Kitabı oku: «Ruth Gattiker», sayfa 4

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Kapitel 2
Kindheit und Jugend
«Bei uns drehte sich alles um den Vater»

Zu ihrem Geburtstag am 22. Mai darf sich Ruth Gattiker als Kind immer ihr Lieblingsessen wünschen: Kartoffelstock mit Gehacktem und Erdbeeren zum Dessert. Ende Mai gibt es schon die ersten zu kaufen. Und weil es langsam warm wird, wünscht sie sich jedes Jahr, dass sie von nun an wieder barfuss zur Schule gehen darf. Ebenso regelmässig reagiert ihr Vater, Paul Gattiker, mit Ablehnung auf diesen Wunsch. Wie sieht das aus, wenn seine Tochter barfuss zur Schule geht? Beinahe so, wie wenn man nicht genug Geld für Schuhe hätte. Strikt verboten wird es dennoch nicht, wenn es warm genug ist, darf Ruth barfuss gehen, so wie viele andere Kinder in ihrer Klasse auch. Die kleine Oerlikoner Primarschülerin hat tizianrote Locken. Sie ist mager und sehr blass. Die Buben in der Schule rufen ihr «Füürli» und «Rüebli» hinterher und hänseln sie wegen ihres speziellen Aussehens. Ruth ignoriert es, sagt im Alter, das habe ihr nichts ausgemacht. Sie wächst auf im Bewusstsein, anders zu sein. Was bei den einen zu Minderwertigkeitsgefühlen und Angst vor dem Ausgeschlossensein führt, bewirkt bei der kleinen Ruth das Gegenteil. Es scheint ihr Selbstvertrauen, die Wahrnehmung ihrer eigenen Persönlichkeit zu stärken.

Ruth Gattiker kommt 1923 als erstes Kind zur Welt. Die zwei Jahre jüngere Schwester Marianne ist anders. Sie hat dunkle Haare, ist quirlig, gesprächig, anpassungsfähig und um Ausgleich bemüht, wie ihre Mutter. Ruth ist auf den ersten Blick ein schüchternes Kind, aber ihr starker Wille macht sie zur Rebellin. Das Äussere kommt von der Mutter, der Dickschädel vom Vater, sagt sie. Er und die Tochter prallen denn auch häufig zusammen, streiten, wenn es sein muss, laut und heftig. «Du bist die personifizierte Opposition», schimpft der Vater häufig. Dass Mädchen so eigenwillig sind und solchen Widerstand leisten, gehört sich in seinen Augen nicht. Frauen haben sich so zu verhalten wie Marianne und die Mutter. Diese steht häufig zwischen dem Vater und der widerspenstigen Tochter, versucht zu vermitteln. «Sie war eine weise Frau», sagt Ruth Gattiker. Sie verehrt die Mutter für ihr sanftes Wesen und dafür, wie sie das cholerische Familienoberhaupt zu nehmen weiss, immer wieder auch zugunsten von Ruths eigenwilligen Wünschen. Wie sie es versteht, mit ihrer ausgleichenden Art die Balance in der Familie herzustellen, damit am Ende wieder Friede herrscht. Trotz oder gerade wegen der Temperamentsunterschiede sei die Ehe der Eltern gut gewesen, sagt Ruth Gattiker im Rückblick. Was aber nicht bedeutet, dass die Mutter nicht auch gelitten habe, immer wieder zurückstecken und sich ihrem Mann beugen musste.

Ruth Gattiker wächst in den 1920er- und 1930er-Jahren wohlbehütet in einer bürgerlichen Mittelstandsfamilie auf, einer klassischen Kleinfamilie im städtischen Umfeld. Vater Paul Gattiker ist Elektroingenieur HTL und arbeitet bei der Maschinenfabrik Oerlikon, wo er Maschinen nach Südamerika verkauft. Er ist Mitglied der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP), engagiert sich als Gemeinderat, als Kirchenpfleger in der reformierten Kirche und in der Kindergartenkommission. Die Familie wohnt an der Stadtgrenze in der Gemeinde Oerlikon, die damals noch selbstständig ist. Der Ort wächst zu Beginn des 20. Jahrhunderts stark, nicht zuletzt dank seinem grössten Arbeitgeber, der Maschinenfabrik Oerlikon. Die Einwohnerzahl in der ländlichen Gemeinde, 4000 im Jahr 1900, verdreifacht sich bis 1930 auf 12 000 und bis 1934 auf 14 789.22 «Dörfli» heisst zwar der alte Dorfkern mit Kirche und Friedhof, und rund um Oerlikon liegen noch weite Felder und Wiesen, aber durch die Bebauung mit Mehrfamilienhäusern wird der Ort immer städtischer. Das Gebiet zwischen Oerlikon und Zürich, der Milchbuck, ist Anfang der 1930er-Jahre erst dünn besiedelt, aber der Zug und eine elektrische Strassenbahn in die Stadt existierten seit Ende des 19. Jahrhunderts. Die 1912 eröffnete Radrennbahn im sumpfigen Ried am Rande von Oerlikon lockt nicht zuletzt dank diesen guten Verbindungen Tausende von Radsportfans an die Weltmeisterschaften von 1923, 1929 und 1936.


