Kitabı oku: «The unseen souls», sayfa 2
2. Release me
Wie jeden Dienstag um zwei Uhr nach der Schule ging Jen ins Haus Lupos.
Doch da war sie nicht die einzige. Nico war auch dort.
„Hi“, begrüßte sie ihn und gab sich Mühe, nicht wütend zu wirken, dass er immer noch da war. Was zu Hölle suchte er in diesem Haus?
Mr. Asozial sah nur kurz auf und widmete sich nachher wieder seinem Roman. Jen versuchte, einen Blick auf das Cover zu erhaschen, aber er hielt es so, dass dies unmöglich war. Halb enttäuscht setzte sich Jen an ihren Stammplatz - wenigstens das hatte Nico ihr nicht genommen - und begann mit den Mathehausaufgaben.
Aber an Konzentration war nun wirklich nicht zu denken. Sowieso - das war Mathe! Wenn es etwas gab das Jen so absolut nicht konnte, war es Mathematik. Als ihr Blick wieder zu Nico wanderte, ging ihr auf einmal das Lied 'Release me' von Agnes durch den Kopf. In Gedanken sang sie den Refrain mit und beinahe hätte sie zu summen begonnen.
Mit Mühe riss sie den Blick von Nico los und fixierte erneut das Matheblatt.
Wenn der Durchmesser einen Kreises 1 beträgt, ist der Umfang π. Wie groß ist der Umfang, wenn der Durchmesser 3 ist?
Das ist einfach, dachte Jen und schrieb mit dem Bleistift 3π hin, holte ihren Taschenrechner heraus und rechnete es aus: 9.424777...
Nächste Aufgabe. Jen arbeitete sich fleißig durch, aber das lockere und friedliche Gefühl, dass sie gewöhnlich überkam, wenn sie im Haus Lupos arbeitete, war einfach wie weggewischt. War ja klar, wenn Mr. Asozial sich ausgerechnet diesen Platz aussuchen musste, um seinen blöden Roman zu lesen. Überhaupt, wieso las er denn? Hatte er nichts Besseres zu tun?
Jen warf ihm einen wütenden Blick zu und schaute wieder auf ihr Matheheft.
Beweise die Formel A = π•r 2 mithilfe einer Skizze.
Jen seufzte und zeichnete mit dem Zirkel einen Kreis auf das Blatt und versuchte, sich an den Beweis zu erinnern, den sie schon in der Schule nicht begriffen hatte. Wie sollte sie diese Aufgabe lösen, wenn sie schon zuvor nicht mitgekommen war? Das Einzige, was ihr einfiel, waren Dreiecke.
Mann, ich muss einen Kreis machen, keine Dreiecke!
Wie sie es so gerne tat, kaute sie auf ihrem Bleistift herum und starrte Löcher in die Luft. Ihr Blick fuhr zu Nico, der immer noch in sein Buch vertieft war. Er hatte ein schönes Profil, musste sie zugeben, als sie ihn von der Seite betrachtete. Ausnahmsweise ganz friedlich schaute er ins Buch und bewegte sich nur, um sie Seiten umzublättern.
„Was schaust du so?“, fragte er auf einmal.
Jen zuckte zusammen. „I-ich überlege mir, wie ich dich am besten dazu bringen kann ... mir die Formel π•r2 zu erklären.“ Zuerst hatte sie sagen wollen 'dich aus dem Haus zu verpissen' aber irgendwie hatte sie es nicht über die Lippen bekommen.
Nico verkniff sich ein Grinsen uns sah auf.
Yeah! Ich hab ihn zum Lachen gekriegt!
„Ah, willst du einen elektrischen Kreis um dich legen, damit ich ja nicht näher komme?“
„Hausaufgaben.“
Zu ihrer großen Überraschung legte er sein Buch zur Seite - mit dem Cover nach unten - und kam zu ihr herüber. Jen rückte ein wenig zur Seite. Er nahm ihr das Blatt aus der Hand und begann, ernsthaft zu erklären. Tatsächlich war er ein guter Erklärer, auch wenn er sich sehr knapp hielt und nie einen Satz mit Komma sagte. Und zu ihrem Missfallen musste sie ihm einen Pluspunkt geben, da er dieses Thema in Mathematik offenbar begriffen hatte. Schlussendlich hatte auch sie den Beweis verstanden und bedankte sich bei ihm. Er nickte nur, setzte sich wieder an seinen Platz und las weiter.
