standen wie auf Kommando auf, gingen zur Theke und zahlten. Mit einem missbilligenden Blick auf das Paar verließen sie das Lokal.

„Weißt du denn, wer der Tote ist?“, fragte Margret, als sie auf dem Marktplatz angekommen waren. Marlies, sensationslüstern, wie sie war, strebte in Richtung Brunnen, wurde aber alsbald gestoppt.

„Halt“, rief Theo Hoffmann, der Polizist, „hier ist gesperrt.“ Auch die freundliche Bitte, man wolle nur in den Ratskeller, half nichts.

„Der ist auch gesperrt“, kam es lakonisch zurück. Die Frauen gaben auf.

Die Neuigkeit war in der Hansestadt schnell herum. Man sprach darüber, rätselte, mutmaßte, glaubte viel zu wissen, wusste aber in Wahrheit nichts. Ein Gerücht von vielen besagte, dass ein Ausbeinmesser auf dem Grund des Marktbrunnens gefunden worden sei.

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22 aralık 2023
Hacim:
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ISBN:
9783942625418
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