Kitabı oku: «Granate oder Granatapfel, was hat der Schwarze in der Hand», sayfa 6

Yazı tipi:

EIN MANN IN WUT

Als dieser Mann auf mich zukam, dachte ich nicht daran, ihm in die Augen zu blicken. Vielleicht hätte ich dort gleich das seltsame Leuchten entdeckt, an dem Menschen mit einer Mission leicht zu erkennen sind. Solche Leute trifft man in den USA häufig an, bei ihm hatte ich es nicht erwartet, vor allem war ich nicht auf eine Auseinandersetzung in dieser Form gefasst. Zu gut gekleidet für einen Bettler, er ist auch kein Zeuge Jehovas (ihm fehlte ihr Markenzeichen, eine Mischung aus Höflichkeit und Aggressivität). Sah eher aus wie ein Manager, der infolge eines plötzlichen Konjunkturknicks gerade entlassen wurde.

„Guten Tag.“

„Guten Tag.“

„Kann ich Ihnen etwas zeigen?“

„Nein danke, ich will nichts kaufen …“

Er schreckte zurück, als hätte ich ihn zu ohrfeigen versucht.

„Aber ich will Ihnen doch nichts verkaufen.“

„Wenn das so ist …“

„Ich will Ihnen nur etwas zeigen, wenn Sie bereit sind, mich nachhause zu begleiten.“

Ich zögerte einen Moment. Es ist äußerst selten, dass ein Weißer einen Schwarzen, den er auf der Straße getroffen hat, zu sich einlädt. Es ist dann entweder ein Obdachloser, ein Erleuchteter oder ein Perverser. Auf alle Fälle einer, der nichts zu verlieren hat. Genau wie ich nichts zu gewinnen habe. Aber ich war ja gerade unterwegs, um Leute kennenzulernen. Ich nahm meine Tasche und folgte ihm. Er wohnte nicht weit entfernt, in einem gepflegten Gebäude drei Straßenecken weiter. Wir nahmen den Aufzug. Er öffnete die Tür zu seiner Wohnung mit elegantem Schwung, um mir den Vortritt zu lassen. Ein großes Durcheinander.

„Machen Sie es sich bequem. Ich lasse Sie kurz allein, ich habe ein kleines Problem mit der Prostata. Ich muss oft auf die Toilette, aber ich bin gleich wieder bei Ihnen.“

In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie so viele Papiere gesehen. (Bücher, Zeitungen, Magazine, Berichte, Akten, Forschungsarbeiten). Darauf überall Korrekturen, Erläuterungen, Kommentare. In einer Ecke, wie Tempelwächter (vom Fußboden bis zur Decke), Enzyklopädien und Grammatiken.

„Achten Sie nicht auf die Unordnung. Möchten Sie Kaffee?“

„Eine Tasse nehme ich gerne …“

Er drehte sich mit einem Lächeln zu mir um.

„Ich trinke nur Kaffee. Davon werde ich natürlich zuweilen ein bisschen nervös.“

Was wollte er damit sagen? Und vor allem, was passierte, wenn er „ein bisschen nervös“ wurde? Ich sah zu, wie er sorgfältig den Kaffee zubereitete und nebenbei immer wieder rasch ein paar Wörter auf eine dicke Ausgabe der New York Times kritzelte. Endlich war der Kaffee fertig. Er goss mir eine Tasse ein. Sehr gut.

„Ich habe ein Problem“, sagte er im Aufstehen. Es war soweit.