Jen starrte ihn eine Weile fast schon verletzt an. Warum war er so abweisend? Was hatte sie ihm angetan? Sie biss sich auf die Lippen und beendete rasch ihre Hausaufgaben.
Die Woche darauf lief es genau so weiter.
Nico sprach nahezu nie mit ihr, außer vielleicht, um hin und wieder eine sarkastische Bemerkung abzugeben. Er saß auf seiner Kiste und betrachtete das Ölbild oder las, Tag für Tag dieselben zwei Beschäftigungen. Jen jedoch beobachtete ihn immer wieder interessiert und versuchte, aus ihm schlau zu werden. Offenbar war die Hilfe bei den Hausaufgaben eine Ausnahme gewesen. Sie wusste nicht weshalb, aber seine offensichtliche Abneigung gegen sie machte sie auf eigenartigerweise an und sie ertappte sich immer wieder dabei, wie sie im Unterricht an ihn dachte. Sie wollte umso näher an ihn heran, je mehr er sie abstieß. Eines Morgens zog sie im Gedanken an ihn sogar absichtlich ein schöneres Top an, obwohl ihr bewusst war, dass er sie nicht länger als zehn Sekunden aufs Mal anschauen würde. Zufrieden bemerkte sie, wie sein Blick an diesem Tag kurz an ihrem Top hängen blieb. Da konnte sie es sich einfach nicht verkneifen, zu wiederholen, was er einmal gesagt hatte: „Was schaust du so?“
Und Nico sah sie einen Moment lang bloß an, und dann sagte: „Schönes Top.“ Jen bekam vor Staunen über das Kompliment nicht einmal ein Dankeschön heraus.
Aber etwas war wirklich eigenartig an Nico, von seiner asozialen Art abgesehen: Nämlich hatte auch er oft einen Cap dabei.
Zwar war das normalerweise nicht weiter seltsam, es war ja durchaus geläufig, mit einem Cap herumzulaufen, aber aus irgendeinem Grund hatte Jen das Gefühl, dass er vielleicht ... auch „zaubern“ konnte. Wieso hielt er sich denn sonst im Haus Lupos auf? Sie kam nicht umhin, an die erste Begegnung mit ihm zu denken, als er geflimmert hatte und für einen winzigen Moment unsichtbar gewesen war. Zwar konnte sie das nicht mit Sicherheit sagen, aber ihr Verdacht bestand: Es könnte sein, dass er dieselben Fähigkeiten hatte! Aber nach einer Weile wollte sie es mit Sicherheit wissen, denn der Gedanke, einen Gleichgesinnten zu treffen, machte sie jedes Mal fast wahnsinnig, wenn sie ihn sah. Sie beschloss, ihn darauf anzusprechen. Aber das war leichter gesagt als getan.
Es war an einem Sonntag, als sie im Haus Lupos saß und auf dem Handy spielte. Er las wie immer seinen Roman. Jen spähte über den Rand ihres Handys hinweg und legte sich die Worte zurecht, während sie das Handy auf Sperrmodus stellte.
„Glaubst du eigentlich an Geister?“, fragte sie höchst intelligent und ihre Stimme klang in der Stille seltsam gespenstisch.
Nico sah erstaunt auf. „Nein.“
Jen kaute auf ihrer Unterlippe herum. Mit jemandem so ungeselligem zu reden war aber auch nicht einfach! „Ähm... und andere ... äh ... magische Dinge?“, stammelte sie und errötete.
Nico hob einen Mundwinkel. „Kommt drauf an, wie man magisch definiert.“ Er senkte wieder den Kopf und las weiter.
„Es ist ganz bestimmt nicht magisch, wenn ich dein beschissenes Buch aus dem Fenster schmeiße, damit du mal weniger asozial bist!“, murmelte Jen wütend und widmete sich ihrem Handy. Jetzt hatte sie ernsthaft allen Mut aufgenommen und ihn etwas so blödes gefragt und er hatte nichts Brauchbares geantwortet! Wütend entsperrte sie ihr Handy - sie schrieb gerade mit ihrer besten Freundin, die ein Austauschjahr in Frankreich machte. Jen hatte schon mindestens zehn Mal probiert, zu ihr rüber zu teleportieren, aber auf die Distanz ging das einfach nicht. Ihre Freundin war nämlich die Einzige, die ihre Fähigkeiten billigte. Zwar wusste auch Jens Mutter Bescheid, aber sie wollte, dass Jen es so geheim wie möglich hielt und nur im Notfall gebrauchte. Tatsächlich hörte sie in diesem Punkt auf ihre Mutter, da sie keine Lust hatte, im Zirkus zu landen. Aber wie auch ihre Freundin Lucy fand sie die Fähigkeiten ziemlich cool und kam manchmal einfach nicht darum herum, sie zu benutzen.