Die kleine Ruth in Oerlikon Ende der 1920er-Jahre. Den Mantel hat die Mutter selbst genäht.

Die stark wachsende Bevölkerung stellt die Gemeindeverwaltung vor immer grössere Herausforderungen. Man kommt nicht umhin, sich der Gas-, Wasser- und Elektrizitätsversorgung der Stadt Zürich anzuschliessen. Die vielen Aufgaben überfordern halbstädtische Gemeinden wie Oerlikon finanziell. In einer kantonalen Abstimmung stimmen die Zürcher der Eingemeindung von acht Vororten zu, und Oerlikon, Seebach und Schwamendingen werden am 1. Januar 1934 zum Stadtkreis 11.23 Nun braucht es natürlich eine Zunft. Paul Gattiker wird Zünfter, und man findet ihn abends oft dort, wo sich die aktiven Bürger von Oerlikon treffen und austauschen: im Hotel Sternen. Hier wird nach Kommissionsund Gemeinderatssitzungen geraucht, getrunken und weiterdiskutiert, und hier hat die Zunft St. Niklaus ihr Stammlokal.

Ruths Vater ist einer dieser aktiven, politisch und sozial engagierten Männer. Zu diesem Modell gehört die Rolle des Vaters als unangefochtenes Familienoberhaupt, so wie es das Schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB) in Art. 160 von 1907 bis 1987 vorsieht: «Der Ehemann ist das Haupt der Gemeinschaft. Er bestimmt die eheliche Wohnung und hat für den Unterhalt von Weib und Kind in gebührender Weise Sorge zu tragen.» Im darauffolgenden Art. 161 ZGB wird die Rolle der Frau definiert: «Die Ehefrau erhält den Familiennamen und das Bürgerrecht des Ehemannes. Sie steht dem Manne mit Rat und Tat zur Seite und hat ihn in seiner Sorge für die Gemeinschaft nach Kräften zu unterstützen. Sie führt den Haushalt.» Was aus heutiger Sicht überholt klingt, wird im Kommentar zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch von 1936 als Fortschritt gepriesen. Die Ehefrau begebe sich nämlich nicht mehr unter die «ehemännliche Vormundschaft» wie früher, sondern sei prozessfähig und Trägerin der elterlichen Gewalt. «Dass sie zur Berufsausübung der Zustimmung des Ehemannes bedarf, beeinträchtigt ihre Handlungsfähigkeit nicht»,24 heisst es. Heirat mache nicht mehr unmündig, sie mache im Gegenteil die noch unmündige Frau mündig, schreibt der Kommentator Prof. Egger. Ist nach dieser Logik die unverheiratete Frau also unmündig? Sie passt jedenfalls nicht in das gesetzlich und gesellschaftlich vorgesehene Rollenschema, das beide, Mann und Frau, in das vordefinierte Korsett von Familienoberhaupt und Hausfrau presst. Eine Rollenverteilung, die nur dort so klar funktioniert, wo der Mann genügend verdient. Für grosse Teile der damaligen Gesellschaft, von den Arbeiterinnen und Arbeitern über Dienstboten bis zu Witwen und den vielen Kleinbetrieben, die auf die Mitarbeit der Frau angewiesen sind, vom Restaurant bis zum Bauernhof, ist das Idyll der bürgerlichen Kleinfamilie mit Ernährer und Hausfrau reine Theorie. Sie ist das Ideal einer gebildeten Elite, welcher der Mittelstand, zu der Familie Gattiker gehört, nacheifert. Ruth Gattiker fasst die Situation zu Hause so zusammen: «Bei uns drehte sich alles um den Vater.» Sie aber wird ganz bewusst ein Leben wählen, das nicht den engen Standards entspricht, die ihr die Eltern vorleben und in der konservativen Schweiz noch lange nachhallen.

