Kitabı oku: «Mit dir, Ima», sayfa 2

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Beides hat meiner Mutter früher gefehlt. Wenn sie, mein Vater und ich irgendwohin fuhren, reiste die Angst mit, sie könnte mit dem Hotelzimmer, dem Essen, mit irgendetwas nicht zufrieden sein. Und fast immer passte ihr etwas nicht, war etwas nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Es fand sich dann kein Weg, keine Lösung, kein Kompromiss. Meine Mutter starrte schweigend vor sich hin, schlug mit dem Kopf gegen eine unsichtbare Wand. Ihre schlechte Laune, die destruktive Wut auf alles und jedermann, verpestete die Luft. Bestrafte sie sich selbst, weil sie sich schuldig fühlte, ihr Land und ihre Familie verlassen zu haben? Den dominanten Mann, der sie als Gegenüber nicht ernst nahm? Beides mag zutreffen, und doch bleibt eine Leerstelle. Die Krankheit lässt sich nicht erklären.

Mein Vater war verzweifelt. Die Ferien, der Ausflug waren im Eimer. Manchmal fuhr meine Mutter allein zurück, oft brachen wir gemeinsam ab. Wenn meine Mutter in Amerika weilte, bei ihrem Liebhaber in Zürich oder bei ihrer Schwester Chava, reisten mein Vater und ich allein in die Ferien. Dann war ich sicher, war unser Frieden garantiert. Ich mag elf, zwölf Jahre alt gewesen sein, als ich begann, meine Mutter abzulehnen. Ich wünschte mir ein Leben ohne Dramen, ohne laute Streitereien, ohne Kata­strophen. Wenn ich mich daran erinnere, wie mein Vater von meiner Mutter als «d’Ima» sprach, spüre ich meinen Hass auf sie, die beschädigte, verschüttete Liebe zu der Frau, die mein Leben und das meines Vaters zerstörte.

Am einfachsten lässt sich dies anhand des Brandes be­­schrei­ben. Mein Vater sagte: «Zum Glück gab es diesen Brand, denn das verstehen die Leute, darunter können sie sich etwas vorstellen. Wenn ich sage: Meine Frau hat eine Schizophrenie, hat niemand auch nur eine Ahnung, wovon ich spreche.» Mir geht es heute ähnlich. Auch ich treffe nur sehr selten jemanden, der versteht, was es heisst, eine solche Mutter zu haben.

Als sie unsere Wohnung anzündete, war ich vier Jahre alt. Meine Mutter war in einem psychotischen Zustand und hörte Stimmen. Es war der Besuchstag im Kindergarten, mein Vater nahm allein daran teil. Um zwölf Uhr fuhren wir mit dem Auto in die Stadt, zum vegetarischen Restaurant Gleich, das für uns eine Art zweites Zuhause war. Von dort fuhren wir zu seinen Eltern. Meine Grossmutter stand in der Haustür und rief, völlig ausser sich: «Beat, du musst sofort nach Hause, deine Wohnung brennt!»

Ich sehe meinen Vater, wie er die Strasse entlangrennt, zum Waldrand, das kurze Stück Wiese hoch, zum Block, in dem wir wohnten. Das Feuer war bereits gelöscht und meine Mutter in der Klinik. Sie hatte im Wohnzimmer Brennsprit ausgeschüttet und dann angezündet. Über fünfhundert Bücher und Fotoalben verbrannten, sie hatten meinem Vater gehört. In seinem Büro und Schlafzimmer lagen die Akten in Schutt und Asche. Seine und ihre Kleider hatte meine Mutter vorher zerschnitten und in Abfallsäcke gestopft. Mit einer Vase hatte sie auf Vaters massiven Schreibtisch aus Holz geschlagen. Die fingerbreiten Kerben hat mein Vater später mit einer tannengrünen Schreibunterlage zugedeckt. Ich erinnere mich an die verkohlten und angebrannten Bücher im Wohnzimmer, an den stechenden Geruch, der in der Wohnung hing. Mein Zimmer hat meine Mutter verschont.

Heute ist meine Mutter die Gleichmut in Person. Sie sieht gut aus, wirkt mit ihren noch immer dunkel gefärbten Haaren wesentlich jünger, als sie ist, fast kindlich. Wenn es ihr gut ge­­gangen sei, habe sie ein Licht im Gesicht gehabt, sagte mir ein bekannter israelischer Schriftsteller, der in Jerusalem ihr Freund gewesen war. Das ist heute noch so, und aussergewöhnlich ist auch ihre Offenheit. Die Männer, die in meinem Leben wichtig waren, hat meine Mutter sofort ins Herz geschlossen. Meine Freundinnen mögen sie, manche beneiden mich um ihre liebevolle Art, etwa wenn sie an meinen Geburtstagsfesten ungefragt sämtliche Teller wäscht.

