Kitabı oku: «Die jüdischen Salons im alten Berlin», sayfa 3

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2 Gesellschaftsstruktur


Rahel Levin

Preußische Widersprüche

Berlinbesucher, die vor zwei Jahrhunderten ihre Reiseeindrücke publik machten, schildern die städtische Szenerie meist in enthusiastischen Farben. Die Fremden waren besonders beeindruckt von den stattlichen Palais, dem neuen Opernhaus und den geschmackvoll gekleideten Spaziergängern auf der großzügig angelegten Allee Unter den Linden oder im Tiergarten. Ihre Beobachtungen galten ihnen als hinreichende Beweise für das Wohlergehen der ganzen Stadt. Viele ihrer in Berlin lebenden Zeitgenossen stimmten mit ein in die Lobeshymnen, und Lokalberichterstatter, die sich mehr mit den sozialen Beziehungen als mit der äußeren Gestalt der Stadt beschäftigten, entwarfen ein Bild gesellschaftlicher Harmonie, demzufolge dem Adel gemeinhin mit unterwürfiger „Hochachtung und Liebe“ begegnet wurde und Adlige und Bürgerliche denselben Vergnügungen nachgingen. Von den Wohlhabenden heißt es, daß sie ihre Garderobe weniger als anderswo zur Schau stellten, und selbst wenn die Existenz einer „Classe reicher Müßiggänger“ eingeräumt wurde, so betonte man doch sogleich, daß deren Zahl eher „unbedeutend“ gewesen sei. Besonders überschwänglich wurde die angebliche soziale Gleichheit gelobt; das Gesellschaftsleben habe buchstäblich jedem, gleich welchen Standes, offengestanden. Und in Abgrenzung von den deutschen Handelsstädten heißt es: „Berlin unterscheidet sich auch von den Städten, wo nur der Gelehrte, der Künstler, der betitelte ... Mann gesucht, alle andern hingegegen vergessen, vernachlässigt oder herabgesetzt werden. Man weiß von keinem Vorzuge als von dem, welchen Tugend, Rechtschaffenheit und große und erhabene Einsichten gewähren. Des tugendhaften und rechtschaffenden Mannes Gesellschaft wird gesucht, er mag Jude oder Christ, Rat, Doktor, reich oder arm sein.“

Aber nicht alle Beobachter gaben sich damit zufrieden, daß die Stadt einen äußerlich guten Eindruck machte und das gesellschaftliche Leben oberflächlich intakt schien. Lakonisch urteilte ein Besucher: „Wo man hinblickt, ist Armuth und Noth, aber mit einem glänzenden Firniß überzogen.“ Und Georg Forster fand nach seinem Besuch 1779 bittere Worte: „Ich hatte mich in meinen mitgebrachten Begriffen von dieser großen Stadt sehr geirrt. Ich fand das Äußerliche viel schöner, das Innerliche viel schwärzer, als ich mir gedacht hatte. Berlin ist gewiß eine der schönsten Städte in Europa. Aber die Einwohner!“ Gutaussehende Häuser waren bei näherer Betrachtung oft heillos überfüllt, die breiten Straßen vor den imposanten Palais waren nachts schlecht beleuchtet und vor allem im Frühjahr mit Schlamm bedeckt, und kein schöner Anblick bot sich dem, der sich in die neuen Vorstädte begab, die zusammen mit Kasernen und Militärbaracken außerhalb der Stadtmauern aus dem Boden gestampft worden waren.