„Ich kann nicht anders, bei Fehlern in der Rechtschreibung oder in der Grammatik kriege ich jedes Mal einen Anfall.“

Ich hätte es mir denken können. Im Umfeld der Universitäten trifft man häufig auf Professoren, die den Verstand verloren haben, wegen einer schönen, aber durchtriebenen Studentin, weil sie einen Preis nicht bekommen haben, ein Kollege ihnen vorgezogen wurde oder, und das ist am häufigsten, weil sie nach jahrelanger Überlastung in eine tiefe Depression gefallen sind. Die Universität ist wie eine Farm, auf der Gehirne gezüchtet werden. Einige zerbrechen daran. Doch sie dürfen weiter in der Nähe und noch eine Weile in der Wohnung aus ihrer produktiven Zeit bleiben, denn bei diesen etwas wirren Leuten kann man nie sicher sein. Anscheinend ist mal einer von ihnen wieder zu sich gekommen und hat am Ende den Nobelpreis geholt.

„Ich muss Ihnen sagen, allein in der New York Times finde ich täglich um die dreißig Fehler, am Sonntag sind es manchmal sogar fünfzig …“

„Da haben Sie viel zu tun.“

Er schien einen Moment zu überlegen.

„Nein, ich habe das absolute Auge.“

„Ach so“, sagte ich, ohne zu wissen, was er damit meinte.

„Manche Leute, zumeist Musiker, haben das absolute Gehör. Ich habe das absolute Auge. Ich brauche nur einen einzigen Blick auf einen Zeitungsartikel zu werfen und schon weiß ich, wie viele Fehler er enthält.“

„Kleine Versehen in der Zeitung, das gehört dazu …“

Er schlug seine Stirn gegen die Wand.

„Fehler. Es sind keine kleinen Versehen. Echte Fehler. Diese Leute haben überhaupt kein Gewissen. Sie sind keine Menschen. Wie kannst du so was einer Sprache antun, die jeden Tag deinen Geist ernährt! Ihr Geist ist verschmutzt. Und wenn man ihnen die Nase in ihre eigene Scheiße steckt, spielen sie das schnell herunter. Immer kleine Versehen. Wie kann man täglich so viele Fehler machen, ohne sich um Besserung zu bemühen? Schauen Sie her …“ Er lief durch das Zimmer, versetzte Berge von Zeitungen. Hielt mir alles unter die Nase. Man hatte wirklich den Eindruck, dass die Journalisten in jedem Satz einen Fehler machten.

„Dabei beschäftige ich mich nur mit den besten Zeitungen, die Kolumnen zur Grammatik bringen, aber auch in denen finde ich Fehler …“

Er klang verzweifelt. Er lud mir Ausgaben der New York Times, des Times Literary Supplement, des angesehenen Magazins New Yorker auf den Schoß. Alle Seiten waren mit Korrekturen übersät.

„Ich schicke sie ihnen mit ausführlichen Erklärungen zurück. Zu Beginn haben sie es berichtigt, aber seit zwei oder drei Jahren tun sie das fast nicht mehr.“

„Vielleicht wehren sie sich auf diese Weise gegen Ihre Korrekturen?“

Er wurde blass.

„Aber nein, das käme mir ja entgegen … Es ist ihnen einfach egal …“

„Heutzutage hat man weniger Respekt vor gewissen klassischen Ansprüchen.“

„Sie haben mich nicht verstanden, ich hasse die klassische Sprache, ich mag das Lebendige. Doch ich kann die Einstellung dieser Leute nicht verstehen. Was ist ihr Plan? Sabotage an der englischen Sprache?“

Er setzte sich kurz hin und trank schweigend ein paar Schlucke Kaffee.

„Ich will Ihnen etwas zeigen … Kommen Sie …“

Ich folgte ihm ins Schlafzimmer. Es war noch schlimmer als im Wohnzimmer. Nur mit Mühe konnte ich unter den Tonnen von Zeitungen das Bett ausmachen. Er öffnete einen großen Schrank und holte ein schönes funkelnagelneues Gewehr heraus.

„Wenn es sein muss, werde ich die englische Sprache auf diese Weise verteidigen …“

Er schaute mich an. Ich senkte den Blick.

„Das wollte ich Ihnen zeigen“, sagte er lächelnd.