Kürzlich warteten wir am Zürcher Paradeplatz auf das Tram. Ich stöhnte: «Noch acht Minuten!» Meine Mutter meinte: «Acht Minuten mit dir zu sein, ist für mich nicht schlimm.» Ich um­­armte sie, sagte ihr, wie sehr sie sich verändert hat, wie unglaublich positiv sie geworden ist. «Das ist dank Gottes Hilfe so», antwortete sie. «Ich fühle mich aufgehoben und von ihm beschützt.»

Während wir am Abend vor meiner Abreise Löcher stopften, bat mich meine Mutter, einen Spruch aus dem Buch der Propheten zu lernen. Ich schrieb ihn in meine Agenda, aber er ist so einfach, dass ich ihn schon im Flugzeug auswendig konnte. Übersetzt lautet er: «Im Namen des Herrn, zu meiner Rechten Michael, zu meiner Linken Gabriel, vor mir Uriel, hinter mir Rafael und auf meinem Kopf der Segen Gottes.» Meine Mutter beschwor mich: «Bitte sag das jeden Tag.»

Vor ein paar Tagen sprach mich am Russenstrand ein Inder mit einem auffallend langen weissen Bart an. Wir hatten uns zwei-, dreimal beim Sonnenuntergang zugenickt, nun kam er lächelnd auf mich zu und sagte: «Today we have to meet.» Schon nach wenigen Schritten erfuhr ich: Eqbal ist Sikh, seine Eltern stammen aus dem Punjab. Geboren und aufgewachsen ist er in Kenia, wo er auch seine Frau kennengelernt hat, eine Schweizerin, deren Eltern Missionare waren in Afrika. Die beiden haben vier Kinder, mit denen sie in Kenia, in Kanada und in Genf gelebt haben. Im Wallis besitzen sie in einem kleinen Dorf ein Chalet. Am nächsten Tag stellte mir Eqbal am Strand seine bildhübsche Tochter, deren polnischen Mann und das zweijährige Töchterchen vor, seine Frau sollte in zwei Wochen aus Kanada nachkommen.

Gestern war ich bei Eqbal zum Mittagessen eingeladen. Auf seiner Veranda, die direkt am Fluss aus Meerwasser liegt, der etwa so breit ist wie der Rhein, servierte er ein köstliches, nordindisches Bohnencurry, Okra, Chapati und Pakora. Ausser dem Nebenhaus, das einem reichen Inder aus Delhi gehört, sind keinerlei Häuser in Blickweite, zu hören sind nur die im Wind klappernden Blätter der Kokospalmen. Über drei Stunden sass ich dort, während Eqbal von seinem dementen Schwager sprach, den er hierhergebracht hatte, was sich als grosser Fehler erwies, von der Geburt seiner Enkelin, die hier zusammen mit seiner Tochter fast gestorben wäre, hätte der reiche Inder von nebenan sie nicht mitten in der Nacht von seinem Fahrer ins Spital nach Margao fahren lassen, von der unsäglichen Geschichte, die er mit dem Besitzer seines Hauses erlebt hat. Über mich erzählte ich nichts. Es gab keine Gelegenheit, er fragte auch nichts. Ich hätte Eqbal beispielsweise sagen können, dass meine Mutter 1991 in Zürich einen achtundzwanzig Jahre jüngeren Sikh geheiratet hat, den Turban tragenden Herrn Singh, den sie im Tram kennengelernt hatte.

Nach der Trauung im Stadthaus Zürich lud meine Mutter ein paar wenige Freunde, meinen Vater und mich in ein chinesisches Restaurant ein. Ich nahm den Mann kaum zur Kenntnis, denn ich wusste, der Spuk würde bald wieder vorbei sein. Mehrmals war meine Mutter einem Liebeswahn verfallen. Mal war es ein amerikanischer Scientologe mit fünf Kindern gewesen, mal ein Zürcher Jude namens Egon, mal Jimmy, ein um sechzehn Jahre jüngerer Amerikaner, oder gar Prinz Charles. Früher oder später wollten diese Männer nichts mehr von ihr wissen.

Und ich sah ihn auch nie wieder, den Herrn Singh, da ich in der kurzen Zeit, in der meine Mutter mit ihm zusammen war, in Jerusalem studierte. Mein Vater, der damals schon seit über zehn Jahren von meiner Mutter geschieden war, machte zuerst gute Miene zum bösen Spiel. Später, als meine Mutter unter der Sexbesessenheit ihres jungen Mannes und dem dominanten Geruch seiner Kochkünste litt, sprach er mit Verachtung vom «Inder». Und es ging dann auch nicht mehr lange, da war das ungleiche Paar wieder geschieden.