Daß sich die Verhaltensweisen der Menschen über Standesgrenzen hinweg einander annäherten, wurde, je nach Standpunkt des Beobachters, begrüßt oder bedauert. Schon 1760 klagte der Kammerherr der Königin, Graf von Lehndorff, darüber, daß der Konsum von Genußmitteln längst nicht mehr das alleinige Privileg der Aristokratie sei. Einen Stein des Anstoßes boten auch die Tiergartenpromenaden, die gerade jüdischen Frauen die Gelegenheit zur Begegnung mit nichtjüdischen Männern boten: Dieser „Lustgarten“, vormals der „Sammelplatz der sogenannten schönen und vornehmen Gesellschaft“, diene nunmehr den „galanten Jüdinnen ... denen zu gefallen mancher junge Stutzer hingeht“. Jüdische Frauen waren jedoch keineswegs die einzigen Berliner, die durch ihr Verhalten die traditionelle gesellschaftliche Rangordnung verletzten und deshalb angegriffen wurden. Bürgerliche Frauen, die durch luxuriöse Anschaffungen den Lebensstil der Oberschicht nachzuahmen suchten, wurden beschuldigt, ihre Familien zu ruinieren. Nicht mehr als achthundert Taler im Jahr verdienende Ehemänner beklagten sich über die von ihren Frauen gewünschten Reif röcke, Seidenkleider und Empfangszimmer. Von einfachen Perückenmachern und Schneidern hieß es, daß sie sich „in gestickten und betreßten Kleidern“, die einst nur ihren vornehmen Kunden vorbehalten waren, „unter Leute von Stand mischten“.

In solchen Kommentaren aus den letzten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts, die das Undeutlichwerden der sozialen Schranken entweder feierten oder denunzierten, spiegelten sich die Resultate einer zutiefst widersprüchlichen Politik des Staates. Im 17. und 18. Jahrhundert bestand das Hauptziel der preußischen Regenten darin, das Land in eine europäische Großmacht zu verwandeln – eine gewaltige Aufgabe, wenn man die begrenzten geographischen und gesellschaftlichen Ressourcen bedenkt, die dem Staat zunächst zur Verfügung standen. Um dieses Ziel zu erreichen, führte Friedrich der Große (1740–1786) zahlreiche Eroberungskriege und baute eine riesige Armee und einen funktionierenden Verwaltungsapparat auf. Die religiöse Toleranz der Könige ermöglichte eine flexible Einwanderungspolitik, die mit zum Aufstieg Preußens beitrug. Um die industrielle Entwicklung zu fördern, hatte das Land im Jahre 1685 aus Frankreich vertriebene hugenottische Handwerker aufgenommen. Gleichfalls wurden reiche Juden, die 1671 aus Wien vertrieben worden waren, nach dem kapitalbedüftigen Preußen gerufen, um sich dort als Händler niederzulassen. Doch waren dieselben tatkräftigen Monarchen, die Preußen zur Großmacht ausbauten, zugleich leidenschaftliche Anhänger und Bewahrer einer überkommenen Gesellschaftsordnung, deren Leitprinzip das uneingeschränkte Privileg des Adels auf Grundbesitz bildete.

Dieses Spannungsverhältnis zwischen aktiver Erneuerung und sozialer Unbeweglichkeit gehörte wesentlich zur preußischen Politik in diesen beiden Jahrhunderten. Ironischerweise war es dieser Widerspruch zwischen Reform und Festhalten an Althergebrachtem, der jene geographische und soziale Mobilität hervorbrachte, welche eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung der Salons war. Bot die Zusammensetzung der Salongäste ein miniaturhaftes Abbild der außergewöhnlichen Heterogenität der Berliner sozialen und kulturellen Elite, so war dieselbe Heterogenität nicht zuletzt ein Ergebnis der Widersprüche preußischer Staatsräson.

Wäre Berlin nämlich nicht der Sitz des Hofes dieser tatkräftigen Monarchie gewesen, so hätten hier kaum so viele fremde und einheimische Staatsbeamte ihre neue Heimat gefunden. Hätte die Monarchie den Armee- und Staatsdienst für den Adel nicht attraktiver gemacht, so wären die preußischen Junker kaum aus der Provinz nach Berlin gezogen. Ohne die vom Großen Kurfürsten in Preußen aufgenommenen Hugenotten hätten sich die französiche Sprache und die verschiedenen französischen Moden, französisches Gedankengut und französische Bildungsideale nicht so leicht in Berlin ausbreiten können. Ohne die in Preußen angesiedelten jüdischen Familien hätten deren Nachkommen – die gebildeten jüdischen Salonières – nicht die Initiative zur Gründung von Salons ergreifen können. Und ohne die Aktivitäten des Königs und des Adels auf geistigem und kulturellem Gebiet wären nicht so viele aufstrebende Intellektuelle in die Stadt gekommen, um sich dort als Hofmeister oder Schreiber, als Hilfsprediger oder freie Schriftsteller, als Buchhändler oder Verleger niederzulassen.