DER SAXOPHONSPIELER UND DAS JUNGE MÄDCHEN

Ein Reporter für die Lokalnachrichten bei der Chicago Tribune nahm mich mit auf seine Tour. Wir fuhren den ganzen Tag Krankenwagen und Feuerwehrautos bei ihren Noteinsätzen hinterher. Zum Schluss hielten wir an einem McDonald’s, um einen Hamburger zu essen.

„Schon seit zwanzig Jahren ernähre ich mich schlecht“, bemerkte er dazu, „ich stelle mir lieber nicht vor, was im Inneren meines Körpers los ist …“

„Man darf nicht daran denken“, sagte ich.

Als er wieder durch den dichten Nachmittagsverkehr steuerte, erzählte er mir:

„Die Tribune beschäftigt Schwarze, aber immer nur für die überfahrenen Hunde. Natürlich gibt es einen Token im Aufsichtsrat. Sie brauchen immer einen, der sich verkauft, als Alibi …“

„Seltsam, ich sehe das anders … Der Typ im Aufsichtsrat hat sicher sehr viel gearbeitet, um dort hinzukommen.“

„Er sitzt nur drin für das gute Gewissen der Weißen.“

„Oje, diese Auffassungen habe ich schon tausendmal gehört. Warum stellt man jeden Schwarzen in Amerika in Frage, wenn er einen leitenden Posten hat? Glaubst du, das sei bei den Weißen anders, sie hätten alle zu Recht ihre Stellung? Der eine sitzt da, weil sein Vater ein großer Hecht ist, der andere, weil er sich mit der Tochter vom Boss verlobt hat, wieder ein anderer ist ein Waschlappen und lässt alles mit sich machen und schließlich ist da eine Frau, nur weil sie die schönsten Beine nördlich des Rio Grande hat, ja doch! So läuft das immer noch … Aber wenn es ein Schwarzer schafft, der häufig auch noch kompetent ist, holen wir die große Artillerie heraus. Er hat sich kaufen lassen. Er hat seine Rasse verraten. Und die Schwarzen haben keine Ruhe, bis er stürzt …“

Langes Schweigen. Der Wagen kam nur langsam voran. Der Verkehr um fünf Uhr nachmittags.

„Du hast Recht, das so zu sehen. Uns fehlt die nötige Distanz, um die verschiedenen Argumente zu sortieren.“

„Das müsstet ihr aber tun, denn davon hängt euer psychisches Gleichgewicht ab.“

Wir kamen in ein Viertel mit einigem Baumbestand. In Amerika zeigt der Baum an, wo man sich befindet. Zumeist werden die Viertel durch die Eisenbahnlinie voneinander getrennt. Das Viertel der Reichen hat immer viele Bäume. Die Viertel der Armen sind nur mit Strommasten und Tankstellen bepflanzt. Das Viertel der Mittelschicht liegt dazwischen. Jim wohnte ganz am Ende einer Straße mit Häusern, die alle gleich aussahen, davor stand jeweils ein von der Sonne versengter Baum. Wir stiegen aus. Ein etwa achtzehnjähriges Mädchen stand vor der Tür. Sie war groß, hatte ein offenes Lächeln und riesige Augen, die ihr etwas Verträumtes gaben. Die beiden umarmten sich, als hätten sie sich mindestens ein Jahr nicht gesehen. Ganz offensichtlich liebten sie einander sehr.

„Jennifer, meine Tochter“, stellte Jim sie stolz vor.

Ich lächelte. Sie errötete.

„Das darf nicht sein! Wie konntest du mir das antun!“, zischte sie ihren Vater an.

„Wir haben vorhin nur kurz einen Hamburger gegessen, mehr nicht.“

„Ich hatte doch gesagt, dass ich was koche … Du machst nur, was dir einfällt …“

„Aber Jenny, ich bin immer noch hungrig. Ich habe einen Hamburger gegessen, weil ich es nicht mehr aushielt. Ich kann nicht so wenig essen wie du.“

„Du bemühst dich kein bisschen“, tadelte sie ihn, während sie vor uns das Haus betrat.