Ich sprach nicht nur Eqbal gegenüber nicht von Herrn Singh, ich habe auch sonst noch nie jemandem von ihm erzählt. Und hätte ich Eqbal nicht getroffen, wäre mir die zweite Heirat meiner Mutter kaum in den Sinn gekommen.

Okra, das Gemüse, das Eqbal mir serviert hat, kochte auch meine aus dem Irak stammende Grossmutter. Viele Gerichte und Gewürze der indischen Küche sind in den Vorderen Orient eingeflossen. Beispielsweise Kitchri, ein Gericht aus Reis und Linsen. Meine Grossmutter kochte es mit Zimt und servierte es mit angebratenen Zwiebeln. Ich muss hier auch an sie denken, weil ich täglich einen zuckersüssen Granatapfel esse. Wenn wir in Hai­fa bei meiner Grossmutter zu Besuch waren, setzte sie sich zu mir an den Tisch und schälte mir mit ihren von der lebenslangen Küchenarbeit muskulösen und von der Sonne gebräunten Fingern einen Granatapfel. Ausser den Händen war nur ihr Gesicht gebräunt. Der Rest ihres Körpers war fast weiss, kam nie mit der Sonne in Berührung.

Seit sechs Wochen bin ich in Goa. Fast so lange ist es her, seit ich meine Mutter auf Skype gesprochen habe. «Wir werden von nun an jeden Tag miteinander sprechen», hatte sie gesagt, und ich hatte geantwortet: «Ja, oder zumindest jeden dritten.»

Es kam anders. Am Tag unseres nächsten Skype-Termins schrieb mir ihr Freund Ben per Mail, er sei krank, meine Mutter könne deshalb nicht mit mir sprechen. Allein kommt sie mit dem Gerät offenbar noch immer nicht klar. Ich hätte es ihr viel früher kaufen und mit ihr üben sollen, das war mein Fehler. Als ich ihr das Gerät am Vortag meiner Reise überreichte und ihr zeigte, wie sie Skype öffnet, dachte ich, Ben oder eine Pflegerin im Altersheim, irgendjemand werde mit ihr die zwei, drei Schritte üben, die sie beherrschen muss, um mit mir zu sprechen. Das erste Gespräch sollte leider das letzte bleiben. Zuerst war Ben während vier Wochen krank und jetzt, da er wieder gesund ist, hat er vergessen, wie er das Gerät bedienen muss.

Seit meiner Kindheit sind wir zum ersten Mal voneinander abgeschnitten, nicht im regelmässigen telefonischen Kontakt. Für meine Mutter, so stelle ich mir vor, ist die Funkstille schlimmer als für mich. Umso weniger verstehe ich, weshalb sie nicht jemanden finden kann, der ihr zeigt, wie Skype funktioniert. Die Abwesenheit ihrer Stimme kommt mir wie ein kleiner Tod vor, ein Vorgeschmack auf mein Leben ohne sie.

Gestern habe ich sie auf dem Festnetz angerufen. Alles sei in Ordnung, sagte sie, ausser dem Gerät. «Es funktioniert nicht, wir haben alles versucht!»

*

Nach Mitternacht beginnen die herrenlosen Hunde zu jaulen und zu bellen. Mal sind sie weiter weg, mal habe ich das Gefühl, einer stehe unmittelbar vor meiner Tür. Kurz nach vier Uhr kräht ein Hahn, die ersten Krähen beginnen zu krächzen. Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt, mehrmals aufzuwachen. Obwohl ich müde bin, dauert es manchmal lange, bis es mir wieder gelingt einzuschlafen. Zugleich habe ich die Schönheit dieser Stunden entdeckt, in denen ich wach liege, es irgendwann wieder ruhig wird und so etwas wie Stille in mein Zimmer und in den Garten mit den hohen Kokospalmen einkehrt. Oft erinnere ich mich noch an einen Traum. Heute Nacht habe ich gedacht: Den muss ich mir merken!

Aus einem Fenster, das sich im Erdgeschoss befindet, sehe ich auf einen Strand. Meine Mutter geht auf das Wasser zu. Ich bin erstaunt, da sie Angst hat vor dem Meer. Als sie sich in die ans Ufer schlagenden Wellen setzt, denke ich: Sie spinnt mal wieder. Doch plötzlich spüre ich meine starke Liebe zu ihr, denn ich sehe, wie sie absichtlich immer tiefer ins Wasser gleitet. Sie will sich offenbar das Leben nehmen. Innert Sekunden schätze ich ab, ob ich den Sprung aus dem Fenster schaffe. Ich entschliesse mich, hinauszueilen und sie zu retten. Dass mir das gelingen wird, steht ausser Frage.