Im Moment erzählte sie Lucy gerade von Mr. Asozial, und war froh, das mit jemandem besprechen zu können. Allerdings hoffte sie, dass Lucy ihn nie zu Gesicht bekam, denn bisher wusste sie nur den Kosenamen „Mr. Asozial“ und nicht seinen echten - die Gefahr, dass sie ihn mit den falschen Namen ansprach, war zu groß.
Sicherheitshalber schrieb sie ihr, dass er Nico hieß.
„War ja klar!“, schrieb Lucy zurück. „Ein möchtegern-Macho! Wetten, er heißt doch Nicolas?“
Jen lachte verhalten und Nico warf ihr von seinem Platz aus einen verwirrten Blick zu.
An einem verlassenen Ort
Der Junge betrat breit lächelnd das Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich. Er war durch und durch zufrieden mit den neusten Nachforschungen.
„Hat es geklappt?“, fragte seine Freundin, die auf einem Stuhl saß, die langen Beine ausgestreckt. Ihr langes Haar glänzte im kalten Licht des Zimmers und ihre Miene war selbstgefällig wie immer.
Der Junge nickte. „Ich habe eine weitere unsichtbare Seele gefunden.“ Er machte eine dramatische Pause und fuhr sich mit der Hand durch seine verstrubbelten Haare. „Und sie sind im selben Haus…“ Grinsend zwinkerte er dem Mädchen zu. Es passte alles perfekt zusammen.
Diese lächelte kühl und erwiderte: „Dann ist es nur noch eine Frage der Zeit. Sie werden sich anfreunden.“ Da war sie sich ganz sicher. Das war immer so, bei so unwissenden, harmlosen Menschen in dem Alter. Irgendwann begann man zu reden und das, ohne den Hintergrund des anderen zu kennen. Man war naiv.
Ihr Freund zog die Augenbrauen zusammen; aus irgendeinem Grund schien er anderer Meinung. „Naja, sie sind beide nicht die charmantesten…“, wandte er ein.
Das Mädchen zuckte gelassen die Schultern und zog die Beine an. „Na und?“, fragte sie. „Dann passen sie ja wieder zusammen. Vertrau darauf.“ Sie schenkte ihm ein Lächeln.
Der Junge kam auf sie zu und setzte sich auf einen Stuhl neben ihr, dann legte er eine Hand auf ihre Knie. „Wir werden es schaffen. Darauf vertraue ich.“
Die beiden sinnierten eine Weile über ihr Vorhaben. Zwar bedurfte es einiger Vorbereitungszeit und war in gewisser Hinsicht aufwändig, aber sie hatten allein in den letzten beiden Wochen Fortschritte gemacht, große Fortschritte. Daher waren sie zuversichtlich, dass ihr Plan aufgehen würde.
„Da wäre nur noch eines…“, meinte das Mädchen nach einem Moment der Stille. „Wir müssen sicher sein, dass sie diesen Typen kennenlernen.“
Der Junge überlegte einen Moment, was seine Freundin meinte, doch dann fiel es ihm wieder ein. Ja, diese Bekanntschaft fehlte noch zwischen ihren Zielobjekten. Aber er war überzeugt, dass auch das einfach war. So naiv wie die beiden waren, würden sie sich mit jedem anfreunden und nicht über die Vertrauenswürdigkeit nachdenken. Sowieso war es ja klar, dass er und seine Freundin die Macht hatten. Sie waren berechnender und vorsichtiger, ganz anders als sie beiden unsichtbaren Seelen. Jetzt, da alle Fäden lagen, mussten sie nur noch warten, bis sie sich von alleine verknüpften. Und dann würden sie zuschlagen. Erbarmungslos.
„In zwei Wochen“, sagte er mit seiner tiefen Stimme und zwinkerte dem Mädchen erneut zu. „Das verspreche ich dir. Nur noch zwei Wochen.“
Das Mädchen sah zu ihm hoch und legte ihre Hand auf seine. „Zwei Wochen“, wiederholte sie, sie wirkte nicht ganz so begeistert.
„Gute Planung ist das Wichtigste“, fügte der Junge also hinzu. Sonst würden sie einen Fehler machen und das durfte auf keinen Fall passieren. Sie durften sich nicht von der Euphorie ihrer jüngsten Erkenntnisse beeinflussen lassen und nachlassen, sonst wären sie nicht mehr besser als ihre Versuchskaninchen.
