Kitabı oku: «Seewölfe Paket 13», sayfa 12

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Er betrat Melanias Haus durch die offenstehende Tür. „Melania?“ fragte er leise. „Bist du auch hier – im Reich der Toten?“

Er konnte nichts erkennen, denn er hatte sein Augenlicht verloren.

10.

Die Schüsse, die in der Ankerbucht der Piratenschiffe gefallen waren, hatten Lord Henry dazu veranlaßt, den Kurs zu wechseln und jetzt dorthin zu steuern, wo sich vielleicht der Seewolf aufhalten mochte.

Als auch oben in den Bergen geschossen wurde, befand sich die „Cruel Jane“ bereits dicht unter Land und rauschte hoch am Wind genau auf die Bucht zu.

„Das muß er sein“, sagte Henry zu Tim Scoby, Dark Joe, Dalida, Mechmed und den anderen, die ihn auf dem Hauptdeck umringten. „Er hat irgend jemanden angegriffen und ist vermutlich dabei, wieder einmal Beute zu reißen. Ein Teil seiner Crew könnte an Land gegangen sein, um ein Fischerdorf zu überfallen. Aber diese Suppe werden wir ihm gründlich versalzen.“

„Ich weiß nicht“, wandte Scoby ein. „Glaubst du wirklich, daß er darauf angewiesen ist, sich mit diesen Insulanern anzulegen, die wahrscheinlich nicht mehr besitzen als die Kleidung, die sie tragen?“

„Er ist ein ausgefuchster Beutelschneider und Galgenstrick“, sagte Henry. „Ein ganz mieser Hund und Schlagetot. Er ist nicht besser als wir, wie er uns zu verstehen geben wollte, sondern viel schlechter. Dafür haben wir jetzt den Beweis.“

Die anderen waren dennoch skeptisch, und es sollte sich gleich herausstellen, daß ihre Zweifel nicht unbegründet waren.

Hinter einer Landzunge, die sich vor die Bucht schob, segelten die Schebekke und die Ghanja hervor und nahmen Kurs auf die „Cruel Jane“.

Dobrans Ausguck auf der „Grinta“ entdeckte die Dreimast-Galeone mit den prall gebauschten Segeln und stieß einen Alarmruf aus.

Dobran stand mit gespreizten Beinen auf dem Achterdeck und schrie: „Das ist er! Er hat unsere Schüsse doch vernommen, hat Unrat gewittert und versucht jetzt, Reißaus zu nehmen! Eröffnet das Feuer! Schießt ihn zusammen!“

Er ließ anluven und als erstes die Buggeschütze der Schebecke und der Ghanja zünden. Mit trockenem Wummern spien die Geschütze ihre Ladungen aus. Wasserfontänen stiegen dicht vor der „Cruel Jane“ auf und fielen wieder in sich zusammen.

Lord Henry stieß einen Fluch aus. „Wer ist dieser Hund? Ist er verrückt geworden, uns ohne jeden Grund anzugreifen?“

Mechmed lauschte dem Geschrei, das von Bord der beiden Zweimaster zu ihnen herübergellte. Plötzlich verstand er, was die Kerle dort drüben sich untereinander zuriefen.

„Es sind Türken“, sagte er zu Henry. „Türkische Seeräuber. Sie wollen uns entern und ausplündern.“

„Hoch die Stückpforten!“ brüllte Henry außer sich vor Wut. „Rennt aus die Geschütze! Diesen Hurensöhnen wollen wir zeigen, mit wem sie es zu tun haben!“

Er ließ weiter anluven, während die Männer an die Kanonen stürzten. Die „Cruel Jane“ drehte ihr Vorschiff in den Südostwind und begann, über Stag zu gehen.

Donnernd entluden die Kanonen der Backbordseite ihre Eisenlast auf die Schebecke und die Ghanja. Die Türken erwiderten das Feuer unter Dobrans hellen Befehlsrufen.