Als ich einundzwanzig Jahre alt war, hat meine Mutter versucht, sich das Leben zu nehmen. Sie wohnte damals in einer Einzim­merwohnung, wenige Schritte von der Wohnung entfernt, die sie Jahre zuvor angezündet hatte, in der ich aufgewachsen war und wo mein Vater noch immer lebte. Ich war seit ein paar Wo­­chen auf Kreta, zog mit einem Norweger von Dorf zu Dorf. Im goldenen Licht eines späten Nachmittags wählte ich von einem öffentlichen Telefon am Strassenrand die Nummer meiner Mutter. Ich liess es lange läuten, bis sie abnahm. Sie hauchte etwas ins Telefon, als hätte ich sie geweckt. Mir war klar, dass etwas nicht stimmte. «Ich kann nicht sprechen», flüsterte sie, «ich habe alle meine Medikamente geschluckt, ich will sterben.» Ich hatte Angst und war zugleich gefasst. Mein Vater war in Spanien, und so rief ich eine befreundete Ärztin an, die den Notfallpsychiater und die Sanität kommen liess. Es war bereits dunkel, als mir die Freundin berichtete, man habe meiner Mutter den Magen ausgepumpt, sie sei jetzt in der Klinik.

Es war ihre einunddreissigste Einweisung. Zurück in der Schweiz erfuhr ich, dass die achthundert Milligramm Leponex, die sie eingenommen hatte, nicht tödlich gewesen wären. Aber seither sitzt mir die Angst, dass sie sich das Leben nehmen könnte, in den Knochen. Als Kind und Jugendliche hatte ich oft ge­­dacht: Am besten wäre es, sie würde sterben. Dann wäre unser Leben ruhig und normal, mein Leben und das meines Vaters.

Viel später hörte ich im Radio einen Psychiater sagen, die fehlende Krankheitseinsicht von Menschen mit einer Schizophrenie sei ein vitaler Schutz. Patienten, die ihre Krankheit anerkennen, würden sich sehr oft das Leben nehmen. Die immer wiederkehrenden Schübe haben das Leben meiner Mutter geprägt. Geprägt, nicht zerstört. Vielleicht weil sie die Krankheit negiert. «Ich bin krank» – noch nie hat sie diese Worte ausgesprochen. Sie sagt vielmehr, sie leide unter Heimweh, sie sei «heimwehkrank». Dass ich das stigmatisierende Wort «Schizophrenie» hier nenne, möchte sie nicht. Sie fürchtet, wegen dieses negativ konnotierten Begriffs würden die Leser schlecht von ihr denken. «Du hoffst, dein Buch werde dazu beitragen, dass man offen darüber sprechen kann», sagte sie mir. «Du hast einen offenen Horizont, aber die meisten Menschen sind nicht wie du. Du meinst, du könnest die Welt ändern, aber die Welt ist, wie sie ist.»

Ihre Befürchtungen sind sehr verständlich. Wir haben uns deshalb darauf geeinigt, dass meine Mutter auf diesen Seiten Jehudit heissen wird. Sie hat den Namen ausgewählt und dazu bemerkt, er passe am besten zu ihr. Meine Mutter freut sich aber auch über mein Vorhaben, es erfüllt sie mit Stolz.

In ihren Büchern schreibt die in England und in den USA aufgewachsene Autorin Jhumpa Lahiri über ausgewanderte Bengalen. Als ich vor ein paar Wochen ihren Roman Der Namensvetter las, musste ich an meine Mutter denken. Die Inderin Ashima, die in einer kleinen Universitätsstadt in der Nähe von Boston lebt, bezeichnet darin ihr Leben als Ausländerin als eine Art lebenslange Schwangerschaft, als ein ewiges Warten, eine dauernde Last, ein ständiges Unwohlsein. […] Es ist eine permanente Verantwortung, ein Zwischenspiel im einst normalen Leben, bis man merkt, dass das Leben davor gar nicht mehr existiert, dass etwas Kompliziertes, Anstrengendes an seine Stelle getreten ist.

Das trifft wohl auf sehr viele Ausländer zu. Meine Mutter hat während der meisten Zeit ihres Lebens unter einem doppelten Fremdsein gelitten. Nichts entfremdet einen Menschen so sehr von sich und der Welt wie ein schizophrener Schub, in dem die eigene Wahrnehmung und die Realität nicht übereinstimmen. In diesem Sinne war sie schon in Israel fremd.