„Du hast Recht“, meinte das Mädchen besänftigt und ihre Augen lagen abmessend wie immer auf ihm.
„Na klar.“ Zwei Wochen, aber keine Sekunde länger würde er auf den Erfolg warten.
Am Montag, als Nico sie wieder keines Blickes würdigte, reichte es Jen allmählich. Von der Demütigung der Geister abgesehen, konnte sie sich eine Reihe angenehmere Dinge vorstellen, die sie in ihrer Freizeit tun konnte, als in einem Raum zu sitzen mit einem dahergelaufenen penetranten Typen, der nichts Besseres zu tun hatte, als Romane zu lesen und ein Ölbild anzustarren. Nicht einmal Geschmack hatte er, denn das Ölbild war grauenhaft.
„Wieso ignorierst du mich immer?“, fragte sie ihn erbost und starrte zu ihm herüber. Wieder klang ihre Stimme fehl am Platz in der Stille. Sie unterhielt sich sonst gerne mit Leuten, aber mit Nico war das echt schwer!
Nico klappte sein Buch zusammen und zuckte mit den Schultern. „Ich ignoriere dich ja nicht. Wenn ich dich ignorieren würde, würde ich dir jetzt nicht antworten“, erklärte er ihr.
Jens Blick verfinsterte sich. Konnte er ihr nicht einmal eine ernste Antwort geben? „Du weißt, was ich meine. Ich will keine Definition über das Ignorieren, sondern irgendeine brauchbare Antwort.“
„Tut mir leid, ich weiß nicht, was du meinst.“ Er sah sie mit einem seltsamen Blick an und schlug seinen Roman wieder auf, aber sie bemerkte zu ihrem Erstaunen, dass sein Blick immer wieder zu ihr huschte.
Sie seufzte, stand auf und ging langsam aus dem Haus Lupos. Zwar spürte sie seinen Blick im Rücken, als sie die Treppe hinunter ging, aber sie konnte im Moment keine Sekunde länger dort sitzen bleiben. Auf der Straße angekommen, stellte sie sich auf ihr Skateboard und fuhr in die Stadt, da sie ihrer Mutter versprochen hatte, sich endlich einen Wecker zuzutun. Aber dennoch konnte sie Nico nicht aus dem Kopf schlagen. Und das ging ihr öfters so. Lucy hatte mal zum Spaß gesagt, dass sie sich in ihn verliebt hatte. Aber wie konnte es sein, dass sie in jemanden verknallt war, der so unhöflich zu ihr war? Andererseits glaubte Jen einfach nicht ganz, dass das wirklich seine natürliche Art war. Auch wenn er es nicht zugab, wollte Jen sich einreden, dass er einen Grund für sein Verhalten hatte. Das musste er einfach! Sie würde ihn schon noch dazu bringen, etwas offener zu werden...
Als sie aufschaute, sah sie, dass sie schon in der Stadt angekommen war. Im Zentrum nahm sie das Board in die Hand, da es in den Menschenmengen nicht mehr möglich war zu fahren. Jen war nicht die Einzige gewesen, die im Abendverkauf noch was einkaufen wollte. Nachdem sie Gemüse für das Abendessen besorgt hatte, ging sie in einen großen Laden, der von DVDs bis Uhren und eben Wecker alles Elektronische und Zubehör verkaufte. Neben den DVDs gab es sogar noch Bücher. Jen liebte den Laden dank seiner Vielfalt, auch wenn sie immer einen großen Bogen um die Bücher machte.
Doch diesmal konnte sie sich einen kleinen Blick nicht verkneifen, als sie an den Büchern vorbeikam, halb in der Erwartung, einen von Nicos Romanen zu sehen. Doch natürlich würde sie es nicht einmal erkennen, da sie noch nie ein Cover der Bücher gesehen hatte, egal wie genau sie hinsah. Sie ging weiter in die Ecke mit den Weckern und suchte das Sortiment nach einem möglichst kleinen ab. Als sie einen schlichten Wecker gefunden und bezahlt hatte, machte sie sich wieder auf den Heimweg.
Doch als sie aus dem Laden trat, traute sie ihren Augen kaum.
Da lief Mr. Asozial genau vor ihrer Nase aus demselben Geschäft! Er trug ebenfalls einen Cap und unter seinem Arm erkannte Jen tatsächlich einen neuen Roman, endlich sah sie auch den Titel: Skulduggery Pleasant - Duell der Dimensionen. Auf dem Cover war ein furchteinflößendes Skelett und Monster zu sehen. Jen biss sich auf die Lippe, um nicht zu lachen, obwohl sie selbst nicht wusste, was daran so lustig war. Mr. Asozial hatte sie nicht gesehen, sondern ging in Gedanken verloren die Straße entlang.