Bertha und Paul Gattikers Ehe entspricht der im ZGB vorgesehenen Form schon fast idealtypisch. Die Mutter verfügt über eine geringe Schulbildung. Sie ist Hausfrau und Mutter und erfüllt die Rolle der angepassten, liebevollen Frau eines weltgewandten, engagierten Ehemannes und Familienoberhaupts. Bei Gattikers bestimmt der Vater. Er verbietet der Mutter beispielsweise, in der Migros einzukaufen. Gottlieb Duttweilers innovative Ideen sind den Parteien, Politikern, dem Kleingewerbe und den Gewerkschaften jahrelang ein Dorn im Auge,25 und natürlich auch dem politisch engagierten Paul Gattiker. Die Mutter muss weiterhin im lokalen Lebensmittelgeschäft einkaufen, obwohl sie viel lieber beim Migros-Wagen einkaufen würde, wie ihre Tochter erzählt. Bertha Gattiker hört von anderen Frauen, dass es bei der Migros feine, frische Sachen gebe, aber sie fügt sich. Sie hat keine andere Wahl. Die Sozialkontrolle funktioniert. Die Frau eines Gemeinderats und FDP-Politikers kann sich nicht öffentlich mitten in Oerlikon am Migros-Wagen zeigen und damit den Mann desavouieren.

Bertha Gattiker erfüllt die Anforderungen an eine bürgerliche Ehefrau vorbildlich. Wie diese aussehen, wird in einer Anleitung von 1916 deutlich. Unter dem Titel Die Kunst mit Männern glücklich zu sein und sich die Liebe und Achtung derselben zu erwerben und zu erhalten heisst es: «Nimm an Allem, was Deinen Ehemann betrifft, zärtlichen Anteil / Weibliche Anteilnahme […] ist wahrer Balsam für das männliche Herz / Suche die Falten seiner Stirne zu erheitern / […] Mässige deine Launen […] / Diesem [dem Mann] sucht man immer zu gefallen, man studiert seine Neigungen, kommt ihm zuvor, zeigt in seiner Gegenwart das Herz und den Geist auf die vorteilhafteste Weise, kleidet sich sorgfältig, sucht sich in seiner Gunst immer mehr zu befestigen / Bei aller Deiner Sorgfalt werden Deine Reize doch früh genug welken. Dann ist es Zeit, dass Geist und Herz Deinen Mann mit Vergnügen unterhält / Trachte nicht nach einem Wissen von Dingen, welche nicht für Dein Geschlecht passen / Ermüde Deinen Mann nicht durch unnützes Geschwätz / […] Plage ihn nicht durch Eifersucht / Gib keine Gelegenheit zur Eifersucht / […] Und merkst Du ja einmal, dass seine Neigung schwankt, so suche ihn stillschweigend durch verdoppelte Gefälligkeit und kluge Liebe an Dich zu ziehen / Hüte Dich wohl, ihm irgendeine Art von Vorwurf darüber zu machen.»26