Adlige und Hugenotten, Juden und Intellektuelle zogen nach Berlin. Die Stadt und Preußen insgesamt erlebten einen rapiden Bevölkerungszuwachs. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts schien die winzige Hauptstadt des armen und obskuren Kurfürstentum Brandenburg noch keines besonderen öffentlichen Kommentars für würdig befunden. Preußen erholte sich von den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges; Berlin hatte im Jahr 1700 nicht mehr als 24000 Einwohner. Doch mit dem Zugewinn an politischer Macht wuchsen die Gebiete und die Bevölkerung. Das Kurfürstentum Brandenburg wurde zum Königreich erhoben, und durch Kriege und Annexionen dehnte der neue Staat sein Territorium beträchtlich aus. Mit dem Sieg über die österreichische Kaiserin Maria Theresia gewann Friedrich der Große 1740 Schlesien hinzu, und Preußen sicherte sich bei allen drei polnischen Teilungen einen gewichtigen Anteil. Als Ergebnis preußischer Einwanderungs- und Annexionspolitik stieg die Zahl der Einwohner von 2,5 Millionen im Jahre 1740 auf 5,5 Millionen im Jahre 1786. Noch gravierender war das Bevölkerungswachstum in Berlin, das sich zwischen 1700 und 1800 versechsfachte. In einer Zeit, in der auch viele zweitrangige Städte rapide anwuchsen und die Bevölkerungszahlen dort die 100000 überschritten, wuchs Berlin schneller als jede andere mitteleuropäische Stadt. Am Ende des Jahrhunderts brachte es Berlin auf 172000 Einwohner und war damit die größte Stadt Deutschlands.

Warum wuchs Berlin so rasend schnell? Hohe Geburtenraten waren in den Städten des 18. Jahrhunderts insofern keine entscheidenden Wachstumsfaktoren, als die Sterberaten gewöhnlich weitaus höher lagen. Schneller als durch die Zunahme der Geburten wurden diejenigen, die an den Mißständen städtischer Lebensweise – Hygienemangel, Infektionen und Überbevölkerung – starben, durch Zuzügler aus ländlichen Regionen ersetzt. Mit Maßnahmen zur Verbesserung der städtischen Lebensqualität versuchten die Preußenkönige die hohe Sterblichkeit einzudämmen. Die lokalen Verwaltungen wachten über die Einhaltung der Verordnungen zur Reinhaltung der Stadt, welche das Halten von Schweinen vor den Häusern, das Müllabladen in Marktvierteln sowie das Ausleeren von Nachttöpfen auf die Straße untersagten. Um 1770 hatten sich die staatlichen Anstrengungen, die Berliner von solchen Gewohnheiten abzubringen, offenbar bezahlt gemacht, denn endlich übertraf die Geburtenrate der Stadt ihre Sterblichkeitsrate. 1786, beim Tod Friedrichs des Großen, war die Bevölkerung so stark angewachsen, daß eine gravierende Wohnungsnot eintrat. Vielen zwei-und dreistöckigen Häusern wurde deshalb eine Etage hinzugefügt, während andere durch viergeschossige Häuser ersetzt wurden.

Berlin wuchs auch deswegen, weil es eine Hofstadt war. Ähnlich der Entwicklung in anderen deutschen Fürstentümern gelang es auch der preußischen Hohenzollern-Dynastie, die Macht der Zunft- und Handelsstädte zu brechen. Die Blüte der Hofstädte war mit dem Niedergang der freien Handelsstädte verbunden. Die Hofstädte Wien, Berlin, Dresden, München und Mannheim verzeichneten im 18. Jahrhundert viel höhere Wachstumsraten als die Handelsstädte, von denen manche sogar schrumpften. Stieg die Bevölkerungszahl in den genannten Hofstädten um durchschnittlich 340 Prozent, so sank sie in Nürnberg gleichzeitig um 33 Prozent, während sie in Hamburg, Frankfurt am Main und Leipzig im selben Zeitraum nur um durchschnittlich 52 Prozent wuchs.