Zuerst folgte sie ihm nicht einmal absichtlich, aber als sie am Rand der Stadt ankam, war er immer noch vor ihr. Anscheinend hatte er sie noch nicht gesehen.
Jen wiegte bedächtig den Kopf, warf einen Blick nach hinten und rückte ihren Cap ein wenig nach rechts. Dann kniff sie die Augen zusammen, wartete auf das Kribbeln, das durch ihren Körper fuhr, und war unsichtbar.
Das Board und den Wecker fest umklammert, folgte sie Nico mit einem Sicherheitsabstand, da sie zwar unsichtbar, aber trotzdem vorhanden war. Mr. Asozial wählte eine kleine Gasse, an der etliche andere Gassen abzweigten. Sie wich einem überfüllten Mülleimer aus und rümpfte die Nase. In ruhigem Gang ging sie hinter ihm her, er wählte immer die kleinen Gassen Londons aus und nach einer Weile konnte Jen schon voraussagen, wo er abbiegen würde. Es waren fast keine Leute unterwegs, bloß in den Pubs hörte man lautes Gelächter. Jen aber war ganz auf ihr Zielobjekt fixiert und während sie ihm folgte, hatte sie längst die Übersicht verloren, welchen Weg sie gegangen waren. Diese Spionsache machte mittlerweile um einiges weniger Spaß als zu Beginn, befand sie, als sie ihm nun schon seit mehr als zehn Minuten auf den Fersen war. Er ging vermutlich nach Hause, aber Jen war einfach zu neugierig zu wissen, wo er wohnte, als dass sie aufgegeben hätte. Es stand fest, dass er eine Vorliebe für kleine Gassen – und gruslige Romane – hatte. Außerdem konnte es ja auch sein, dass er sich plötzlich für die schnellere Variante entschied und sich vor ihren Augen in Luft auflösen würde. So wäre die Frage, ob er auch diese Fähigkeiten besaß, geklärt.
Jen betrachtete einen überfüllten Pub, der zu ihrer linken war und wünschte sich fast, Nico würde da reingehen, denn sie hatte sich schon seit Lucy in Frankreich war nie mehr in einem Pub aufgehalten. Und dieser hier sah toll aus, es lief sogar Musik. Aber als sie wieder nach vorne schaute, spazierte Mr. Asozial zielstrebig weiter. Jen warf einen letzten sehnsüchtigen Blick nach hinten, bevor sie sich wieder Nico zuwandte.
Aber dieser war auf einmal weg.
Spurlos verschwunden.
Jen blieb verblüfft stehen und zog scharf die Luft ein. War er gerade teleportiert? Oder hatte er sich unsichtbar gemacht? Jen rannte an die Stelle, an der sie ihn das letzte Mal gesehen hatte und entdeckte eine kleine Straße rechts neben ihr. Mist! Vielleicht war er auch einfach da abgebogen, als sie zurückgeschaut hatte? Sie hatte ihn verloren, nur weil sie einem Pub hinterhergetrauert hatte! Am liebsten hätte Jen laut gebrüllt und Mr. Asozial sein blödes Buch auf den Kopf gehauen, doch sie beschränkte sich auf ein wütendes Knurren und teleportierte enttäuscht nach Hause. Das Ganze Verfolgen hatte rein gar nichts gebracht, sie konnte immer noch nicht sagen, ob er jetzt teleportiert war oder bloß in die Gasse abgebogen. Missmutig verbesserte sie noch ihren Englischaufsatz über die Zeit, den Gollum ihr korrigiert zurückgegeben hatte - zu ihrem Erstaunen war er ganz zufrieden gewesen. Doch bestimmt war auch die Verbesserung noch voller Fehler, weil sie in Gedanken immer noch bei der kleinen Gasse und Nico hing.
Das nächste Mal, als Jen im Haus Lupos saß und Mr. Asozial „Skulduggery Pleasant - Duell der Dimensionen“ las - ein eher dickes Buch übrigens - konnte sich Jen eine Bemerkung nicht verkneifen: „Ist es nicht langweilig, ein Buch über einen Toten zu lesen?“
Nico schaute auf, ein wenig verdutzt und irgendwie auch verärgert, dass sie ihn angesprochen hatte. „Nein. Eine Kleinigkeit wie der Tod kann ihm nichts anhaben“, erwiderte er.