Auch beim Lesen von Salman Rushdies Roman Mitternachtskinder, von dessen Ende mich wenige Seiten trennen, dachte ich an sie. Die Hauptfigur verkündet zum Entsetzen ihrer Eltern: In meinem Kopf sprechen Stimmen zu mir. Ich glaube – Ammi, Abboo, ich glaub das wirklich – Erzengel haben angefangen, mit mir zu reden. Rushdie bezeichnet Indien als Land, in dem jede körperliche und geistige Eigentümlichkeit eines Kindes die Familie in tiefe Schande stürzt.

Ich bin sicher, die Eltern meiner Mutter haben sich in Israel für die Krankheit ihrer Tochter geschämt. Sie war ein offenes Geheimnis, nur meinem Vater sagte niemand ein Wort. Meine Mutter verschwieg ihm, dass sie mehrmals in einer psychiatrischen Klinik gewesen war. Die beiden hatten damals bereits begonnen, einander Briefe zu schreiben, in denen es ums Heira­ten ging.

*

Ein Wahnsystem ist in sich logisch, es hat einen realen Hintergrund und sagt etwas aus. Dennoch hat es mich nie sonderlich in­teressiert, was genau die Stimmen zu meiner Mutter sagen. Ich brauchte meine ganze Kraft dafür, meine Mutter in einer an­­deren Realität zu wissen, physisch anwesend, aber nicht er­­reichbar. Im Wahn wird meine warmherzige Mutter eiskalt, in ihrem eigenen Sonnensystem kreist ihr Denken nur um sich. Argumente, Bitten und Wünsche von anderen lässt sie nicht mehr an sich heran. Die Beziehung ist gekappt. Anders als ich kann sich ein Arzt relativ distanziert nach dem Inhalt des «inneren Radioprogramms» erkundigen, die Krankengeschichte meiner Mutter ist voll von solchen nüchternen Einträgen.

Wenn ich sie in akuten Phasen frage, ob sie Stimmen höre, gibt sie die Wahrheit nicht immer preis. Sie weiss, wie sie mein Drängen, sie möge die Medikamente wieder nehmen, umgehen kann. Aber ich spüre, dass sie mir etwas vormacht. Über die Jahre habe ich ein untrügliches Sensorium für ihren Zustand entwickelt. Bereits in den ersten Sätzen eines Telefongesprächs höre ich, wie es meiner Mutter geht.

In den letzten Jahren, in denen sie die Medikamente nimmt, klingt ihre Stimme geerdet, zufrieden. Ihr Alltag verläuft in ruhigen Bahnen, sie erzählt mir, wen sie getroffen und was sie ge­­gessen hat. Ihr Gleichmut hat nicht nur mit ihrem neu gefun­denen Glauben zu tun. Die Neuroleptika nehmen ihr Ecken und Kanten, machen sie gefügig. Ich wünschte, sie bräuchte sie nicht zu nehmen.

Zuerst geht es meiner Mutter ohne Medikamente tatsächlich besser. Sie wirkt lebendiger, klarer. Ich kann verstehen, dass sie ohne diesen Filter leben möchte. Aber das Muster hat sich immer wiederholt: Auf die euphorische, manische Phase – schwungvolle, energische Stimme – folgte die depressive Stimmung, die immer stärker wurde, bis sie nur noch im Bett lag. Ihre Stimme klang dann zittrig, zerbrechlich, und irgendwann nahm sie das Telefon nicht mehr ab.

Als mein Vater erstmals die Scheidung einreichte, war ich sieben Jahre alt. Bevor ich ins Bett gehen musste, fragte ich ihn: «Kann ich bei dir bleiben?» Immer wieder wollte ich hören, er werde dafür kämpfen, er werde alles dafür tun, was in seiner Macht ste­­he. Die Vorstellung, das Gericht werde das Sorgerecht meiner Mutter zusprechen, kam für mich einem Fall ins Bodenlose gleich. Mein Leben stand auf dem Spiel. Ich muss sehr erleichtert gewesen sein, als mein Vater mir endlich mitteilen konnte, er habe das Sorgerecht erhalten.