Im Nu lagen die Schiffe im schwersten Gefecht miteinander. Das Grollen der Kanonen dröhnte an den Berghängen zum Dorf Pigadia hoch, wo es von allen Parteien mit Erstaunen und Entsetzen registriert wurde – von den Dorfbewohnern, von den Seewölfen und von Selim und dessen Meute, die sich eben wieder anschickte, Pigadia zurückzuerobern.

Eins der Mädchen trat aus dem Gefängnis und rief Lagios zu: „Zurück, Lagios! Tu diesen Männern nichts an! Sie haben uns befreit, ohne sie wären wir jetzt vielleicht schon tot. Sie haben mit den Piraten nichts zu tun.“

Lagios und seine Helfer blieben verdutzt stehen. Vollends verwirrt waren sie, als sie neben dem Mädchen zwei Jungen unter dem Türpfosten auftauchen sahen, die einander zum Verwechseln ähnelten.

Für einen Augenblick herrschte betretenes Schweigen, dann stieß Philip junior einen warnenden Laut aus. „Dad, Shane, Ferris – hinter euch!“

Der Seewolf und seine Männer fuhren herum, sahen die Gestalten der Kerle, die im grauen Dämmerlicht auf sie zustürmten, und ließen sich auf den Boden sinken.

Selim erschien, um Rache zu nehmen und sich seine Goldbeute wiederzuholen. Neben ihm liefen Osman, Firuz und Ali, hinter ihnen stürmten die anderen und schwangen ihre Waffen.

Das Mädchen zog sich erschrocken wieder ins Haus zurück. Philip und Hasard junior legten mit ihren Schrotflinten auf den Feind an. Selim schoß, dann krachten die Musketen von Osman, Firuz und Ali.

Hasard und seine Männer erwiderten das Feuer – und dann schossen auch Lagios und die Männer des Dorfes über sie hinweg auf die Angreifer.

Selim stürzte, er war am Arm verletzt. Ali überrollte sich zweimal auf dem Pflaster, dann rührte er sich nicht mehr. Firuz warf sich flach hin und entging der für ihn bestimmten Kugel, Osman brachte sich durch einen gewaltigen Satz in Melanias Haus in Sicherheit.

Wieder schossen die Seewölfe, und der Angriff der Türken geriet ins Stocken. Lagios und seine Freunde stürmten vor und brachen in ein zorniges Geschrei aus – und da rappelten sich Selim, Firuz und deren Kumpane schleunigst auf und ergriffen die Flucht zur Bucht. Die Männer von Pigadia hetzten ihnen nach.

In Melanias Haus warf sich Osman auf den mit ausgebreiteten Armen umherirrenden Antos und versuchte, ihm die Kette aus Goldmünzen abzunehmen. Antos schrie auf. Seine Hände schlossen sich um Osmans Kehle. Der Wahnsinn und die Schmerzen, die seinen Geist nun vollends in Besitz genommen hatten, verliehen ihm unbändige Kraft. Osman stach mit seinem Messer auf ihn ein, doch Antos’ Hände lösten sich nicht mehr vom Hals des Glatzkopfes.

„Poseidon“, stöhnte Antos, bevor sein Lebenslicht endgültig erlosch. „Nimm mich mit ins Meer, laß uns schwimmen – schwimmen …“

Er brach neben Osman zusammen, der noch verzweifelt trachtete, sich aus dem mörderischen Würgegriff zu befreien. Erfolglos – neben Antos hauchte auch er sein Leben aus, ehe Hasard, der in diesem Moment Melanias Haus betrat, eingreifen konnte.

Erschüttert blickte der Seewolf auf die Toten, dann drehte er sich wieder zu seinen Männern um

„Ferris, Shane“, sagte er. „Ed, Dan, Donegal – glaubt ihr, daß es die Kanonen der ‚Isabella‘ sind, die da feuern?“

„Dem Klang nach nicht“, erwiderte Shane. „Es sind schwere und leichte Geschütze, aber die Culverinen unserer alten Lady singen doch eine andere Melodie.“

„Mag der Henker wissen, was da los ist“, brummte Carberry. „Was tun wir jetzt, Sir? Ben und die anderen sind bestimmt schon halb verrückt vor Sorge, uns könnte etwas zugestoßen sein.“