„Hä?“, machte Jen äußerst intelligent.
„Skulduggery. Er ist sozusagen ein lebendes Skelett. Außerdem sind die anderen Protagonisten einigermaßen normale Menschen.“
„Aha.“ Jen zog in heuchelndem Interesse die Augenbrauen hoch. Das tönte abstrakt.
„Das Buch würde dir gefallen“, meinte Nico und schlug es wieder auf. Er war schon fast in der Mitte.
„Woher willst du wissen, was mir gefällt?“, fragte Jen frech.
Nico legte den Kopf schräg, Jen hatte es zu ihrer Genugtuung geschafft, ihn für einen Moment sprachlos zu machen.
„Keine Ahnung. Ich denke es einfach“, antwortete er nach einer Weile doch noch.
„Hm.“ Jen sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an und versuchte, ihn nicht anzustarren. „Ich lese nicht gerade viel.“
Nico grinste. „Dann kannst du ja damit anfangen“, erwiderte er und Jen lachte spöttisch auf.
3. Unsichtbare Seelen
Es war freitagnachts, Jen fuhr auf dem Skateboard in die Stadt, den Cap verkehrt herum aufgesetzt. Sie wollte ein paar neue Sommerkleider einkaufen gehen, hatte ihrer Mutter aber versprochen, dass sie um 11:00 Uhr wieder nach Hause kam. Heute waren die Läden ausnahmsweise länger geöffnet, weil irgendein Feiertag war, dessen Namen Jen wieder vergessen hatte. Als sie das Skateboard zum Überqueren einer Straße in die Hand nahm und wartete, dass die Ampel grün wurde, ließ sie ihren Blick über die Menschenmenge gleiten. Doch da sprang ihr ein Mädchen in die Augen und sie schaute wieder zu ihr zurück. Das Mädchen stand ihr gegenüber auf der anderen Straßenseite und war auffallend hübsch. Sie hatte hellblondes langes Haar und grüne, große Augen. Hippie-mäßig hatte sie sich ein Tuch um den Kopf gebunden, das dieselbe Farbe hatte wie ihre Augen. Die Ampel wurde grün und Jen wäre beinahe einfach stehen geblieben und hätte die Blondine angestarrt, wenn diese sich nicht abrupt in Bewegung gesetzt hätte. Als sich ihre Wege kreuzten, schaute ihr das Mädchen in die Augen und auf einmal war ihr Blick eiskalt. Jen lief ein Schauer über den Rücken und sie beeilte sich, die andere Straßenseite zu erreichen. Doch einer Intuition folgend drehte sie noch einmal um und vor Überraschung klappte ihr der Mund herunter. Das Mädchen ging zielstrebig auf einen Jungen auf der anderen Straßenseite zu. Einen Jungen mit schönen blauen Augen, dichtem schwarzen Haar und die feinen Gesichtszüge zu einem arroganten Grinsen verzogen.
Nico.
War er die ganze Zeit hinter ihr gewesen?
Jen schloss den Mund mit einiger Anstrengung und verspürte einen seltsamen Stich in ihrer Brust. War sie etwa eifersüchtig, dass Mr. Asozial ein Date mit einer hübschen Blondine hatte? Quatsch! Jen kniff die Augen zusammen und wollte sich gerade wegdrehen, als sie sah, wie sich Nicos Augen beim Anblick des Mädchens erstaunt weiteten. Oder war es Entsetzen? Jen unterdrückte den Drang, der Tussi ihr Skateboard an den Kopf zu schleudern. In dem Moment passierte etwas äußerst Seltsames:
Eine tiefe Stimme, die sich als die von Nico entpuppte, schrie: „Jennifer, lauf!“ und Mr. Asozial drehte sich um und rannte in einem Affenzahn vor dem blonden Mädchen davon.