Die andere Frage, die mich beschäftigte, liess sich länger nicht beantworten: «Werde auch ich einmal so krank wie Ima?» Ich stellte sie meinem Vater. Er war der einzige Mensch, mit dem ich über meine Mutter sprach. Nur über uns fegte der Sturm ihres Wahnsinns hinweg, nur wir beide liebten sie. So wichtig mein Grossvater für mich war, so sehr mich die Eltern meines Vaters umsorgten – im Haus meiner Grosseltern wurde meine Mutter kaum erwähnt. Die Devise lautete: Nöd vor em Chind. Fünfzig Jahre zuvor hatte mein Grossvater den Tod seiner ersten Frau und ihres neugeborenen Kindes seiner achtjährigen Tochter zwei Wochen lang verschwiegen und das Mädchen an der Beerdigung seiner Mutter nicht teilnehmen lassen. Diese Unge­heuerlichkeit im Sinne einer verqueren Schonung beschäftigte meine Tante, die Halbschwester meines Vaters, noch achtzig Jahre später.

Mein Vater war das Gegenteil. Er sprach mit mir fast wie mit einer Erwachsenen; mitunter war er zu ehrlich, etwa wenn er mir antwortete: «Ich glaube und hoffe, dass du nicht krank wirst wie Ima, aber wissen tue ich es nicht; eine Schizophrenie zeigt sich erst bei jungen Erwachsenen.»

Die Angst begleitete mich weiterhin. Mit einer an Schizophrenie erkrankten Mutter war die Wahrscheinlichkeit einer Er­­krankung für mich zehnmal grösser als für einen anderen Menschen. Als ich siebzehn war, blitzte das Thema jäh auf. Ich hatte im Gymnasium zusammen mit zwei Freundinnen eine Bulimie entwickelt. Die Essstörung war damals nur Fachpersonen be­­kannt, wir drei glaubten, C. habe einen Trick erfunden, der es uns erlaube, Unmengen von fetten Nahrungsmitteln zu verschlingen und dabei sogar abzunehmen.

Im Schaufenster einer medizinischen Buchhandlung fiel mir auf dem Schulweg eines Tages ein Buch auf mit dem Titel Die heimliche Sucht, unheimlich zu essen. Ich kaufte es und las von krassen Fällen, in denen Frauen über Jahre hinweg im Verborgenen er­­brachen und dabei den Kontakt mit der Aussenwelt mehr oder weniger verloren. Wenn das mein Weg sein soll, dachte ich, dann ist mein Leben genauso hart wie das meiner Mutter. «Da kann ich hier gleich aus dem Fenster springen», sagte ich zu C.

Das Ganze hatte erst wenige Monate zuvor begonnen. Mir war klar, dass ich Hilfe benötigte. Und wer würde mir helfen, wenn nicht mein Vater? Ich gab ihm das Buch, er las es über Nacht. Das Entsetzen stand ihm am Morgen ins Gesicht geschrieben und wohl auch die Angst. Er blieb dennoch gefasst und meinte, er werde sich nach einem Psychotherapeuten erkundigen. Offenbar erwähnte er seine Sorgen einer mit uns beiden befreundeten Schauspielerin gegenüber, denn er gab mir schon bald den Na­­men eines Mannes, der unserer Freundin geholfen hatte. Auch sie hatte viele Jahre an derselben Essstörung gelitten.

Dreimal suchte ich seine Praxis auf. Sie lag in einem mir gänzlich unbekannten Stadtteil, ich füllte Fragebögen aus und erzählte von meiner Mutter, mit der ich in dieser Zeit nur wenig Kontakt hatte. Am Ende der dritten Stunde erklärte der Mann, er plane ein verlängertes Wochenende; er werde sich für ein weiteres Treffen demnächst bei mir melden. Drei Tage später eröffnete mir mein Vater, die Frau des Therapeuten hätte ihn angerufen und gesagt, ihr Mann habe sich in der Praxis erschossen. Ich erfuhr, dass mein letzter Besuch bei ihm seine letzte Therapiestunde gewesen war.

Kurz davor hatte mein Vater an einer Buchvernissage einen Psychoanalytiker kennengelernt. Er rief ihn an, um einen Termin für mich zu vereinbaren. Den Moment, in dem er mir die Tür öffnete, habe ich nicht vergessen: Ich war begeistert, und dieses Mal hatte ich wirklich Glück. Nach rund einem halben Jahr war die Bulimie kein Thema mehr, dafür mein Vater, von dem ich mich dringend ablösen musste.

Sechs Jahre später hatte ich erstmals eine Stelle und somit eine vage berufliche Zukunft. Seit Neuem hatte ich auch einen Freund. Ich hatte L. im Tangokurs kennengelernt, einen sportli­chen, humorvollen und naturverbundenen jungen Mann, der gerade sein Nachdiplomstudium abschloss. Bald erfuhr ich: L.s Vater war an Schizophrenie erkrankt, seine Mutter hatte ihn und seinen Bruder weitgehend allein aufgezogen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir darüber sprachen, aber wir spürten wohl beide, dass es keine gute Idee wäre, zusammen Kinder zu haben. Schon bald erschien auch unsere Verbindung fragwürdig, und unsere Wege gingen auseinander. L. lernte seine heutige Frau kennen, und es ging nicht lange, da hatten sie zwei Kinder.