„Ich hoffe, daß die ‚Isabella‘ noch in der Bucht liegt“, sagte der Seewolf. „Dan, lauf bitte sofort zu Blacky, Luke und Gray. Sag ihnen, sie sollen die Frauen der Piraten freilassen. Wie ich die Dorfbewohner einschätze, üben sie an ihnen Justiz, wenn sie sie zu fassen kriegen.“

„In Ordnung.“

„Anschließend kehrst du mit Luke zur ‚Isabella‘ zurück und unterrichtest Ben über das, was hier vorgefallen ist. Blacky und Gary sollen zu uns heraufkommen. Wir wollen versuchen, hier einen Baumstamm zu finden, der für den Bau eines neuen Bugspriets geeignet ist. Hinter den Häusern liegt offenbar genug Brennholz herum, vielleicht haben wir Glück und treiben ein Stück auf, das für unsere Zwecke groß genug ist.“

„Ja, gut. Und was ist, wenn sich Ben in Schwierigkeiten befindet?“

„Dann läßt du eine Höllenflasche hochgehen.“

Ferris händigte Dan O’Flynn zwei Flaschenbomben aus, dann verschwand Dan.

Hasard ging mit Shane, Ferris, dem Profos und Old O’Flynn zu dem Haus hinüber, in dem die Mädchen und jungen Frauen gefangengehalten worden waren.

„Wir müssen die Insel so schnell wie möglich wieder verlassen“, sagte er. „Die Atmosphäre hier ist zu heiß, viel zu heiß für meine Begriffe. Ihr versteht schon, was ich meine.“

„Ja“, erwiderte Ferris. „Ein Angriff auf die ‚Isabella‘ könnte bevorstehen. Aber was wird aus den Leuten hier? Selim und dessen Bande könnten noch einmal zurückkehren.“

Philip junior und Hasard junior erschienen in der Gasse, und nun traten auch zögernd die Frauen aus dem Haus.

„Dad“, sagte Philip. „Es scheint ein Versteck im Inneren der Insel zu geben. Dorthin haben sich offenbar die anderen Frauen und die Kinder gerettet. Soviel haben wir jedenfalls aus dem herausgehört, was das eine Mädchen uns erzählt hat.“

„Gut. Das ist die Lösung“, sagte sein Vater. „Wenn die Männer wieder hier sind, sollen sie alle Habseligkeiten zusammentragen und mit den Frauen fortgehen. Sie müssen Pigadia für die nächsten Tage verlassen. Versuche, das dem Mädchen beizubringen.“

Philip und sein Bruder sprachen auf das Mädchen ein. Sie nickte aufgeregt und begann zu gestikulieren, um zu zeigen, daß sie den Vorschlag für annehmbar hielt.

Der Kanonendonner verzog sich allmählich in östlicher Richtung und verlor sich bald in der Ferne, ohne daß Hasard und seine Begleiter oder Ben Brighton und die anderen Männer an Bord der „Isabella“ erfahren hatten, was sich unten vor dem südlichen Ufer von Rhodos ereignet hatte.

Irgend jemand mußte Selims Piraten ins Gehege geraten sein – aber wer? Über diese Frage zerbrach sich Hasard in den folgenden Stunden immer wieder den Kopf.

Lord Henry hatte die Ghanja leckgeschossen. Sie sank, und die Überlebenden sprangen ins Wasser, um sich auf die Schebecke zu retten. Dobran, der auch schon Verluste zu verzeichnen hatte, zog es unter dem massiven Beschuß der englischen Freibeuter vor, die Flucht zu ergreifen – nach Nordosten, um das Ostufer der Insel herum.

Selim und der größte Teil seines Landtrupps waren ins Wasser der Bucht gesprungen und entgingen den letzten Schüssen und Messerwürfen der Männer von Pigadia. Sie schwammen zu den Fischerbooten, die unweit der Landzunge dümpelten, kletterten hinein und pullten auf die offene See hinaus, wo sie durch einen glücklichen Zufall mit der Schebecke zusammentrafen und es auch schafften, an Bord zu entern, ehe Lord Henry mit der „Cruel Jane“ gewendet hatte und die Verfolgung aufnahm.