Jen reagierte, ohne zu wissen warum. Sie rannte los, in Richtung Nico - zu teleportieren war hier in der Öffentlichkeit zu riskant - und realisierte, wie die Tussi Nico hinterher sprintete. Wieso um Gottes Willen rannte er vor seinem - hübschen - Date davon? Was war da los?! Die beiden hetzten aus der Stadt hinaus, eine kleine Gasse hinunter und die Blondine holte immer weiter zu Nico auf. Jen fluchte, stellte sich auf ihr Skateboard und raste hinterher. Die Tussi kam immer näher, aber sie hörte die ungeölten Räder des Boards und legte einen Zahn zu. Zwar hatte sie gegen ein Board keine Chance, doch die Frage war nicht ob, sondern wann. Denn der Abstand zwischen Nico und dem Mädchen wurde immer kleiner, entweder wurde Mr. Asozial langsamer oder die Tussi schneller, Jen wusste es nicht. Sie gab mit dem linken Fuß an, beschleunigte und war fast bei der Blondine angekommen. Im selben Augenblick warf sich die Tussi auf Nico und riss ihn zu Boden. Um ein Haar wäre Jen neben den beiden weggefahren, sprang jedoch vom Skateboard herunter und kickte es beiseite. Die Tussi hatte Nico fest umklammert, dieser schlug ihr gerade sauber die Faust in ihr hübsches Gesicht. Schade.
Eine Bewegung zu Jens Linken ließ sie aufschrecken; da kam ein hochgewachsener Junge mit rostbrauner Hautfarbe auf sie zu und rief etwas, was verdächtig nach „Melissa, ich helfe dir!“ klang.
Jen machte sich unsichtbar, holte mit dem Bein aus und kickte dem Jungen zwischen die Beine. Er krümmte sich, stolperte und fiel zu Boden. Jen setzte ihm nach, schlug ihm die Faust ins Gesicht - wenn auch weniger stark als Nico - und hielt dann keuchend inne, um nach Mr. Asozial zu schauen. Melissas Kumpan lag mit schmerzerfüllter Miene vor ihr auf dem Boden. Nico hatte sich von Melissa befreit und stand umständlich auf. Jen ging auf ihn zu, griff nach ihrem Skateboard, packte Nico am Kragen und zog ihn ruckartig in eine Seitengasse. Dann machte sie sich sichtbar und begegnete Nicos finsterem Blick.
„Ich habe gesagt 'lauf', nicht 'renn mir nach'! Ich hatte alles im Griff!“, schnaubte er.
Augenblicklich flammte Wut in Jen auf und sie hätte Nico am liebsten geschlagen. „Bitte, hab ich gern gemacht!“, blaffte sie, und bevor sie sich beherrschen konnte, schrie sie los: „Ich hab dir gerade verdammt noch mal aus einer Schlägerei geholfen und du könntest vielleicht einmal in deinem Leben deine arrogante Art beiseiteschieben und dich bedanken! Oder ist das zu viel verlangt?!“ Sie holte tief Luft und versuchte, ihren aufgebrachten Herzschlag zu beruhigen. „Und dann erklärst du mir, was zur Hölle da los war!“, fügte sie etwas leiser hinzu, aber dennoch viel zu laut. „Wieso rennst du vor deinem Date weg?! Und was, Mr. Asozial, habe ich dir angetan, dass du mich so hasst?“ Ihre Hand an seinem Hemd zitterte vor Zorn.
Nico schnappte erstaunt nach Luft und starrte sie mit großen Augen an. Er sah aus, als habe Jen ihm einen Kessel Wasser über den Kopf gegossen.
Mist, habe ich ihn ernsthaft 'Mr. Asozial' genannt?
„Ich hasse dich nicht!“, widersprach er dann erstaunlich ruhig und erst jetzt fiel Jen auf, dass er an der Wange blutete. Sie zog besorgt die Augenbrauen zusammen, wartete aber immer noch auf eine längere Antwort von Seiten Nicos. Mit nur diesem Satz würde er nicht davonkommen - sie hatte endgültig die Nase voll von seiner kurzatmigen Art.
„Und... Danke, dass du, hm, mir geholfen hast...“, stammelte er und wurde tatsächlich rot. Er räusperte sich und setzte hinzu: „Und… ich hasse dich wirklich nicht. Tut mir leid, dass ich, ähm, mich so benommen habe…“ Er brach den Blickkontakt ab und schaute an Jen vorbei.
Ach, und wenn du mich nicht hasst, wieso tust du dann so?, dachte Jen misstrauisch.
„Bitte“, murmelte sie ein wenig besänftigt. Als Nico keine Anstalten machte, ihr eine Erklärung für die Schlägerei zu liefern, sondern sich damit begnügte, sie anzustarren, fragte sie verunsichert: „Was starrst du so?“
„Du bist auch eine unsichtbare Seele“, stieß er atemlos hervor.
Jen runzelte die Stirn und nahm die Hand von seinem Kragen. „Bitte?“
„Komm mit.“ Er warf einen beunruhigten Blick nach hinten und zog sie am Arm die Gasse entlang, in die Jen ihn geführt hatte. Sein Griff um ihren Arm war fest und verkrampfte sich immer mehr. Jen beeilte sich, ihm zu folgen und betrachtete ihn von der Seite, um zu schauen, wie tief die Wunde war.