Als ich später von K. schwanger werden wollte, verdrängte ich das Risiko, mein Kind könne an einer Schizophrenie erkranken. Ich vertraute auf das Leben.

*

Ab zwölf Uhr mittags verbrenne ich mir ohne Sandalen auf dem Sand die Füsse. Die Tage sind hochsommerlich warm, aber kurz. Bereits um sieben Uhr abends, während die orangerote Kugel über dem Horizont in einem Wolkenband versinkt, gehen in den Restaurants die Lichter an. In den Wintermonaten, in denen die Touristen die Strände bevölkern, ist das Stromnetz abends oft überlastet. Auf einen Schlag gehen Lichter, Musikanlagen und Kühlschränke aus. Einheimische und Touristen zünden dann gelassen die bereitgestellten Kerzen an. Ich empfinde in diesen Momenten eine kindliche Freude, ich wünschte, es würde ewig dauern, das Aus der Konservenmusik. Nach etwa einer Viertelstunde laufen die Geräte dann wieder, so plötzlich, wie sie ab­­ge­stellt wurden.

Nach den abendlichen Strandspaziergängen gehe ich meist in mein Zimmer. Mein Nachtessen besteht aus Brot, Tomaten und Feta, der im Kühlschrank des Dorfladens für Touristen be­reit­liegt. Der kleine Holztisch, der an der Wand steht, dient mir als Ess- und Schreibtisch. Er ist gerade so breit, dass der Teller vor dem zugeklappten Laptop Platz hat. Zugleich dient er als Ablage für Toilettenartikel und Bücher. Die beengten Verhältnisse stören mich nicht. Alles hat seinen Platz. Auch die Muscheln und Steine, die ich auf dem Fenstersims aufgereiht habe.

Schlimm wäre, ich könnte mich im Bett nicht ausbreiten. Die Vermieter haben es selbst gezimmert. Oft wache ich am Morgen auf dem Rücken liegend mit weit ausgebreiteten Armen aus. Neben Wasserkocher, Kissen und Taschenlampe gehört die Nachttischlampe zu den wenigen, aber wichtigen Gegenständen, die ich von zu Hause mitgebracht habe. Was für ein Glück, in den vielen Stunden, in denen ich unter dem Moskitonetz lese, gutes Licht zu haben.

Am Sonntagabend lausche ich jeweils dem Raga, den ein paar Männer im nahen Tempel spielen. Einmal bin ich durch eine Art von Urwald aus üppigen Pflanzen, Bäumen und an mehreren Hauseingängen vorbei zu ihm vorgedrungen. Mit jedem Schritt wurden die elektronisch verstärkten Instrumente lauter, sodass ich mir beim Eingang zum blau gestrichenen Haus beinahe die Ohren zuhalten musste. Die Musiker sassen im Kreis am Boden, ausser mir nahm niemand von ihnen Notiz.

Täglich zu schwimmen habe ich mir auch in Zürich angewöhnt. Im Sommer im See, während des restlichen Jahres im Hallenbad. Im Frühsommer und Herbst radle ich auch zum Moorsee, den mein Vater früher fast jeden Abend aufsuchte. In der Garderobe zog er sich Badehose und Bademantel an, lief über die Wiese zum hinteren Seeeinstieg und schwamm dann seine Runde. Danach verlief das Ganze in umgekehrter Richtung. Nicht ein Mal legte er sich auf den warmen Holzsteg, er nahm auch nicht an einem der Tische beim Kiosk Platz, sondern setzte sich unverzüglich wieder in das von der Sonne aufgeheizte Auto, um nach Hause zu fahren.

Die wenigen Male, die meine Mutter mitkam, wartete sie an Land und schaute zu, wie wir genüsslich den stillen dunklen See überquerten. Obwohl sie am Meer aufgewachsen ist, fürchtet sie sich vor Gewässern, in denen sie nicht stehen kann.

In einem der Fotoalben gibt es Bilder aus dem Wellenbad Dolder. Ich bin zwei Jahre alt, meine Mutter fünfunddreissig. Ihr dunkles Haar ist ziemlich kurz geschnitten, wahrscheinlich hatte sie es bereits damals gefärbt. Sie trägt einen modischen, auber­ginefarbenen Bikini, die Hose reicht bis zum Bauchnabel. Ihr Körper ist weder weiss noch gebräunt, weder dick noch dünn.