Die administrativen Aufgaben des Staates und die Selbstdarstellungsbedürfnisse des Hofes zogen Beamte und Hofaspiranten an. Schreiber, Sekretäre, Hofmeister, Hausangestellte, Ladenbesitzer und Handwerker gingen in die Hofstädte, um in den Dienst von Regierungsbeamten und Höflingen zu treten. Aber warum wuchs Berlin so viel schneller als die übrigen mitteleuropäischen Hofstädte? Ein Grund dafür war, daß hier die Hauptgarnison der zahlenmäßig ungeheuer großen preußischen Armee stand, ein weiterer, daß Berlin sich zu einem Manufaktur- und Bildungszentrum entwickelte und sich somit als Magnet für manuelle wie für intellektuelle Arbeitskräfte erwies. Andere wichtige deutsche Städte konzentrierten sich zumeist auf eine einzige ökonomische Funktion und brachten deshalb nur eine relativ homogene Führungsschicht hervor. Lübeck, Hamburg und Bremen waren auf den Überseehandel spezialisiert, Frankfurt am Main, Nürnberg und Augsburg auf die Herstellung und den Verkauf von handwerklichen Produkten, und Städte wie Göttingen oder Leipzig waren vor allem für ihre Universitäten oder Verlage berühmt. In den Hofstädten München, Dresden und Mannheim setzte sich die lokale Elite vorrangig aus Regierungsbeamten zusammen. Berlin nahm eine Sonderstellung ein, weil die Stadt, neben Beamten und Finanziers, noch eine breite Intellektuellenschicht besaß.

Vor 1780 war die Bevölkerung Berlins nicht heterogen durchmischt. Jeder Stand, jede religiöse Minderheit und jede Berufsgruppe arbeitete, lebte und heiratete fast nur innerhalb des engeren Umkreises familiärer Bindungen. Die Heiratspraxis, derzufolge Ehen nur innerhalb einer ethnisch, religiös oder sozial homogenen Gruppe oder Kaste geschlossen wurden – Endogamie genannt –, entsprach der Staatsräson. Christen und nichtkonvertierte Juden konnten keine Ehen miteinander eingehen, weil es keine standesamtlichen Trauungen gab. Unter Beamten führten gemeinsame Bildungswege und gleiche Einkommensstufen zu kastenartigen Verhaltensweisen.

Das endogame Muster zeigt, daß der Thron die überkommene Gesellschaftsordnung mit Erfolg aufrechtzuerhalten vermochte. Eine kleine importierte jüdische Bourgeoisie beherrschte den merkantilen Sektor, sorgte für Verbesserungen im Bankwesen, im Handel und in der Manufaktur, ohne daß dadurch der Wohlstand des einheimischen Bürgertums wuchs. Während es der preußischen Monarchie so einerseits gelang, die ökonomische Entwicklung voranzutreiben, versuchte sie zugleich, jeglichen Wettbewerb innerhalb der nichtjüdischen Gesellschaft zu verhindern, weil dieser die Vormachtstellung des Adels gefährdet hätte. Solange der Grundbesitz die gewinnbringendste Einkommensquelle war und weiterhin ausschließlich dem Adel vorbehalten blieb, beruhte dessen privilegierter Status auf einer soliden finanziellen Basis. Und solange die Juden – die einzige verhältnismäßig reiche soziale Gruppierung neben dem Adel – gesellschaftlich verachtet, politisch entrechtet und dazu noch einer starren Kastenordnung unterworfen waren, gerieten ökonomische Entwicklung und gesellschaftliche Stabilität nicht miteinander in Widerstreit.