Jella und die zehn anderen Frauen flohen zum Westufer der Insel Rhodos und fanden eine Höhle, in der sie vorläufig unterschlüpfen konnten. Ihr Aufenthalt auf der Insel sollte jedoch nicht mehr von langer Dauer sein.

Lord Henry jagte die Schebecke „Grinta“, um sich von den türkischen Piraten die Schätze zu holen, die er an Bord ihres Zweimasters zu finden hoffte.

Am frühen Morgen, als die Männer und Frauen von Pigadia damit begannen, die Evakuierung ihres Dorfes vorzunehmen, kehrten Hasard, Big Old Shane, Ferris Tucker, Carberry, Blacky, Gary Andrews, Old O’Flynn und die Zwillinge an Bord der „Isabella“ zurück. Ein passendes Stück Pinienholz, aus dem sie einen neuen Bugspriet herstellen konnten, hatten sie gefunden – und das genügte ihnen.

Sie gingen wieder in See, um weiteren Ärger zu Vermeiden, obgleich Lagios und dessen Freunde sie darum gebeten hatten, ihre Gäste zu sein.

Als die „Isabella“ ihre Ankerbucht verließ und nach Süden absegelte, blickte Hasard zurück zur Insel.

„Ich glaube, wir hätten auf Rhodos noch echte Gastfreundschaft kennengelernt“, sagte er. „Aber es ist besser, keine Zeit mehr zu verlieren. Und ich halte es auch für taktvoller, die Leute von Pigadia in ihrer Trauer um die Toten sich selbst zu überlassen.“

Er ahnte nicht, daß er einer neuen Begegnung mit seinem Todfeind Lord, Henry nur durch eine Laune des Schicksals entgangen war …


1.

Die Nacht war hereingebrochen und hatte ihren grauschwarzen Schleier über die zerklüftete Felsenlandschaft des Taurus ausgebreitet. Nur selten tauchte der Mond zwischen den vorüberziehenden Wolken auf und warf sein fahles Licht über die wilde, bizarre Landschaft, die sich an der türkischen Südküste, zwischen dem Golf von Antalya und Adana, entlangzog.

Man schrieb das Jahr des Herrn 1591.

Schon vor Wochen hatte der Winter damit begonnen, den Spätsommer zu verdrängen. Öfter als sonst waren peitschende Regengüsse niedergegangen, als wollten sie die schroffen Berggipfel freispülen vom Staub der vergangenen Jahrhunderte. Auch jetzt, in der Mitte des Monats Dezember, wehte eine frische Brise aus westlicher Richtung und ließ die wenigen Menschen, die dieses unwirtliche Gebiet bewohnten, frösteln. Trotzdem war das Klima der Wintermonate als mild zu bezeichnen, wie meist in den Küstengegenden des Mittelmeeres.

Sobocan zuckte unwillkürlich zusammen, als die nächtliche Stille urplötzlich von erregtem Stimmengewirr unterbrochen wurde.

Zunächst hatte es den Anschein, als würden sich die Männerstimmen nähern, doch niemand erschien an der rohgezimmerten Holztür des Verlieses, in das man ihn – die Hände und Füße mit derben Stricken zusammengebunden – eingesperrt hatte.

Es war fast völlig dunkel in dem muffig riechenden Gewölbe. Nur der trübe Schein des Mondes fiel hoch oben durch eine winzige Maueröffnung und zeichnete gelbliche Muster auf die verwitterten Steinquadern.

Der Geruch von Feuchtigkeit überlagerte den Raum, und der junge, etwa fünfundzwanzigjährige Mann mit den dunklen Haaren und dem markanten, sonnengebräunten Gesicht, hatte das Gefühl, für alle Ewigkeiten in eine finstere Grabkammer verbannt worden zu sein.