Auf einem der Bilder ist auch ihre jüngste Schwester Chava mit ihrer halbjährigen Tochter zu sehen. In Israel war meine Mutter für diese um zwölf Jahre jüngere Schwester in mancher Hinsicht ein Vorbild gewesen. Sie war die Einzige in der Familie, die an der Universität studiert hatte, sie war immer ausge­sucht gekleidet, hatte Stil und höfliche Umgangsformen. Mit dem Wegzug aus Israel zeigte sie sich weltoffen und unkonventionell. Sie nahm aktuelle Strömungen auf, etwa die antiautoritäre Er­­zie­hung, und war mit dem Vegetarismus ihrer Zeit sogar voraus.

Konservativ wurde sie erst viel später, als sie etwa Mitte sechzig war und ihr Judentum neu entdeckte. Sie begann abschätzig, ja feindlich über «die Araber» zu sprechen und vertrat die Meinung, die besetzten Gebiete gehörten aus religiösen Gründen zu Israel. Am Anfang widersprach ich vehement, was natürlich keinen Sinn hat, und so lasse ich das Thema inzwischen aus oder wechsle es. Mit ihrer neuen Religiosität wurde meine Mutter auch prüde. Sie gab alle ihre Badeanzüge und Bikinis weg und ging nicht mehr mit meinem Vater ins Thermalbad. Zu meiner Er­­leichterung befolgte sie aber weiterhin viele religiöse Vorschrif­ten nicht. Um von der Synagoge nach Hause zu gelangen, nahm sie etwa ohne zu zögern das Tram.

Inzwischen hat ihre Schamhaftigkeit vielleicht auch damit zu tun, dass sie als Nebenwirkung der Medikamente zugenommen hat. Immer wieder beklagte sie sich in den letzten Jahren über diesen ihr fremd gewordenen Körper, in dem sie sich nicht wohlfühlt.

Und doch überrascht mich meine Mutter immer wieder. Wie damals, als wir im Sommer vor drei Jahren zusammen in der Stadt unterwegs waren und ich in einem Schaufenster einen ro­­ten Badeanzug sah, der mir gefiel. Wir betraten gemeinsam das Geschäft. Meine Mutter wollte auch einen Badeanzug probieren, denselben wie ich, in Blau mit weissem Rand. In Blau-Weiss, den Farben der israelischen Flagge, sind heute fast alle ihre Kleider und auch die meisten Möbel. Mit je einem Täschchen in der Hand verliessen wir das Geschäft, und meine Mutter sagte: «Ich komme gleich mit dir in die Badi.»

Ich freute mich. Und während sie auf den Zug wartete, radelte ich nach Zollikon und holte sie dort am Bahnhof ab. Im alten Seebad setzten wir uns auf dem Holzrost in den Schatten. Ich überliess meiner Mutter die Yogamatte, was ein wenig half, aber weich sass sie nicht. Ich hatte vergessen, dass sie fast achtzig Jahre alt war. Vergass auch sie ihr Alter? Sie bemerkte zwar, der Boden sei hart, aber sie beklagte sich nicht, im Gegenteil. Sie strahlte in ihrem blauen Badeanzug mit weissem Rand, der ihr beim Dekolleté ein wenig zu gross war, was sie zu Hause ausbessern wollte. Ich weiss nicht mehr, worüber wir an diesem zeitlosen Nachmittag sprachen. Ich erinnere mich nur an ein goldenes Licht und daran, dass ich zwei Flaschen Bier holte und wir dazu Fischknusperli und Kartoffelsalat assen.

Spontan für zwei Badeanzüge ein kleines Vermögen auszugeben, wäre in meiner Kindheit nicht der Rede wert gewesen. Meine Mutter kaufte damals ein wie eine Königin, Preise spielten keine Rolle, nur guter Geschmack. Stets war sie stilsicher, ja edel gekleidet. Fast alle ihre Schuhe kaufte sie bei Charles Jourdan oder Löw, auch die Kleider stammten aus den vornehmsten Geschäften der Stadt. Mein Vater fand nichts dabei, wahrscheinlich war er sogar stolz auf seine gut angezogene Frau, obwohl er als Anwalt von eher unkonventionellen Klienten mal mehr, mal weniger oder gar nichts verdiente. Er lebte von der Hand in den Mund. Irgendwie gelang es ihm über viele Jahre, die Miete für unsere Attikawohnung aufzubringen. Der Vermieter, der ihn aus der Jugend kannte, tolerierte mehrmals einen Verzug von zwei, drei Monaten, denn immer wieder standen grössere Honorare aus. Als Kind wusste ich manchmal bis im letzten Moment nicht, ob wir in den Schulferien verreisen würden.

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