Dies änderte sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Fortschritt und Reaktion – das monarchische Doppelziel – ließen sich immer weniger miteinander vereinbaren. Eine neuartige soziale Mobilität sorgte allmählich für die Auflösung der überkommenen Standesgrenzen. Der Adel stand vor schwerwiegenden Problemen, die sein ständisches Überleben in Frage stellten.

Der Adel

Über die Jahrhunderte hinweg bewies der preußische Adel einen erstaunlichen Überlebensinstinkt und genoß bis zum Zusammenbruch der Monarchie im Jahre 1918 deren Rückendeckung. Vom 16. Jahrhundert an hatten die Junker gelernt, die Getreideproduktion zu organisieren und vom Verkauf des Getreides auf dem Weltmarkt zu profitieren. Die Junker hatten die Vorherrschaft über den florierenden Agrarsektor und besaßen starken Einfluß auf den Thron, der sie bei der Besetzung hochdotierter Armee- und Staatsfunktionen bevorzugte. Und selbst nach 1807, als die gravierendsten Formen der Leibeigenschaft beseitigt worden waren, behielten die Junker das uneingeschränkte Verwendungsrecht über die landlosen bäuerlichen Arbeitskräfte.

Gewiß waren die Junker längst nicht so reich wie manche englischen Großgrundbesitzer, und sie besaßen ein geringeres kulturelles Niveau als ihre französischen Standesgenossen. Doch auf lange Sicht waren weder Reichtum noch kultureller Glanz entscheidend; im Gegenteil ließ gerade die verhältnismäßige Bescheidenheit ihrer Situation die Junker mächtiger werden. Anders als der von seinen Gütern gewöhnlich abwesende französische Adel, verwalteten die meisten Junker ihre Besitztümer selber. Die Vormachtstellung des Adels über die Bauern wurde durch seine Rechtshoheit und militärische Autorität verstärkt. Auch im 19. Jahrhundert bedrohten weder die Bauern noch der Thron die wichtigsten Privilegien der Junker. Solange deren Getreide billiger war als das Getreide aus anderen Ländern, blieb die ostpreußische Landwirtschaft ein entscheidender Wachstumsfaktor, der jedoch die Industrialisierung des Landes hinauszögerte. Das war damals noch nicht so deutlich absehbar, und die Preußenkönige und ihre Bürokratie folgten der Devise, demzufolge all das, was dem Adel nützlich war, auch der ökonomischen Entwicklung des Landes zugute kommen würde.

Dennoch war die Machtstellung der Junker keineswegs immer gefestigt gewesen. Die entscheidende gesellschaftliche Veränderung des Junkerstandes vollzog sich mit dem Übergang der feudalistischen zur kapitalistischen Ordnung in den Jahren zwischen 1775 und 1825. Dies war die Zeit, in der einige junge Adlige die Töchter und Frauen jüdischer Finanziers besuchten, ihnen den Hof machten und zuweilen sogar heirateten. Um zu verstehen, warum sie dies taten, müssen wir die Krise des preußischen Adels etwas genauer betrachten.

Das Dilemma des Adels war zum Teil die Folge demographischer Veränderungen. Der rapide Bevölkerungszuwachs trieb den Nahrungsmittelbedarf in die Höhe. Die Nachfrage übertraf das Angebot, und zum ersten Mal seit dem Dreißigjährigen Krieg überstiegen in Deutschland die Getreidepreise die Gewerbepreise. Die Preisexplosion hing zudem mit dem Niedergang der Landwirtschaft in England zusammen, wo der Abschluß des Einhegungsprozesses und die Verlagerung der Textilproduktion aus der dörflichen Heimarbeit in die Fabriken dazu führten, daß England von der Einfuhr preußischen Roggens und preußischer Gerste abhängig wurde. In Preußen wiederum führten die steigenden Getreidepreise zu einem Anstieg der Grundstückspreise, verstärkt noch durch den Wunsch vieler wohlhabender, vor allem in Berlin lebender Bürger, ihr Kapital vorzugsweise in Land anstatt in Manufakturen anzulegen. Da Landerwerb den Bürgerlichen jedoch gesetzlich verboten war, wurden entsprechende Geschäfte zunehmend illegal abgewickelt. Land wurde in Preußen so zum profitablen Spekulationsobjekt.