Erst jetzt bemerkte ich, wie gut gebaut sie war (schlank, langgliedrig, mit dem Gang einer Tänzerin). Jim drehte sich mit einem Augenzwinkern zu mir um.

„Ich habe sie allein großgezogen. Meine Frau hat mich verlassen, als Jenny drei Jahre alt war. Jetzt hat sie es übernommen, sich um mich zu kümmern, aber sie ist zu streng …“

„Ich muss streng sein“, wandte sie lächelnd ein, „denn sonst gibt es kein Halten … Keine Grenze. Man muss jeden Tag auf ihn aufpassen. Es hat mich drei Jahre eines täglichen Kampfs gekostet, bis er mit dem Rauchen aufgehört hat.“

„Keine Hamburger, keine Zigaretten, bei der Zeitung ernte ich schon schiefe Blicke, verstehst du …“

„Sie werden wegen dir nicht nachts aufstehen müssen, wenn du alt und krank bist …“

„Das kommt sowieso nicht in Frage … du wirst dich um deinen Mann und deine Kinder kümmern.“

„Ich werde immer bei meinem allerliebsten Papa bleiben, er ist für mich der Einzige“, bekannte sie mit einem fröhlichen Lachen.

Sie umarmten sich wieder. Ich vermute, es ist eine gut eingespielte Szene, die sie Besuchern vorführen. Doch zeigte sie nur ihre tiefen Gefühle füreinander.

„Essen Sie mit uns?“, fragte sie mich.

„Nein. Ich darf nicht.“

„Warum?“

Ihre Stimme erinnerte mich seltsam an Jackie Kennedy (ich gehöre zu den ganz wenigen, die sie immer noch Jackie Kennedy nennen, trotz ihrer Heirat mit dem griechischen Reeder, dessen Namen ich vergessen möchte.)

„Ich mache eine drakonische Diät.“

Alle lachten. Sie deckte den Tisch und wir aßen unbeschwert. Plötzlich klingelte das Telefon. Die Tochter warf dem Vater einen leidenden Blick zu. Die beiden würden sich trennen müssen, bevor es zu einer Scheidung kam. Das ist immer so, wenn ein Vater allein mit einer erwachsenen Tochter zusammenlebt. Jim zögerte, bevor er abnahm. Natürlich war es die Zeitung, sie schickte ihn zu einer Demonstration. Die Lkw-Fahrer waren gerade dabei, das Zentrum von Chicago zu blockieren, weil die Polizei von Connecticut sie seit drei Monaten schikanierte. Jim musste hinfahren.

„Iss du in Ruhe auf … Es dauert bestimmt nicht lange. Ich hätte es auch am Telefon erledigen können, aber bei der Tribune müssen wir persönlichen Einsatz zeigen.“

Ich hörte, wie der Wagen wegfuhr. Er brauchte neue Reifen.

„Möchten Sie nicht etwas trinken? Ich habe Grand Marnier.“

„Gerne.“

Sie schenkte mir ein. Ich schlürfte langsam den Likör. Sie lächelte mir im Halbdunkel des Wohnzimmers zu. Man hatte hier den Eindruck, im Schutz vor der Hektik zu sein, die im Stadtzentrum herrschte.

„Sprechen Sie Französisch?“

„Ja“, antwortete ich.

Ein wunderbares Lächeln. Sie sollte zum Film gehen. Sie hatte so viel natürlichen Charme.

„Haben Sie in Frankreich studiert?“

„Nein, ich bin in Haiti geboren, dort spricht man Kreolisch und Französisch.“

„Ich weiß.“

„Jetzt lebe ich in Montréal.“

„Ach!“

Montréal war hier offenbar sehr beliebt.