Sobocan, der junge Türke, war ein drahtiger Bursche. Seine Kleidung war teilweise zerfetzt. Von seinen nackten Füßen ausgehend, kroch langsam eine feuchte Kälte über seinen Körper. Sein Rücken brannte wie Feuer. Die Neunschwänzige Katze, die gestern an Bord der „El Jawhara“ zwanzigmal auf seine braune Haut geklatscht war, hatte blutige Spuren hinterlassen.

Angestrengt lauschte Sobocan in die Nacht.

Das Stimmengewirr hatte sich gesteigert und ging nun in einen eigentümlichen, monotonen Gesang über. Er konnte sich lebhaft vorstellen, was da draußen auf dem Innenhof der ehemaligen Seldschuken-Festung geschah. Irgendwo, ganz tief in seinem Inneren, ahnte er, was das für ihn zu bedeuten hatte.

Unwillkürlich glitten seine Blicke über die schroffen Mauern seines Gefängnisses, und immer wieder blieben sie auf dem kleinen Lichtfleck haften, den der Mond hereinwarf. Aber die Maueröffnung, die einer Schießscharte glich, war zu klein. Kein menschlicher Körper, und sei er noch so dünn und mager, würde sich jemals durch diesen schmalen Schlitz zwängen können. Der einzige Weg in die Freiheit lag dort hinter den dicken Holzbohlen der Tür. Und diese war verriegelt und höchstwahrscheinlich bewacht.

Ein bisher unbekanntes Gefühl der Ohnmacht überfiel Sobocan. Wie sollte es ihm jemals gelingen, diese Tür zu öffnen? Selbst wenn ihm das gelang, würden ihm blanke Krummsäbel und scharfe Dolche den Weg in die Freiheit versperren – oder ihn sogar in jenes Paradies befördern, das Allah seinem Propheten Mohammed offenbart hatte.

Sobocan nagte zweifelnd an seiner Unterlippe.

Wäre es in diesem Paradies, von dem die Imame in den Moscheen immer wieder erzählten, nicht viel schöner und angenehmer als hier in diesem feuchten, muffigen Gemäuer, wo man ihn jederzeit herausholen konnte, um ihm mit einem Schwert den Kopf abzuschlagen?

Die Gedanken hinter Sobocans Stirn begannen sich zu jagen, bis er plötzlich wieder an Slobodanka, jenes hübsche, schlanke Geschöpf dachte, das er so sehr liebte. Die Ungewißheit darüber, ob er das Mädchen jemals wiedersehen würde, jagte ihm kalte Schauer über den zerschundenen Körper.

Nein, das Paradies, das der Prophet Mohammed verkündet hatte, war wohl doch nichts für ihn. Es war nichts Greifbares, und er fühlte sich unendlich weit davon entfernt. Und wenn es dem Willen Allahs entsprach, ihn zu einem zufriedenen und glücklichen Menschen zu machen, dann mußte er ihm die Möglichkeit verschaffen, auf dieser Erde zu bleiben – hier in dem wilden, gebirgigen Teil seiner Heimat, in dem die Felsen fast bis ins Wasser des Mittelmeeres ragten. Mit dieser Landschaft war er verwachsen. Hier war er Slobodanka zum erstenmal begegnet. Seitdem schlug sein Herz höher, wenn er an sie dachte.

Sobocan wälzte sich zur Seite. Das monotone, rhythmische Singen war lauter geworden. Das sich ständig wiederholende „Dhikr“ und das Hersagen der mystischen Formel „Yah Allah“ beschleunigten sich, und nackte Fußsohlen stampften dazu in gleichbleibendem Rhythmus auf den Lehmboden des Hofes.

Eine merkwürdige Erregung packte Sobocan. Sein Atem ging unwillkürlich rascher als sonst. Er fühlte, daß das Schicksal eine folgenschwere Entscheidung über ihn fällen würde, eine Entscheidung über Leben und Tod.