Trotz dieser für die Junker vorteilhaften ökonomischen Entwicklung war es durchaus nicht ausgemacht, ob die Politik des Staates, die Erbschaftsregelungen sowie die Geburtsziffern ihnen die dauerhafte Sicherung ihrer Vorteile erlauben würden. Um ihre Exportgewinne zu erhöhen, waren die Junker auf eine Herabsetzung der Zwischenhandelszölle für Getreide angewiesen, was sie 1790 unter Friedrich Wilhelm II., als der Merkantilismus keine so gewichtige Rolle mehr spielte, auch erreichten. Um jedoch die für einen profitablen Getreideexport notwendigen Produktionsverbesserungen durchzuführen, bedurfte der Adel entsprechend großer Ländereien und Geldmengen. Hier stießen die Junker auf ein gravierendes Problem; denn in zunehmendem Maße besaßen ihre Familien weder das eine noch das andere. Da es in Preußen kein Erstgeburtsrecht gab, wurden die Länder häufig zu gleichen Teilen unter den Söhnen aufgeteilt. Andererseits verstärkte der Kapitalmangel den äußeren Druck dahingehend, die parzellierten Ländereien an den Meistbietenden zu verkaufen. In Folge des Geburtenzuwachses und der Abnahme kriegs- und epidemiebedingter Sterblichkeit wurden die Adelsfamilien größer, und damit wuchs entsprechend die Zahl derer, die Erbansprüche stellten. Um unverheiratete Töchter mit Mitgiftansprüchen vom Heiratsmarkt fernhalten zu können, fehlte es dem protestantischen Preußen an Klöstern. Die Versuchung, benötigtes Bargeld im Austausch für teuer gewordenes Land zu erwerben, wurde folglich immer größer.

Die Entfremdung des Adels vom Land wurde noch dadurch beschleunigt, daß die Junker ihre Söhne in den Heeres- und Staatsdienst schickten. Diese zwischen Krone und Adel übliche Praxis zielte nicht zuletzt darauf, den Druck der Erben auf Land oder Geld zu mildern. Doch war dieses System nicht ohne Widerhaken: Immer mehr junge Adlige, deren Existenzsicherung in den ländlichen Provinzen zunehmend schwieriger wurde, zogen in die Stadt und konkurrierten dort um Stellungen in der Verwaltung oder der Armee. Doch nahm gerade zu jenem Zeitpunkte die Zahl der qualifizierten bürgerlichen Mitwerber rapide zu. Selbst wenn der Adel über das notwendige flüssige Kapital verfügt hätte, wäre er nicht imstande gewesen, diese Entwicklung rückgängig zu machen. Die preußische Bürokratie war von jeher standesbewußt: Ein Offizier war nicht käuflich. Adlige Offiziere verdienten selten genug, um heiraten und ein standesgemäßes Leben führen zu können. Gelang es ihnen doch, so hatten ihre Töchter erneut Schwierigkeiten, die für einen noblen Lebensstil erforderliche Mitgift zu erhalten.

Friedrich der Große, der ein offenes Ohr für die Probleme des Adels besaß, machte die Praxis seines Vaters, Bürgerliche mit hohen Ämtern zu betrauen, rückgängig und reservierte sie für Adlige. Doch gab es nicht genügend Ämter und Posten. Immerhin lebte gegen Ende des 18. Jahrhunderts rund ein Drittel aller brandenburgischen Adelsfamilien ausschließlich von städtischer Erwerbstätigkeit. Wie ihre auf dem Land zurückgebliebenen Verwandten, die Berlin regelmäßig besuchten, entwickelten sie einen aufwendigen höfischen Lebensstil, der ein Grund mehr dafür war, Ländereien teilweise oder ganz zu verkaufen. Damit begann ein Teufelskreis, der die ökonomische Situation der Junker ernsthaft gefährdete. Nur ein Drittel der Adelsfamilien lebte ausschließlich von den Erträgen seinen Ländereien; mehr als ein Zehntel der Ländereien gehörte bereits Bürgerlichen, und selbst der offiziell in adligen Händen befindliche Grundbesitz war etwa zur Hälfte an Bürgerliche verschuldet. Die aus der Landparzellierung und dem Verkauf auf dem preisexplosiven Grundstücksmarkt gezogenen schnellen Gewinne machten die Mitglieder jenes „glücklichen Standes“ blind für die langfristigen Folgen solcher Praxis.