Obwohl sich Bertha Gattiker weitgehend an dieses Rollenschema hält, bedeutet es nicht, dass sie vollkommen machtlos wäre. Sie steht zwar auf der Seite ihres Mannes, nimmt ihn in Schutz, wenn er cholerisch wird. Er gibt den Ton in Erziehungsfragen an, und in Diskussionen um Ruths Ausbildungsweg hat der Vater das letzte Wort, aber Ruth macht auch die Erfahrung, dass die Mutter es ab und zu geschickt versteht, ihn mit geduldigem Zureden von den Wünschen der Tochter zu überzeugen. Diese innerehelichen Diskussionen gehören mit zum Rollenspiel und sind beispielsweise bei den Abstimmungen über das Frauenstimmrecht 1958 und 1971 jeweils ein wichtiges Argument der Gegner, weshalb die Frauen das Stimmrecht nicht bräuchten. Sie könnten ja über die Diskussion mit dem Ehemann zu Hause genügend Einfluss nehmen, wird argumentiert. Was müssen sie da noch selbst an die Urne? Als 1945 im Nationalrat über das Postulat Oprecht zur Einführung des Frauenstimmrechts diskutiert wird, formuliert der katholisch-konservative Nationalrat Karl Wick die Rolle der Frau im Staatswesen so: «Aber es darf doch gesagt werden […], dass die stille anonyme Arbeit der Frauen auch für die Gestaltung des staatlichen und sozialen Lebens etwas unendlich Wichtigeres sein kann als ihre Tätigkeit an der Urne. Der Ruf jedes ernsten Staatsmannes lautet heute: ‹Gebt uns wieder gute Mütter›, aber nicht ‹Gebt uns das Frauenstimmrecht› […] Eine politische Gleichschaltung von Mann und Frau in Form einer alles nivellierenden Demokratie wäre eine innere Verarmung unseres Staatslebens.»27 Ruth Gattiker ist eine 22-jährige Studentin, als Nationalrat Wick diese Ansichten äussert. Es werden nochmals 26 Jahre vergehen, bis die Schweizer Männer den Frauen das Stimmrecht zubilligen. Paul Gattiker stimmt übrigens an der Urne zweimal ja, vielleicht nicht zuletzt in Anbetracht des selbstbewussten Wegs, den seine Tochter geht. Die Publikation ihrer Habilitation und der erste Gang an die Urne fallen bei Ruth Gattiker im Jahr 1971 zusammen. Damals ist sie 48 Jahre alt und hat schon viel im Dienste der Allgemeinheit geleistet, nicht als Mutter, aber als Ärztin.

Ruth verehrt und liebt Bertha Gattiker für ihre Unterstützung, aber so wie sie will und wird sie nicht werden, das ist ihr schon früh klar. Wenn schon, dann ist ihr Rollenmodell der Vater, an dessen autoritärem Verhalten sie sich reibt, der sie mit seiner Sturheit herausfordert, den sie aber auch bewundert. Seine konservativen Ansichten, was sich für Mädchen und Frauen gehört, ärgern sie nicht, sie teilt sie einfach nicht, ganz selbstverständlich. «Für mich waren Frauen und Männer immer gleich», sagt sie, «in Geschlechterfragen war ich immer auf beiden Augen blind.» Das asymmetrische Verhältnis zwischen ihren Eltern hinterlässt bei ihr keinen Eindruck, höchstens den, dass es für sie nicht als Vorbild taugt. Sie ist sie und sie will das machen, was sie interessiert, nicht was die Gesellschaft für sie vorgesehen hat, weil sie zufälligerweise eine Frau ist.

Die Gattikers und Frischknechts – zwei unterschiedliche Welten verbinden sich

Begonnen hat alles fern von der Schweiz. 1919 oder 1920 lernen sich Ruths Eltern, Bertha Frischknecht und Paul Gattiker, in Ägypten kennen. Paul ist 1881 geboren. Er hat das Technikum in Winterthur besucht und arbeitet als Elektroingenieur für die Internationale Schlafwagengesellschaft (Compagnie Internationale des Wagons-Lits), die ihn nach dem Ersten Weltkrieg nach Kairo versetzt. Bertha Frischknecht ist 1888 geboren und als eine von vier Töchtern im sankt-gallischen Altenwegen in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen. Der Vater ist Sticker, man besitzt ein einfaches Haus ohne fliessendes Wasser draussen vor den Toren der Stadt. Bertha und ihre drei Schwestern – Ida, Luise und Lina – durchlaufen die Volksschule, danach arbeitet Bertha Frischknecht im Haushalt bei der Pfarrerfamilie Koller, mit der sie nach Kairo geht. Als Paul Gattiker nach Kairo versetzt wird, sucht er ein Zimmer zur Untermiete und findet es bei Kollers – und dazu auch noch seine zukünftige Frau.

Paul und Bertha kehren in die Schweiz zurück und heiraten am 18. November 1920. Das nicht mehr ganz junge Paar, der Vater ist 39, die Mutter 32 Jahre alt, bezieht eine Vierzimmerwohnung an der Nägelistrasse 2 (nach der Eingemeindung Begonienstrasse 2) in der Gemeinde Oerlikon. Am 22. Mai 1923 kommt Ruth Ida in einer Privatklinik am Zürichberg zur Welt. Den Namen Ruth hat die Mutter aus einem Roman. Über die Geburt hat man der Tochter nichts erzählt. Darüber wurde nicht gesprochen. Die zweite Tochter, Marianne Alice, wird am 10. September 1925 im Bethanienheim in Zürich geboren. Damit ist die Familie vollständig. «Dass wir nur zwei Kinder waren, war in unserer Familie nichts Ungewöhnliches. Das war auch bei anderen Onkeln und Tanten ähnlich so», sagt Ruth Gattiker.