Das unruhige Flackern der Fakkeln tauchte den Innenhof der Ruine in ein gespenstisches Licht. Das blanke Metall der Dolche und Stichwaffen, die rundum an den Wänden hingen, glitzerte im Schein des Feuers, das in der Mitte des Hofes aufloderte und gleichzeitig einen betäubenden Duft verbreitete. Es war der Geruch von Weihrauchkörnern und Gewürzkräutern, der den Schauplatz des merkwürdigen Rituals überlagerte.

Eine Schar Derwische des Mewlewija-Ordens, eine mystisch-islamische Sekte von Bettelmönchen, hatte sich in lange, helle Gewänder gehüllt, die an den Hüften durch breite Ledergürtel zusammengehalten wurden. Dazu trugen sie hohe, kegelförmig zulaufende Hüte und bewegten sich in einem ekstatischen Wirbeltanz um das Feuer.

Der monotone Gesang der Derwische wurde plötzlich durch einige schrille Schreie unterbrochen, die ein einzelner Mann ausstieß. In seinen Augen lag ein fast überirdischer Glanz, als er seinen Wirbeltanz etwas verlangsamte. Sein Blick schien in unendliche Weiten gerichtet zu sein.

Der Mann stand einen Augenblick still, dann ging er mit langsamen Schritten zu einer Seitenmauer des Hofes hinüber und nahm einen langen Degen von der Wand. Damit ging er zum Feuer in der Mitte des mystischen Kreises, riß den Mund weit auf – und stieß sich langsam die Klinge der Waffe durch die rechte Wange, bis sie auf der linken Gesichtshälfte wieder heraustrat.

Der Derwisch, der sich im Zustand der Ekstase befand, zuckte nicht einmal zusammen. Kein Blutstropfen rann über sein bartloses Kinn. Er schien jenen Zustand erreicht zu haben, den alle Derwische durch ihre verschiedenartigen Rituale anstreben, nämlich die Begegnung und das Einssein mit Allah. So sollte auch der Stich mit dem Degen veranschaulichen, daß in einer solchen tranceartigen Verzückung alles Körperliche bedeutungslos wurde.

Als die anderen Derwische sahen, was geschah, steigerten sie ihren Gesang, der schließlich in heulende Klagetöne umschlug. Auch sie wollten so rasch wie möglich diesen Zustand erreichen, um – wie sie glaubten – mit Allah zu verschmelzen.

Nur einer der Männer schien das Diesseits, die Welt der Realitäten, nicht aus den Augen zu verlieren. Er tanzte zwar auch, aber seinem stechenden Blick schien absolut nichts zu entgehen.

Es handelte sich um Ibrahim Salih, das Oberhaupt der Derwische.

Bereits vor einigen Jahren war auf sein Betreiben hin innerhalb des Mewlewija-Ordens eine Spaltung erfolgt, nach der er sich mit einer Schar von Getreuen in die Einsamkeit der alten Seldschuken-Festung, die direkt in den Felsen der türkischen Südküste lag, zurückgezogen hatte.

Aber Ibrahim Salih, ein früherer Pirat, hatte es trotz aller fanatischen Frömmigkeit bald satt, das asketische Leben eines Bettelmönches zu führen. Es lebte sich viel einfacher, wenn man sich nahm, was man brauchte – und vielleicht sogar noch etwas mehr. So hatten sich mit der Zeit auch die Vorratsräume der Ruine gefüllt, die man durch den Anbau eines Minaretts in eine Moschee umgewandelt hatte.

Ibrahim Salih war ein großer, hagerer Mann mit dichtem Bart und auffallender Hakennase. Seine Gesichtsfarbe wirkte fahl, seine Augen blickten hinterhältig und verschlagen. Auch jetzt ließ er seine Blicke mit einem kalten Grinsen in die Runde schweifen.

Offenbar war der Zeitpunkt jetzt günstig für sein Vorhaben. Er sprang urplötzlich mit einem lauten Schrei in den Kreis der tanzenden Derwische. In seiner rechten Hand lag wie hineingezaubert ein Krummsäbel, den er mehrmals durch die Luft zischen ließ.