Friedrich der Große war bis zu seinem Tod 1786 um Abhilfe bemüht, selbst auf das Risiko hin, wegen der wachsenden adligen Majorisierung der Armee und der Verwaltung Publizisten und Beamte gegen sich aufzubringen. Doch reichte die Bevorzugung des Adels bei der Ämtervergabe zur Lösung seiner ländlichen Probleme nicht aus. Zwei Lösungsversuche, die Friedrich der Große und seine unmittelbaren Nachfolger initiierten, waren nicht sofort von Erfolg gekrönt. Zum einen wurden Familientreuhandgesellschaften eingerichtet, die eine weitere Parzellierung der Ländereien durch nachfolgende Generationen verhindern sollten, sich aber nur langsam durchsetzten, weil es verführerisch blieb, die Schulden, die man in der Stadt gemacht hatte, durch den Verkauf von kleinen Landstücken zu hohen Preisen zu begleichen. Zum anderen sollten die Schlupflöcher, welche es Bürgern de facto erlaubten, adligen Grundbesitz zu erwerben, geschlossen werden. Berücksichtigt man jedoch die strukturelle Schwäche des industriellen Sektors, so waren die Bürger nur schwer von solchen Ambitionen abzubringen: Deutschland war eben nicht England. Weder Heimindustrien noch Luxusgütermanufakturen boten dem überschüssigen bürgerlichen Kapital sichere Investitionsmöglichkeiten. Wäre es den Bürgern im anbrechenden 19. Jahrhunderts jedoch möglich gewesen, im selben Maße wie in den Jahrzehnten zuvor Grundbesitz zu erwerben, so hätte dies mit Sicherheit das Bodenmonopol des Adels gebrochen.

Um Bürgerliche vom Zugriff auf Land abzuhalten, ihnen aber Investitionen in die Getreideproduktion zu ermöglichen, wurde 1793 eine Landwirtschaftsbank gegründet. Der Adel war dazu angehalten, seine Besitzstände auf genossenschaftlicher Grundlage zu organisieren, und erhielt dafür im wesentlichen „bürgerliche“ Anleihen auf seine verschuldeten Ländereien. Im Gegenzug wurden den Bürgerlichen für ihre Kredite hohe Zinsen bewilligt, so daß zusätzliches Geld in Umlauf kam, das in die landwirtschaftliche Produktion investiert werden konnte. Kein Bürgerlicher konnte fortan jedoch mehr Grundbesitzer werden, nicht einmal inoffiziell. Aus Angst davor, sein Land als Sicherheit anzubieten, dauerte es zwar lange, bis der Adel imstande war, die Vorteile dieser staatlichen Initiative zu nutzen. Doch blieb ihm auf Dauer keine andere Wahl, wenn er nicht als Gruppe untergehen wollte.