„Es ist wunderbar, Französisch zu können, nicht wahr? Es ist schon lange mein Traum“, sie war ganz aufgeregt.

Dann wurde ihr Gesicht traurig.

„Meine Mutter sprach Französisch. Sie war aus Chicoutimi. Das ist in der Provinz Quebec. Ich möchte dir was erzählen …“

Ihre dunklen Augen rührten etwas in mir an.

„Es ist nicht wahr, dass meine Mutter meinen Vater verlassen hat. Sie starb bei einem Unfall mit dem Auto. Mein Vater benutzt es nur als Argument, um nie wieder zu heiraten.“

„Das verstehe ich nicht …“

„Er hat mir erklärt, wenn die Leute wüssten, dass seine Frau gestorben ist, würden sie ihn ständig bedrängen, er solle wieder heiraten.“

„Warum hat er das nie gewollt?“

Mit einem Wink bedeutete sie mir, ihr zu folgen. Ich betrat ein Zimmer voller Fotos von einem jungen schwarzen Musiker und einer wunderschönen jungen Frau, die genauso aussah wie Jenny.

„Sie haben sich in Chicoutimi kennengelernt. Mein Vater sagt, er sei der erste Schwarze gewesen, der je einen Fuß in diese Stadt gesetzt hat.“

In den Adern der Schwarzen Nordamerikas fließt das Blut von Christoph Kolumbus. Der Mythos des Entdeckers. Der größte Traum jedes Schwarzen von hier ist, eine kleine, völlig weiße Stadt im Schnee zu entdecken und sie als Erster zu betreten.

„Meine Mutter hat ihn gesehen“, erzählte sie weiter, „und sie ist buchstäblich in Ohnmacht gefallen. Ich habe es in ihrem Tagebuch gelesen. Sie war bei der Arbeit, als sie sah, wie er die Straße überquerte und in das Restaurant gleich neben ihrem Büro ging. Zum Glück war niemand im Raum an jenem Morgen, als sie in Ohnmacht fiel. Sobald sie zu sich gekommen war, ging sie in das Restaurant, um einen Kaffee zu trinken. Er wurde auf sie aufmerksam, da wäre sie beinah wieder umgekippt. Sie haben sofort geheiratet. Die Eltern meiner Mutter waren offenbar außergewöhnliche Leute, heute leben sie nicht mehr. Mein Vater wollte anfangs keine Kinder, er war zu eifersüchtig. Er wollte ihre ganze Aufmerksamkeit für sich. Sie aber bestand darauf, sie wollte ein Kind. Nach ihrem Tod hängte er die Musik an den Nagel, meinetwegen strengte er sich an bei der Arbeitssuche und fand sie bei der Chicago Tribune.“

„Aber warum erzählt er, sie habe ihn verlassen?“

Ich bin hartnäckig, nicht wahr? Das ist meine Art. Wenn ich etwas zwischen den Zähnen habe, lasse ich es nicht mehr los.

„Die Leute sind mitfühlender und verstehen, dass er das nicht noch einmal erleben will. Sonst wollen sie ihn alle wieder verkuppeln.“

„Und Sie, wie geht es Ihnen damit?“

Sie schwieg einen Moment.

„Wenn ich Französisch lernen möchte, dann wegen meines Vaters. Es ist die Sprache der Frau seines Lebens.“

In diesem Augenblick wurde mir klar, dass es für eine neue Frau wirklich sehr schwierig werden würde, in dieses Trio einzubrechen. So ist es häufig: Man lernt jemanden kennen, der unauffällig wirkt, aber sobald man etwas an der Oberfläche kratzt, hat man es mit einem griechischen Mythos zu tun.

*Walt Whitman: Leaves of Grass, Ed. S. Bradley u. H. W. Blodgett, Norton Critical Edition, London & NY 1973.

**Walt Whitman: Grashalme, a. a. O. S. 191.

*Sie lassen sich vom Staat nichts vorschreiben; Anm. B. T.