Mit Bertha und Paul verbinden sich zwei Menschen sehr unterschiedlicher Herkunft. «Mein Vater hat von allen fünf Brüdern die ärmste Frau geheiratet», erzählt Ruth Gattiker, «aber alle ihre Schwägerinnen haben meine Mutter für ihr bescheidenes, stilles, aber bestimmtes Wesen verehrt.» Die Richterswiler Gattikers sind ein anderer Schlag als die einfache Familie Frischknecht aus der Ostschweiz.

Paul Gattiker ist der zweitjüngste von fünf Brüdern. Er kommt 1881 im Hotel Drei Könige in Richterswil zur Welt. Seine Eltern – Ruths Grosseltern – sind August Gattiker und Ida geborene Amsler. August ist Metzger und Hotelier. Die Familie ist seit dem frühen Mittelalter in Richterswil und Umgebung heimisch. Der Name Gattiker lässt sich bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgen. August Gattiker stirbt früh, 1888, mit 46 Jahren. Da sind die Söhne noch Kinder beziehungsweise halbwüchsig, Paul ist erst sieben Jahre alt. Die Mutter, Ida Gattiker-Amsler, ist eine tatkräftige Frau. Sie führt das Hotel weiter, stellt jemanden für die Metzgerei an und zieht ihre fünf Buben – August, Emil, Hans, Paul und Adolf – gross. August und Emil heiraten die Schwestern Lilly und Ernestine Sautter, die Töchter eines wohlhabenden Manufakturwarenfabrikanten in Richterswil. August lernt Kaufmann, heiratet Lilly und steigt ins Geschäft des Schwiegervaters ein. Er wird Teilhaber, engagiert sich als Gemeinderat und ist von 1920 bis 1935 freisinniger Kantonsrat. 1934/35 und von 1939 bis 1943 sitzt er für die FDP im Nationalrat. Hinzu kommen eine Reihe weiterer Ämter und Engagements, unter anderem ist er ein wichtiger Verbandspolitiker der Textilbranche und Mitbegründer mehrerer Verbände. Der Textilfabrikant und seine Frau haben vier Kinder, darunter Hermann Gattiker, der sich mit dem Vater überwirft, weil er, statt Wirtschaft zu studieren, Musikkritiker bei der Berner Zeitung Der Bund wird. Er macht sich zwischen 1940 und 1967 einen Namen mit den sogenannten Hausabenden für zeitgenössische Musik, die in seiner Wohnung an der Junkerngasse stattfinden. Hier haben junge Schweizer Komponisten die seltene Gelegenheit, ihre Werke aufzuführen. Ruth war, obwohl auch eine grosse Musikliebhaberin, nie an einem der legendären Hausabende ihres Cousins in Bern. Heute bekannt ist der Name eines Sohns von Hermann: Mario Gattiker, geboren 1956, ist von 2011 bis 2015 Leiter des Bundesamts für Migration und führt seit 2015 als Staatssekretär für Migration die Verhandlungen der Schweiz mit der Europäischen Union zur Beschränkung der Zuwanderung.