„Bringt ihn her!“ schrie er wild. „Holt ihn! Er soll hören, wessen er angeklagt ist!“

Das ekstatische Singen und Tanzen brach unvermittelt ab. Während die Blikke einiger Derwische erkennen ließen, daß sie noch in anderen Welten weilten, blickten die anderen keuchend und außer Atem zu ihrem Oberhaupt hinüber.

„Warum gerade jetzt?“ fragte ein kleiner, rundlicher Mann, mit unwilligem Gesicht. Das härene Gewand reichte ihm bis auf die nackten Füße. „Hat das nicht bis später Zeit? Der Hund wird uns nicht davonlaufen.“

„Halt den Mund, Naci!“ gab Salih unwirsch zurück. „Jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Der Fluch Allah wird uns treffen, wenn wir diese Ratte länger in unserer Nähe dulden. Holt ihn!“

Niemand wagte mehr einen Widerspruch. Sie kannten schließlich die Anfälle von Jähzorn, die ihren Führer von Zeit zu Zeit heimsuchten. Außerdem: wenn Allah ihm gezeigt hatte, daß jetzt der richtige Zeitpunkt war, dann muß-te es eben sein.

Es dauerte nicht lange, und zwei der Derwische kehrten mit Sobocan in ihrer Mitte in den Schein der Fakkeln und des mystischen Feuers zurück.

Das Hemd über der Brust des jungen Türken war zerfetzt. Auf dem Rücken war es mit Blut durchtränkt. Die Segeltuchhose endete direkt unterhalb der Knie, auch sie hatte schon bessere Zeiten erlebt. Sein schwarzes Haar wirkte strähnig, seine Hände waren nach wie vor auf den Rücken gebunden. Erwartungsvoll richtete sich sein Blick auf die gespenstischen Gestalten, die einen Kreis um ihn zu bilden begannen.

In seinen Augen lag ein entschlossener Ausdruck. Nein, Angst hatte Sobocan nicht. Wenn Allah bestimmt hatte, daß er heute sein Leben lassen sollte, dann konnte er nichts dagegen tun. Nur der Gedanke an Slobodanka erfüllte ihn mit einer stillen Wehmut.

Obwohl die Atmosphäre, die die Derwische umgab, alles andere als angenehm war, empfand Sobocan die plötzliche Wärme, die das hochauflodernde Feuer in seiner Nähe abgab, als wohltuend. Seine kalten, steifen Glieder begannen sich langsam zu erwärmen.

Totenstille war eingetreten. Keiner der Derwische tanzte mehr oder sang den monotonen „Dhikr“ vor sich hin. Alle blickten gespannt auf Ibrahim Salih, ihren Führer.

„Naci“, sagte dieser nun zu dem kleinen, rundlichen Mann, der außer ihm der einzige war, der des Lesens und Schreibens kundig war. „Bringe den Koran. Und dann lies laut vor, was im dritten Vers der vierundzwanzigsten Sure geschrieben steht. Dieser Hund, der da vor uns steht, soll seine Ohren weit öffnen, und er soll auf die Knie gehen, wenn das Wort Allahs an ihn ergeht!“

Während Naci dienstbeflissen den Koran herbeiholte, wurde Sobocan von seinen Bewachern in die Knie gezwungen.

Naci begann mit lauter Stimme vorzulesen: „So wurde dem Propheten zu Medina offenbart: Eine Hure und einen Hurer sollt ihr mit hundert Schlägen geißeln. Laßt euch nicht, diesem Urteil Allahs zuwider, von Mitleid gegen sie einnehmen, wenn ihr an Allah und den Jüngsten Tag glaubt. Einige Gläubige sollen ihre Bestrafung bezeugen.“ Nachdem er geendet hatte, blickte er abwartend zu Salih hinüber.