III. TEIL
AMERICANA
UNTERWEGS

Seltsam, noch kein Schwarzer hat Amerika von einem Ende zum anderen bereist, wie es Walt Whitman und Jack Kerouac, jeder auf seine Art, unternommen haben. Auch für sie war es nicht einfach. Daher frage ich wieder, warum es keinem Schwarzen gelungen ist, das Land in seiner Gesamtheit zu erfassen. Ist es eine letzte Folge der Sklaverei? Die Sklaven hatten nur die Möglichkeit, das Land zu entdecken, wenn sie beispielsweise einem grausamen Herrn zu entkommen suchten. Die Route dieser Flüchtlinge unterschied sich in ihrer Zeiteinteilung und in ihrem Verlauf (sie mussten vor allem die Städte meiden) vollkommen von der eines Touristen. Ein weiterer Grund ist, dass zwar die Universitäten der Weißen (die Rassentrennung in den USA ist abgeschafft, daher ist hier die Rede von Universitäten, die mehrheitlich von Weißen Studenten besucht werden) über das gesamte Land verstreut sind, während die Universitäten der Schwarzen sich hauptsächlich in ein paar Großstädten befinden. Der junge weiße Amerikaner kann überall hingehen, während sich ein junger Schwarzer nie an einen Ort trauen würde, zu dem noch kein Pionier den Weg vorgebahnt hat. Auch die Schwarze Literatur beschränkt sich, übrigens genau wie die Schwarze Bevölkerung, auf die Ghettos der großen Städte (Richard Wright, Chester Himes, James Baldwin haben alle ein städtisches Amerika voll Gewalt dargestellt). Kerouac hat als Einziger dieses Land ganz bereist. Aus diesem Grund wurde sein erster Roman On the road zu einem Kultbuch. Dieses Buch gehört genauso zum modernen Amerika wie der Hamburger oder Coca Cola. Dennoch war auch das keine leichte Partie. Für die erste Version des Romans, die Kerouac auf eine lange Papierrolle getippt hatte, bekam er von den Verlagen nur viele Ablehnungen, bis Malcolm Cowley ihn endlich, aber nur mit einigen Änderungen, annahm. Diese Korrekturen griffen tief in die Struktur des Textes ein. Ginsberg heulte auf. Nach seiner Ansicht hat Cowley den Roman seiner ganzen Wildheit beraubt. Denn das Originalmanuskript hatte die Form einer Spirale, die Kerouac Sprünge in alle Richtungen erlaubte. Cowley hat das Raubtier gezähmt und Kerouacs verstörendes Irrlichtern am Ende in eine Flasche gesperrt. Gerade habe ich den Roman noch einmal gelesen und kann mir nicht vorstellen, in welcher Weise er noch verrückter sein könnte, jedenfalls ist das Krasse, der direkte Zugriff auf das Leben, durchaus erhalten geblieben. Zugleich ist es mir unbegreiflich, dass die Verlage die Qualität dieses Romans, der 1957 publiziert wurde, nicht sofort erkannten. Dafür feierte ihn Gilbert Millstein in der New York Times gleich bei seinem Erscheinen. Und die Freunde (Ginsberg, der Hysteriker, und Burroughs, der Phlegmatiker) ließen die Champagnerkorken knallen. Es war der Triumph eines Buchs und gleichzeitig eines Lebensstils. Denn Kerouac hatte damit seine Freunde porträtiert (vor allem Neal Cassidy, der das Vorbild für die Hauptfigur Dean Moriarty abgab).