Als Gruppe untergehen bedeutet im wesentlichen den drohenden Verlust der engen Verflechtungen, wie sie zwischen Geburts- und Dienstadel bestanden. Ob Gutsbesitzer oder Staatsdiener – die männlichen Mitglieder des Adelsstandes bildeten einst eine exklusive Einkommensschicht auf höchstem Niveau. Die enge Verflechtung entsprach der Ständegesellschaft. Jeder Stand – Adlige, Bürgerliche und Bauern – hatte eine bestimmte gesellschaftliche Funktion zu erfüllen, der ein bestimmter Grad des Wohlstands (oder der Armut) entsprach. Im Laufe des Jahrhunderts ließ die Einbindung des Adels in die höchsten Einkommensgruppen nach, und eben darin bestand das Problem. Die Krise der Agrarwirtschaft führte dazu, daß die Besitzer kleiner Ländereien verarmten, während Bürgerliche das Monopol des Adels auf Grundbesitz durchbrachen und mit Adligen um die Ämter im Staatsdienst konkurrierten. Befördert auch durch den Ausbau des Bildungswesens und die Entstehung einer kaufmännischen Elite, waren die höchsten Einkommensgruppen nicht mehr allein vom Land- und Dienstadel besetzt. Die Geburt bot keine hinreichende Voraussetzung mehr dafür, daß Adlige so zu leben vermochten, wie es ihrem Stande entsprach.

Dennoch starb der Adel nicht aus. Nach den zwischen 1807 und 1813 erfolgten Reformen überlebte ein kleinerer, konsolidierter Adelsstand und gelangte im Laufe des 19. Jahrhunderts sogar zu neuer Blüte. Trotz des Verlustes einiger Standesrechte gegenüber der Bauernschaft blieb den Junkern die Kontrolle über die ländlichen Arbeitskräfte mehr als erhalten. Daran änderte auch die Abschaffung der Leibeigenschaft nichts, zumal eine mobile und lohnabhängige Bauernschaft, die im Anschluß an die Ernte wieder entlassen werden konnte, billiger als Leibeigene waren, für deren Unterhalt ganzjährig gesorgt werden mußte. Durch den Aufkauf der Güter von verarmten Adligen, den sogenannten Kohljunkern, verfügte der Landadel des 19. Jahrhunderts auch häufig über mehr Land als zuvor. Der Kapitalmangel unter der kleinen Gruppe von Großgrundbesitzern ging auch dadurch zurück, daß die ehemaligen Leibeigenen nun, da sie ihre Arbeitskraft für Geld verkauften, bei den Gutsbesitzern einkaufen konnten. Schließlich beseitigten die Reformen ein weiteres Hindernis für das Überleben des Adels: Dessen männlicher, bislang häufig beschäftigungsloser Nachkommenschaft wurde fortan gestattet, bürgerliche Berufe auszuüben. Darüber hinaus hielt sich der Thron mit dem Verkauf neuer Adelstitel zurück. Um die Liquidität des Staates zu sichern, gaben die Hohenzollern, anders als die Habsburger, der Besteuerung des Volkes gegenüber dem Verkauf von Titeln den Vorzug.

Gleichzeitig stieg dank des neuerlichen und diesmal legalen Zustroms bürgerlichen Kapitals in die Landwirtschaft die Effizienz der Getreideproduktion. 1820 begann für die preußischen Großgrundbesitzer eine Ära des Wohlstandes, die ein halbes Jahrhundert andauern sollte. Als preußisches Getreide sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einer starken auswärtigen Konkurrenz gegenübersah, verlangten die Gutsbesitzer protektionistische Hilfsmaßnahmen von seiten des Staates, die sie nach Überwindung einiger Schwierigkeiten erhielten. Die ökonomischen und politischen Kosten ihres Sieges zu Lasten der modernen deutschen Entwicklung gehören zu einer Geschichte, die anderswo erzählt wird.

Für die Geschichte, die wir erzählen wollen, bleibt festzuhalten, daß das Vierteljahrhundert vor 1806 für den preußischen Adel eine höchst bewegte und entscheidende Zeit war. Zunehmend mehr Adlige strömten während dieser Zeit in die Stadt und sahen sich dort mit neuen Werten, neuen Ideen und neuen Freunden konfrontiert. Die geistigen und gesellschaftlichen Umwälzungen in der Stadt erhöhten die Wahrscheinlichkeit, daß sie zur jüdischen Salongesellschaft stießen. Und auf eine verwickelte Art und Weise ebneten die finanziellen Sorgen der Adligen den Weg in die Salons und trugen insbesondere dazu dabei, daß sie gelegentlich jüdische Frauen, denen sie dort begegeneten, heirateten.

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