„Hast du es gehört, du Ratte?“ fragte Ibrahim Salih zu Sobocan gewandt. In seinen stechenden Augen lag ein merkwürdiger Glanz, als er fortfuhr: „Du hast Slobodanka, die Tochter unseres Wohltäters Barabin in den Dreck gezogen. Ja, du Hund, du hast dich an das Mädchen herangepirscht, und dafür wirst du die hundert Schläge erhalten, von denen der Prophet gesprochen hat.“

Einen Moment wirkte Sobocan wie erstarrt. Hundert Schläge! Erst gestern hatte er zwanzig Hiebe mit der Neunschwänzigen erhalten. Kämen jetzt noch weitere hundert dazu, dann würde das auch der stärkste Mann nicht verkraften. Es wäre das sichere Ende. Und außerdem: Was hatte er Slobodanka getan? Sie liebten sich, das war alles. Nie hatten sie etwas getan, was gegen die Gebote Allahs und seines Propheten verstoßen hätte.

Rasch sprang der junge Mann auf.

„Was du gesagt hast, ist eine Lüge!“ rief er mit lauter Stimme. „Eine elende Lüge! Und Allah wird auch die Lügner eines Tages bestrafen. Ich habe Slobodanka mit keinem Finger angerührt. Ja, ich liebe sie, und sie liebt mich. Und ich habe Barabin gebeten, mir seine Tochter zur Frau zu geben. Ist das vielleicht ein Unrecht? Auch du, Salih, hast nicht das Recht, Gutes in Böses zu verwandeln!“

„Schweig, du Hund!“ brüllte das Oberhaupt der Derwische mit haßverzerrtem Gesicht. „Sei still, oder ich lasse dir augenblicklich den Kopf abschlagen!“

Seine Augen funkelten tückisch, als er sich Naci zuwandte.

„Lies weiter“, sagte er. „Wir wollen aus der neunten Sure des Korans den einundvierzigsten Vers hören.“

Eilig küßte Naci den Koran, bevor er mit lauter und hoher Stimme zitierte: „Zieht in den Kampf, leicht und schwer, und kämpft mit Gut und Blut für die Religion Allahs; dies wird besser für euch sein, wenn ihr es nur einsehen wollt.“

Nachdem Naci verstummt war, legte Ibrahim Salih eine kurze Pause ein, um die Wirkung seiner Worte zu erhöhen. Er verfolgte sein Ziel mit eiskalter Präzision.

„Mit Gut und Blut haben wir für die Religion Allahs zu kämpfen“, sagte er zu Sobocan. „Und was hast du vor zwei Tagen getan, als die ‚El Jawhara‘ die ungläubigen Hunde samt ihrem Schiff vernichtet hat? Du hast feige den Schwanz eingezogen und Barabin, deinen Kapitän, sogar noch einen Meuchelmörder genannt. Du bist ein Verräter! Jawohl, ein ganz elender Verräter! Und als solcher wirst du sterben, und zwar gleich im ersten Morgengrauen. Allah sei mein Zeuge, daß ich dieses Urteil in seinem Auftrag gesprochen habe.“

Wieder bäumte sich Sobocan auf, aber gegen die Übermacht der Derwische konnte er nichts ausrichten.

„Auch das ist eine üble Verleumdung!“ schleuderte er Salih entgegen. „Ich bin kein Verräter, aber Barabin ist ein Meuchelmörder, er hat die Besatzung des venezianischen Schiffes mit eurer Hilfe in einen Hinterhalt gelockt. Alle Männer mußten sterben, obwohl das nicht nötig gewesen wäre, um die Beute zu übernehmen.“

„Schweig!“ brüllte Ibrahim Salih und hob drohend den Krummsäbel, den er noch immer in der Hand hielt.

Doch Sobocan fuhr unbeirrt fort: „Und nun öffne du deine Ohren, Salih. Wie Naci vorgelesen hat, sollen die Gläubigen mit Gut und Blut für die Religion Allahs kämpfen. Bei dem hinterhältigen Morden, das Barabin mit deiner Hilfe betrieben hat, ging es aber nicht um die Religion, sondern um fette Beute, und damit um die Befriedigung eurer Gier und Habsucht. Allah wird euch dafür bestrafen, er wird euch …“

Weiter gelangte Sobocan nicht. Ein gewaltiger Fausthieb streckte ihn nieder. Das Feuer vor seinen Augen begann zu tanzen, dann griff eine kalte Dunkelheit wie mit tödlichen Klauen nach ihm.

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