Die Gattiker-Brüder Paul und Hans pflegen engen Kontakt. Hans lernt Koch und Konditor, arbeitet dann in Paris und London und heiratet Anni Vogt, die mit der Familie Huguenin verwandt ist. So lernt Hans die Brüder Ernst und Albert Huguenin kennen, die seit 1886 in Luzern die Confiserie und Café Anglais Huguenin betreiben. Gemeinsam mit Hans Gattiker eröffnen sie 1912 in einem neu errichteten Gebäude an der Bahnhofstrasse 39 ein weiteres «Huguenin», das so gut läuft, dass es 1914 erweitert und 1922 in den ersten Stock ausgedehnt wird. Es ist auch das Stammlokal der Mitglieder des Grasshopper Club (GC). Paul und Hans treffen sich in den 1930er- und 1940er-Jahren fast jeden Samstag im «Huguenin». Sie sind Mitglieder des Fussballclubs GC. «Dort trafen sich die Arrivierten», sagt Ruth Gattiker. Sie selbst wird sich mit Anfang 20 ein Taschengeld bei Onkel Hans im Café Huguenin verdienen. Im Jahr, in dem sie die Minerva-Schule besucht, geht sie nach der Schule fast täglich ins Büro des «Huguenin» und widmet sich der Kontrolle der Weinbestände. «Ich musste die Abrechnungen mit den Beständen im Keller abgleichen und dafür sorgen, dass neuer Wein bestellt wurde, wenn er ausging. So habe ich viele Weinsorten dem Namen nach kennengelernt.» Mit dem Wein kommt sie so vorerst auf dem Papier in Berührung, mit dem Rauchen aber ganz praktisch. Die meisten Schüler der «Minerva» besuchen in der Pause das Kaffee Stark um die Ecke, und es gehört dazu, dass man dort eine raucht. Ruth macht mit. Ihr gefallen die weissen Schachteln mit dem goldenen, arabisch angehauchten Schriftzug «Turmac» am besten. Das wird ihre Zigarettenmarke. Sie raucht über 30 Jahre, aber nie mehr als fünf Zigaretten am Tag, für mehr wäre sowieso kaum je Zeit gewesen. Und sie betont, dass sie immer aus Genuss geraucht habe, in der Regel zusammen mit einem Kaffee. Mit Anfang 50 beschliesst sie aufzuhören, raucht ihr letztes Päckchen, und das wars. Einfach fällt es ihr nicht, aber ihr eiserner Wille hilft auch in diesem Fall.

Über die Familie von Bertha Frischknecht weiss Ruth Gattiker weniger zu berichten. Marianne Ricklin hiess die Grossmutter als Ledige. Sie kam aus dem Bernischen. Grossvater Frischknecht war ein Appenzeller aus Schwellbrunn. Er war Heimsticker, und Ruth erinnert sich vor allem noch an das Haus, wo man immer draussen beim Brunnen Wasser holen musste, und an den Gemüsegarten zur Selbstversorgung. Lina, eine der Schwestern der Mutter, ist mit einem Vertreter verheiratet, der ein Auto besitzt und durch das Appenzellerland fährt. Ruth verbringt als Kind mehrmals die Ferien bei Tante, Onkel und ihrer Cousine Bethli. Die Familie lebt ländlich in der Dürrenmüli, einem Weiler zwischen St. Gallen und Bodensee, in einem Bauernhaus mit angebauter Tenne und grossem Hühnerhof, Obst- und Gemüsegarten. «Der Onkel war vernarrt in seine Hühner. Wenn er abends heimkam, setzte er sich auf einen Tisch, den er ins Hühnergehege gestellt hatte. Seine Lieblingshennen sprangen ihm auf den Schoss, und er unterhielt sich mit ihnen.» Ruth ist gerne dort und mag das Leben auf dem Land.

Sie resümiert ihre Herkunft: «Ich komme aus keiner Akademikerfamilie. Die Gattikers waren gestandene Bauern, Handwerker und Bürger in Richterswil. Mein Onkel August war Fabrikant und Nationalrat. Onkel Hans hatte das berühmte Restaurant an der Bahnhofstrasse, und mein Vater war am Technikum in Winterthur, aber es waren keine Intellektuellen unter meinen Vorfahren. Niemand hat an der Universität studiert.» Das beginnt erst in Ruths Generation. Einige Cousins und auch eine Cousine, Dora Maria Kalff, Tochter von August Gattiker, absolvieren ein Hochschulstudium. Weil August viel älter ist als Paul und dieser erst spät Kinder hat, ist Dora fast 20 Jahre älter als Ruth. Die Cousine ist die einzige Frau, die Ruth in ihrer Kindheit kennt, die studiert hat. Ist es Zufall, oder sind es die Gene? Es fällt jedenfalls auf, dass sich die Kombination von Tatkraft und Intellekt bei beiden Frauen findet. Kalff lernt in der Schule Latein, Altgriechisch und später Sanskrit. Was Ruth Gattikers Faszination für das Griechische und die antike Philosophie sein wird, ist bei Dora Kalff die Faszination für den Orient und für asiatische Philosophie. Nach einer gescheiterten Ehe packt sie ihr Leben neu an, beginnt mit 42 Jahren Psychologie bei C. G. Jung zu studieren und entwickelt in den 1950er-Jahren die weltweit verbreitete Sandspieltherapie.28

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