„Du bist verletzt“, bemerkte sie leise.
„Das ist unwichtig.“ Er schüttelte sich die Haare ins Gesicht und verstärkte den Druck auf ihrem Arm.
Jen presste die Lippen aufeinander, Nico hatte ganz schön Kraft. „Du tust mir weh.“
Erschrocken ließ Nico sie los. „Tut mir leid.“ Er warf ihr einen Blick zu. „Wir müssen weg von Mel und Jason. Sie sind jetzt bestimmt auch hinter dir her.“
Jen beschleunigte das Tempo, damit sie mit Nicos langen Schritten mithalten konnte. Was meinte er mit 'auch hinter dir her?'. Vielleicht war er ja paranoid...
Abrupt hielt Nico an und Jen lief beinahe in ihn hinein. Jen sah sich um und staunte nicht schlecht, als sie vor sich das Haus Lupos erkannte. Wo waren sie nur durchgegangen? Sie waren in kaum fünf Minuten von der Stadt zum Haus Lupos gekommen; anscheinend wusste Nico da eine Abkürzung, die Jen in den letzten fünf Jahren übersehen hatte. Interessant.
„Hier rein.“ Nico vergeudete nicht viel Zeit mit Staunen, öffnete die Tür und ließ sie vor. Im Dachboden angekommen setzten sie sich auf eine Kommode und Nico begann mit einem Seufzer zu erklären: „Du und ich sind unsichtbare Seelen. Ich hab’s mir schon gedacht, als ich dich zum ersten Mal sah, deshalb ging ich dir aus dem Weg. Wollte ich dir aus dem Weg gehen“, korrigierte er sich und fuhr sich nervös mit der Hand durch die Haare. „Melissa und Jason haben ein Serum entwickelt, um unsichtbaren -“
„Moment mal“, unterbrach Jen ihn. „Was ist eine unsichtbare Seele?“
Nico schaute sie verblüfft an. „Das weißt du ni... Ich meine, das sind Menschen, die teleportieren und sich unsichtbar machen können.“
Jen krallte sich an der Kommode fest. Es gab also einen Namen für ihre Spezies. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie das positiv oder negativ aufnehmen sollte. Nicos Worte dröhnten in ihrem Kopf: eine unsichtbare Seele... teleportieren...
„Und Melissa und Jason und ihre Leute, die Seelenjäger, wollen uns die Kraft rauben und zu ihren Zwecken gebrauchen. Dafür haben sie ein Serum entwickelt, mit dem sie uns die Kräfte entziehen können. Ich weiß auch nicht viel... Aber ich wollte nicht, dass sie dich entdecken und hab deshalb versucht, dich auf Abstand zu halten - was offensichtlich nicht geklappt hat. Auch wenn ich nicht sicher war, ob du tatsächlich eine unsichtbare Seele bist...“ Er hielt inne und lächelte sie anzüglich an. „Normalerweise kann ich ganz charmant sein“, behauptete er und lachte.
Jen grinste und lockerte den Griff um die Kommode. „Und was machen sie, wenn sie uns kriegen?“ Ihre Stimme zitterte.
„Davon abgesehen, dass sie uns die Kräfte stehlen? Ich weiß es nicht. Aber sie scheinen nicht friedlich gestimmt zu sein... Die beiden, die uns angegriffen haben, waren vielleicht 'nur' Teenager, sind aber sehr gefährlich.“
Jen wurde allmählich schwindelig. Zwar wusste sie jetzt, dass sie nicht die einzige mit Superkräften war, aber da gab es offenbar auch Leute, die gegen sie arbeiteten. Das konnte sie echt nicht brauchen. Andererseits hatte sie endlich eine Antwort, wieso Nico immer so unhöflich zu ihr gewesen war; er wollte sie nämlich nicht auf die Liste der Seelenjäger setzen, indem er sich mit ihr blicken ließ. Das war eine um einiges bessere Lösung, als dass er sie nicht mögen würde. Und dieser Gedanke stimmte Jen um all die anderen aufwühlenden Informationen herum doch ein wenig glücklich und erleichtert. Doch sie musste beim Thema bleiben. Bei den Seelenjägern, die sie verfolgten. „Gibt es viele unsichtbare Seelen? Und wie wurden Melissa und Justin, - äh, Jason, oder wie auch immer - auf uns aufmerksam?“
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