Kerouac on the road. Mit seinen endlosen Sätzen, seinem Himalaya der Einzelheiten, seiner Direktheit, seiner pausenlosen Bewegung (Kerouac filmt Amerika mit der Schulterkamera) kündigte dieser Roman eine neue literarische Perspektive an. Große Aufregung bei den jungen Amerikanern der Fünfzigerjahre, die endlich eine Möglichkeit entdecken, sich aus der eisigen Umklammerung T. S. Eliots zu befreien. Insgeheim ist das Ziel dieser Landschaftsbeschreibungen nichts anderes als eine geschickte Offenlegung ihrer eigenen Ängste. Gewiss, Hemingway hatte das in seinen ersten Kurzgeschichten bereits getan. Aber die spielten sich in der Natur ab. Kerouac entdeckte die Stadt. So wird die Landschaft komplett. Amerika erkannte dadurch erst jetzt, dass zwischen dem weiten Raum, den Wüsten, den Sümpfen, den Wolkenkratzern, der Flora, der Fauna und ihnen selbst eine enge Verbindung bestand. In der Beziehung der Amerikaner zu ihrer Landschaft liegt eine große Melancholie. Ihre Städte sind so neu, dass in ihnen die Erinnerung an das flache Land noch lebendig ist. Kerouac findet, was die Verbindung zwischen der Stadt und dem Land herstellt: der Amischlitten. Ein riesiger Raum. Dazu die Geschwindigkeit. Wenn man sehr schnell fährt, sieht man die Landschaft vorüberfliegen (die Farben verwischen sich etwas zu sehr, als wäre alles Aquarellmalerei), aber fährt man zu schnell, kommt man scheinbar nicht von der Stelle. Geschwindigkeit im Stillstand. Zudem scheint der amerikanische Raum den Fluchtversuch jedes Mal zu schlucken. Endlos auf der Flucht. Truman Capote sagte einmal im Fernsehen, Kerouac habe nicht geschrieben, sondern getippt („It’s typing, not writing.“) Ich glaube, die Beobachtung stimmt, aber in einem anderen Sinn. Die Schreibmaschine sollte einen neuen Stil bringen, der dem amerikanischen Leben näher kam. Die feinsinnigen, komplizierten Romane von Henry James waren offenkundig daran gescheitert, das wilde Herz dieser Neuen Welt auszudrücken. Der Maschine kam in dem neuen Leben eine Bedeutung zu. In gewissem Sinn hatte die Maschine Amerika zur Macht verholfen. Daher war es nur natürlich, dass eine Maschine auch einen neuen Stil schuf. Der Schlitten (besser noch der char, wie man in Quebec sagt) hält erst an, wenn der Tank leer ist. Ebenso wie Kerouacs Roman erst endete, als die lange Papierrolle voll war, auf die der junge Autor drei Wochen lang wie ein Verrückter getippt hatte. Aber Kerouac spielte niemandem etwas vor, das verkannten seine Kumpel (Ginsberg und Burroughs), er passte nicht zur Beatnik-Bewegung, er hasste die kleinen Linken wie Abbie Hoffman. Kerouac war ganz einfach ein guter alter Yankee. Entsetzt darüber, dass sie aus ihm einen Anführer der Beatniks machen wollten, setzte sich der ehemalige Pfadfinder schnell nach Orlando ab (der Stadt Disneys), zu seiner Großmutter. Dort begann er mit dem Widerruf all seiner früheren Glaubensauffassungen (er erinnert ein wenig an Gogol in seinen letzten Jahren) und zerstörte mit dem Alkohol systematisch sein gutes Aussehen. (Kerouac hatte einen schönen, athletischen Körper, ein eckiges Kinn und einen stolzen Blick, er hätte den Marlboro Man der amerikanischen Literatur abgegeben, wenn Hemingway diesen Titel nicht bereits besetzt hätte.) Und unter dem strengen Blick seiner Großmutter beendete er seine Tage in einer kitschbeladenen Wohnung in Orlando. Heute ist es unmöglich, durch Amerika zu fahren, ohne wenigstens einmal an den guten alten Jack zu denken.

Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
342 s. 4 illüstrasyon
ISBN:
9783884236604
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
Metin
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок
Metin
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок
Metin
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок
Metin
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок