Kitabı oku: «Trotz allem - Gardi Hutter», sayfa 5

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VORBILD ROSALIE

Gab es schon bisher viele Spannungen zwischen der kontrollierenden, strenggläubigen Mutter und der freiheitsliebenden Tochter, so nehmen sie im Laufe der Teenagerzeit noch zu. Umso mehr schätzt Gardi, dass es in ihrer Jugend ein Gegenmodell zu ihrer Mutter gibt: Rosalie Leupp, eine Freundin der Mutter. Gardi ist dankbar, wenn sie in der Familie Leupp ab und zu etwas andere Luft schnuppern darf. Rosalies Mann Theodor ist Chemiker und Theosoph, er arbeitet bei der Ems-Chemie. Die Familie lebt in Domat/Ems, und Gardi beschreibt Rosalie als Dame von Welt, als die einzige farbige Frauenfigur, die sie in ihrer Kindheit kennt. Leupps haben in Australien und Amerika gelebt, viel gesehen und erlebt. Die Freundin der Mutter schaut einmal im Jahr im Modehaus Hutter vorbei und kauft ein. Sie ist die Patentante von Erwin, und da sie immer heiss begehrte Bananen mitbringt, wird sie «Bananengotte» genannt. Gardi darf hin und wieder Ferien in Domat/Ems verbringen. Das geniesst sie sehr. Bei Leupps darf sie zum Frühstück so viel Zwieback mit Kirschmarmelade essen, wie sie möchte, und danach den ganzen Tag spielen. Aber es sind nicht nur die Freiheiten, die sie liebt, es ist auch der Eindruck, dass Rosalie Leupp sich für sie interessiert und von klein auf etwas Besonderes in ihr sieht. Gardi fühlt sich von ihr verstanden, gerade auch, als sie älter wird und zu rebellieren beginnt. Rosalie hört zu, diskutiert, nimmt sie ernst. Es tut Gardi gut, und sie sagt, sie habe die Freundschaft, die so entstanden sei, ein Leben lang weiter gepflegt und Rosalie bis ins hohe Alter besucht. Die ursprüngliche Freundschaft zwischen Irma Hutter und Rosalie Leupp beginnt mit den Jahren etwas zu bröckeln. Die Freundin scheint der Mutter etwas zu farbig und unkonventionell. Für Gardi aber ist und bleibt sie ein Anker, wenn sie schwierige Zeiten durchmacht. Dank ihr sieht sie auch, dass es andere Arten von Frauenleben gibt. Man kann sich anders kleiden, anders denken, offener und weniger strikt sein.

So gespannt das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter lange Jahre ist – im Rückblick kann Gardi Hutter auch Verständnis aufbringen. «Meine Mutter hat sich im Laufe ihres Lebens mit der vielen Arbeit im Modehaus, mit uns vier Kindern und dem Bemühen, immer alles richtig zu machen, sehr viel abverlangt und ist dadurch verhärtet. Sie hat viel geleistet und die Familie immer an die erste Stelle gesetzt. Es war ein anstrengendes, aufopferndes Leben, und ich habe es ihr sicher nicht leichter gemacht.»

KLEIDERSTREITIGKEITEN

Woran entzünden sich die Streitigkeiten mit der Mutter? Häufig am Thema Kleider. Damit verdienen die Eltern Hutter ihr Geld. Sie kleiden die Menschen in Altstätten ein. Sie wissen, wie man Kleider herstellt und verkauft. Es ist ihr Territorium, ihre Kompetenz und deshalb vielleicht auch ihre offene Flanke. Niemand kennt die Eltern so gut wie die eigenen Kinder. Und so beginnt Gardi, je älter sie wird, ihre Mutter bei diesem Thema herauszufordern. Als Gardi noch klein ist, muss sie sonntags zur Kirche und auf dem Sonntagsspaziergang nach dem Mittagessen Kleidchen und Lackschuhe tragen und darf nicht mit den Brüdern herumrennen. Dann wächst sie heran, und nun soll sie zum sonntäglichen Kirchgang immer das Neueste aus dem Geschäft vorführen. Die Brüder dürfen zwar auch keine Jeans tragen, aber es ist dennoch einfacher. Ein guter Anzug, Hemd und Krawatte reichen. Aber Gardi soll mal den neuen kurzen, dann den neuen langen Mantel tragen. Sie lehnt sich auf, will keine wandelnde Kleiderstange sein. «Meine Mutter und ich hatten jeden Sonntag Krach, es ging darum, was man in die Kirche anzieht. Und man darf nicht vergessen, Altstätten ist nicht Paris, meine Eltern hatten ein Kleinstadtgeschäft. Das meiste war Durchschnitt, es musste ja für eine breite Kundschaft passen. Daneben kauften sie vielleicht noch zwei, drei Modelle ein, die gerade als modisch galten, wenigstens in einer abgelegenen Kleinstadt. Und diesen letzten Schrei sollte ich dann tragen und fand es, je älter ich wurde, desto peinlicher. Selten war mal ein Stück darunter, das ich gerne ausführte. Ich wehrte mich, und es gab oft heftigen Streit. Ich merkte schon sehr früh, dass ich nie durfte, wie ich wollte, und die Mutter hat immer gestöhnt, ich sei von klein auf widerspenstig gewesen.»

Zu den verzweifelten Bemühungen der Mutter, aus Gardi ein wohlerzogenes, braves Mädchen zu machen, passt der Spruch, den sie der Tochter im Januar 1965 sorgfältig in Schönschrift ins Poesiealbum schreibt: «Üb immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab und weiche keinen Finger breit von Gottes Wegen ab, dies erwartet Deine Mutti».

Ein deutlicher Beleg dafür, was Gardi Hutter in privaten Aufzeichnungen dreissig Jahre später festhält und in den Gesprächen für dieses Buch fünfzig Jahre später erzählt: Sie erfährt als Kind nie bedingungslose Liebe. Anerkennung und Liebe werden in ihrer Erziehung an Voraussetzungen wie Wohlverhalten, Mithilfe und Gehorsam geknüpft. Das provoziert lange Zeit ihren Trotz, worauf die Mutter mit noch mehr Strenge reagiert – eine Abwärtsspirale.

Im Frühling 1966 beendet Gardi Hutter die sechste Klasse in der katholischen Mädchenschule in Altstätten. Sie könnte nun die lokale Sekundarschule besuchen, aber die Eltern beschliessen, dass sich etwas ändern müsse, bevor das widerspenstige Kind völlig aus dem Ruder läuft.

Für die 13-jährige Gardi Hutter, das «Bubenmädchen», das den grossen Brüdern nacheifert, sich ihre Freundinnen selbst aussucht und hinter dem Rücken der Eltern ihrem eigenen Kopf nachlebt, scheint ein Internat die beste Lösung. Betrachtet man aus heutiger Perspektive Gardi Hutters Schulzeugnisse, kann man sich nur wundern, weshalb man sie nicht direkt auf ein Gymnasium sandte. In jedem Fach stehen jeweils eine Fleiss- und eine Leistungsnote. In Fleiss hat sie durchwegs die Höchstnote Sechs. Bei den Leistungsnoten sieht es nicht viel anders aus, da wechseln sich Sechsen und Fünf bis Sechsen ab. Die tiefste Note im letzten Zeugnis der Primarschule ist eine Fünf im Schreiben. Sie ist eine Topschülerin, und ihre Noten spiegeln wider, was sie erzählt: dass sie unheimlich gerne zur Schule gegangen sei und gelernt habe. Doch eine höhere Bildung steht der Tochter erst einmal nicht offen. Und weil es kein Gymnasium vor Ort gibt, gehen auch die Brüder Fredi und Gilbert erst einmal in die Sekundarschule und wechseln danach auf eine Mittelschule etwas weiter weg in St. Gallen oder Sargans. Fredi erzählt, dass sich allerdings nicht die Eltern um seine höhere Bildung gekümmert hätten; es seien die Lehrer gewesen, die ihm aufgrund seiner guten Leistungen nach der Sekundarschule dazu geraten hätten.

Doch bei Gardi geht es nach der sechsten Klasse zunächst mal um ihren Widerspruchsgeist. Das wilde Kind soll gezähmt werden, bevor aus ihr eine noch wildere junge Frau wird. Stella Maris heisst ein katholisches Mädcheninternat in Rorschach. Es liegt nicht allzu weit entfernt, wird von Menzinger Schwestern geführt und geniesst einen guten Ruf. Dort soll sie die Sekundarschule besuchen, und die Nonnen sollen richten, wofür die Eltern zu wenig Zeit haben: aus der eigensinnigen Gardi Hutter eine fromme, wohlerzogene junge Frau machen.

1966 bis 1972
Vom Internat in die linke Szene von St. Gallen

Irma Hutter sitzt mit ihren vier Kindern im Wohnzimmer des neuen Hauses an der Parkstrasse in Altstätten. Sie trägt ein rosa Kleid mit schwarzem Kragen, umarmt Gilbert, hält seine Hand – ihr kleiner Liebling. Die ganze Gruppe schaut aufmerksam und etwas angespannt in Vaters Kamera, niemand lacht fröhlich. Über den vier Sitzenden thront Erwin, der Älteste. Es ist das Jahr 1965. Und es muss wieder ein Sonntag sein, denn Erwin und Fredi tragen die entsprechende Kleidung: weisses Hemd und Krawatte. Der Jüngste hat nach dem Gottesdienst womöglich die Kleider gewechselt. Schwer vorstellbar, dass er ohne Krawatte zur Kirche gehen durfte. Gardi wirkt brav mit ihren zwei Zöpfen, in Rock und rotem Pullover. Es passt zur Musterschülerin mit den ausgezeichneten Schulleistungen. Die symmetrisch ausgerichteten, olivgrünen Sessel im Vordergrund gehören zur neuen Einrichtung. Ihr kantiger Look erinnert an die amerikanische Fernsehserie «Raumschiff Enterprise». Vor den Fenstern hängen weisse Gardinen, flankiert von braun gestreiften. An der Wand ein Bild, in jeder Ecke eine Pflanze. In der Hutter-Welt herrscht Ordnung. In den USA ist in dieser Zeit die neue Bewegung der Hippies am Entstehen; die Flowerpower-Kinder, lange Haare, LSD, die Kritik an bürgerlichen Wohlstandsidealen – alles weit entfernt von Altstätten. Gardi wird ab nächstem Frühling das katholische Internat in Rorschach besuchen.

«Stella maris», Stern des Meeres, ist eine andere Bezeichnung für die Jungfrau Maria. Mit «Stella maris» riefen die Seeleute früher Maria als Schutzpatronin an. Für eine Schule nahe am Bodensee – dem schwäbischen Meer – also ein passender Name.

«Durch ein säulengeschmücktes Portal tritt man von Süden her durch ein geräumiges, mit der Statue der Stella maris geziertes Vestibul, durch dessen weite Glastüren der Blick durch Hof und Halle bis zum See schweifen kann, in das Gebäude ein», so beschreibt Architekt August Hardegger sein 1914 errichtetes Gebäude. Es ist ein grosszügiges, wohldurchdachtes Haus mit eigener Kapelle im Westflügel, mit Turnhalle, Rekreations- und Speisesaal, sechs Kabinen für den Klavierunterricht, mit genügend Schulzimmern, einem Lift und Abwurfschächten für die Wäsche bis ins Untergeschoss. Die Mädchen schlafen auf der dritten Etage in fünf grossen Schlafsälen mit je rund zwanzig Betten. Sie sind mit weissen Vorhängen voneinander getrennt. Um das Gebäude herum gibt es Spielplätze, einen Tennisplatz, Gemüse- und Obstgärten. Im Winter kann man am Hang schlitteln.

Von der Erstklässlerin bis zur 18-jährigen Handelskursabsolventin beherbergt das Haus 1966 insgesamt 293 Schülerinnen, darunter 134 Interne. Gardi Hutter ist eine von ihnen. Die 159 sogenannten Externen, die nicht im Haus wohnen, kommen aus Rorschach und Umgebung. Mit Gardi Hutter beginnt der letzte Klassenzug. 1969 schliesst die Schule nach über hundert Jahren katholischer Mädchenbildung. Grund ist der akute Mangel an Nachwuchs bei den Menzinger Lehrschwestern.

Das geistig enge und noch ganz auf sich bezogene katholische Milieu, das Gardi Hutter zu Hause und im Internat erlebt, ist im Begriff, sich aufzulösen, im Zuge einer immer mobiler, individueller und vielfältiger werdenden Gesellschaft. Der Vatikan hat zwar versucht, mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil Mitte der 1960er-Jahre und einigen Lockerungen auf die Veränderungen zu reagieren. Doch weil das Grundsätzliche gleich bleibt, sind immer weniger junge Frauen bereit, in ein Kloster einzutreten und für Gottes Lohn gute Werke zu tun. Wer die Fähigkeiten mitbringt und gerne Lehrerin werden möchte, hat nun genügend Alternativen, kann ein Lehrerseminar besuchen, anschliessend eine gut bezahlte Stelle an einer öffentlichen Schule finden und ein selbstbestimmtes Leben führen. Die Klöster verlieren damit endgültig ihre jahrhundertelange Funktion als einer der wenigen Orte für Frauenbildung. Demut und weibliche Aufopferung, die immer Teil davon waren, vermögen die neuen Generationen nicht mehr zu überzeugen. Doch als 1953 Geborene erlebt Gardi Hutter als Kind und Jugendliche noch die letzten Züge dieses Systems weiblicher katholischer Lehrerinnen- und Mädchenbildung.

Ein Kantonsrat und zwei tüchtige, wohlhabende Rorschacher Witwen stehen 1854 am Anfang der verbesserten Mädchenbildung im Ort. Sie sind nicht zufrieden mit der schmalen Primarschulbildung für die Mädchen in Rorschach und wollen etwas «zur christlichen Erziehung der Jugend beitragen». Die weiterführende Realschule steht nur den Knaben offen. Sie holen eine Lehrschwester aus Menzingen nach Rorschach. Für Frauen, die nicht heiraten und lieber in der Krankenpflege oder als Lehrerinnen arbeiten wollen, steht Mitte des 19. Jahrhunderts praktisch nur der Weg über eine religiöse Institution offen. Dort finden Frauen ein geregeltes, akzeptiertes Betätigungsfeld und eine Gemeinschaft, in der sie aufgehoben sind.

Weil die Geschlechterunterschiede im bürgerlichen Zeitalter ebenso stark betont werden wie in der katholischen Kirche, sind sich alle einig, dass Mädchen einen anderen Unterricht brauchen als Buben. Der Zweck der Rorschacher Mädchenschule wird so formuliert: «Unser Bestreben soll und wird es sein, nicht gelehrte, eitle, sondern bescheidene, gesittete, brave, für die Haushaltung tüchtige und brauchbare Töchter heranzubilden, zu ergänzen, was etwa in der Primarschule nicht erreicht wurde – und fortzufahren in Realien, die in ihren Kreis gehören.» An diesem grundsätzlichen Programm ändert sich bis zur Schliessung der Schule Ende der 1960er-Jahre kaum etwas, und Gardi Hutter erfährt während ihrer zwei Jahre in Rorschach in aller Deutlichkeit, was hinter diesem mehr als hundert Jahre alten Programm steckt.

EIN KOFFER VOLLER SCHÜRZEN

Im April 1966 betritt die 13-jährige Gardi Hutter mit ihren Eltern die Eingangshalle des grossen Gebäudes. Die Statue der Stella maris empfängt sie, Maria mit wallendem Gewand und Jesuskind auf dem Arm, beide mit Krone auf dem Kopf. Die neue Schülerin hat umfangreiches Gepäck dabei. Das Internat gibt klare Anweisungen, was alles mitzubringen ist: «ein marineblaues, einfaches Festkleid mit langen Ärmeln und weissem Krägli». Das ist die Schuluniform. Dazu Kleider und Mäntel für Sommer und Winter, «ausreichend Leibwäsche für einen Monat, wollene Unterwäsche für den Winter», Socken, Pantoffeln, Schuhe, Sportschuhe, wollene, lange Strümpfe für den Winter, Strümpfe, Kniesocken und Söckli für den Sommer, Badeanzug, genügend Handtücher, Waschlappen, Servietten, Serviettentäschchen, Taschentücher sowie «die notwendigen Schürzen (Schulschürzen, eine farbige Berufsschürze, drei Zierschürzen, eine lange, weisse Trägerschürze)» und «Überärmel für die Schule».

Die Schürzen und Überärmel passen zum Lehrplan für die Sekundarstufe: «Ein fehlerloses, gutes Deutsch, Gewandtheit im Rechnen, Grundkenntnisse der französischen und selbst einer zweiten Fremdsprache, Fertigkeit in einfacher und amerikanischer Buchhaltung, eine gewisse Portion hausfraulichen Könnens in Küche und Garten – das sind Fundamentalbedingungen fürs spätere Leben.»

Neben Deutsch, Französisch, Religionslehre, Rechnen, Geschichte, Geografie, Naturkunde, Zeichnen und Schönschreiben werden Handarbeit, Kochen und Haushaltskunde erteilt. Im ersten Jahr gehört dazu eine Einführung in die häuslichen Ordnungs- und Reinigungsarbeiten, in die Wohnungspflege, Putzmittelkunde, das Tischdecken und Servieren, die Tischmanieren und häuslichen Feste. Im zweiten Jahr gibt es wöchentlich drei Stunden Handarbeit und drei Stunden Kochen, inklusive Anleiten zum rationellen Arbeiten und Sparsamkeit. In der Hauswirtschaftskunde wird die Bedienung des Kochherds gelehrt, Sparmassnahmen und Einrichtungen in der Küche und die Grundlagen einer zweckmässigen Ernährung.

Gardi Hutter hat ihren ordentlich und sauber geführten Hauswirtschaftsordner aufbewahrt. Gleich der erste Absatz illustriert die Indoktrination der jungen Mädchen, wenn es heisst: «Was braucht es zu einem Heim? Keinen Luxus! – Es braucht opferstarke, mütterliche Frauen, die fähig sind, einen einfachen Raum mit wenig Geld hübsch und wohnlich einzurichten.» In sauberer Schönschrift hat Gardi Hutter es festgehalten. Man beachte die Unterstreichungen. Und auf die Frage, was die Wohnung zu einem Heim mache, lautet die Antwort, dass es vor allem an der selbstlosen Mutter liege, eine frohe und glückliche Atmosphäre zu schaffen. Akribisch werden den Mädchen Flick- und Stopftechniken wie «die glatte Stopfe» beigebracht. Wie verstaut man den Besen korrekt im Schrank? Womit putzt man den Boden? Wie geht man bei der Fensterreinigung vor? Zum Nachreiben wird Zeitungspapier empfohlen. Die Bewegungen, mit denen man Hirschleder und Schwamm über die Scheibe führen soll, zeichnet Gardi Hutter mit kleinen, roten Pfeilen sauber auf – welche Vergeudung von Potenzial. «Ich kann auf 16 Arten Socken flicken. Wir lernten, einen Raum oder Silber zu putzen und bekamen auch Tipps für die Ruhepause. Da könnten wir beispielsweise eine Frauenzeitschrift lesen», fasst Gardi Hutter es pointiert zusammen.

Um 6 Uhr wird aufgestanden, um 6.30 Uhr geht es täglich zur Messe, anschliessend gibt es Frühstück, dann Schule, Mittagessen, Schule, Zvieri, Hausaufgabenzeit, Abendessen und dann noch etwas freie Zeit, bevor es wieder früh zu Bett geht. Das Tuscheln durch die weissen Vorhänge in den Schlafsälen ist untersagt, was es umso spannender macht.

Ein täglicher Spaziergang an der frischen Luft gehört auch zum Programm. Die Mädchen gehen sittsam Hand in Hand zu zweien in blauer Schuluniform samt flachem Filzhut durch die schöne Bodenseelandschaft, am Anfang und am Ende der Kolonne eine Schwester in schwarzer Robe mit Schleier.

Gardi Hutter schafft es, noch im ersten Schuljahr einen kleinen Skandal zu provozieren. Die 13-Jährige schreibt ihrem Cousin Erich, ob er Lust hätte, mit ihr und ein paar anderen in den Herbstferien auf eine Velotour zu gehen. Erich ist ein, zwei Jahre älter und besucht als Priesterkandidat das Antonius-Konvikt in Pensier im Kanton Freiburg. Gardi denkt sich nichts Böses dabei. Anders der Rektor, welcher der «Schülerin Irmgard Hutter, Stella Maris, 9400 Rorschach» einen deutlichen Brief schreibt. Ihre Post an Erich wurde natürlich abgefangen, und Rektor Ludwig schreibt der verdutzten Gardi: «Es ist klar, dass wir unsere Juvenisten nicht unnötigen Gefahren aussetzen wollen.» Wenn Erich unbedingt mit Mädchen auf eine Velotour gehen müsse, sei das seine Sache, aber «was uns betrifft, so würden wir dann einfach sagen, dass er sein Studium anderswo fortsetzen sollte. Ich denke, dass Du nicht daran die Schuld tragen möchtest?» Selbstverständlich wird dieses Schreiben auch von der Schulleitung in Rorschach gelesen. Der «Skandal» fliegt auf. Die Eltern werden informiert, es gibt Aufruhr und Aussprachen, mit dem Ausschluss von Gardi aus dem Internat wird gedroht, aber am Ende beruhigen sich die Gemüter. Sie darf bleiben, und die Velotour findet ohne Cousin Erich statt.

BEATLES UND EXERZITIEN

Wer übers Wochenende in der Schule bleibt, hat etwas Zeit für sich. Gardi bleibt gerne und oft. Hier hat sie mehr Freiheiten als daheim, darf lesen, muss nicht mithelfen, und am Sonntagnachmittag dürfen die Mädchen Schallplatten auflegen, wozu sie zunächst brav zu zweit tanzen. Es sind Schlagerplatten oder Volksmusik. Doch dann kommt die grosse Entdeckung: Die 14-jährige Gardi hört das erste Mal «All You Need Is Love» von den Beatles und ist überwältigt von den ungewohnten, neuen Klängen. Was für eine Musik! Die Beatles brechen in die heile Internatswelt ein: «Da tat sich plötzlich die Tür zur grossen Welt einen Spalt weit auf. Ich war hingerissen, so etwas hatte ich noch nie gehört.» Gardi hat keine Ahnung, dass es dazu auch einen neuen Tanzstil gibt, bei dem man sich offen und frei bewegt. Ein Mädchen aus der Stadt weiss Bescheid und zeigt es den anderen. Der Spalt zur grossen Welt öffnet sich noch etwas weiter. Man kann sich den Kontrast zu dem, was die Schülerinnen sonst tun und hören oder an Lektüre in der Bibliothek finden, gar nicht gross genug vorstellen.

Dazu ein paar Beispiele. Vom 25. bis 27. Januar 1968 finden dreitägige Exerzitien in Stella Maris statt. Das bedeutet, dass die Mädchen drei Tage lang schweigen und sich mit dem Glauben auseinandersetzen müssen. Die Tage beginnen mit einer heiligen Messe um 7.30 Uhr, gefolgt von vier Vorträgen zu christlichen Themen, unterbrochen durch Pausen und Mahlzeiten, und enden abends um 19.15 Uhr mit der «Kreuzwegsandacht in der Kirche mit dem H. H. Exerzitienmeister». Gardi Hutter gefallen die stillen Tage, sie versucht ernsthaft, an alles zu glauben, was ihr in Predigten, Vorträgen oder in Büchern der Institutsbibliothek über Mädchen, Frauen und Weiblichkeit erklärt wird. In einem Buch wie «Christus und die Frau» des Freiburger Erzbischofs Conrad Gröber, das in der Institutsbibliothek steht, liest sie Sätze wie: «Das ist eben das Tragische an mancher Frau, dass sie, weil beweglicher und weicher, schwächer und hilfloser, dem Bösen und Boshaften umso leichter verfällt und dann, sei es aus sinnenhafter, massloser Liebe oder grenzenlosem, rachsüchtigem Hass oder gehetzt von andern, fast unerklärlichen Trieben wie eine Furie verlockt und sich verkrallt, verleumdet und vernichtet, bis sie zuletzt ihren eigenen Giftzähnen erliegt. Darum braucht auch gerade das Weib die Religion und deren Kraft noch fast mehr als der Mann, was sich auch schon in ihrer natürlichen Veranlagung äussert.»

Die Frau, das unerklärlich triebhafte Wesen, schwach und hilflos, das Hass und Liebe verfallen und damit zur Furie werden kann. Sie braucht die Religion, unbedingt und noch viel mehr als der Mann. Gardi fühlt sich als Mädchen von Natur aus schuldig, sündig, schmutzig, schlecht und weiss, dass sie nur mit viel Gebet und Opfer ein braves Mädchen und eine gute Frau werden kann. Und dann kommen die Beatles, machen keine Unterschiede und singen schlicht und einfach «All You Need Is Love» – und ein Tor geht auf. Sehnsucht nach der Welt und allem, was sie auch noch zu bieten hat neben Verklemmtheit und moralischen Schuldzuweisungen, keimt in Gardi Hutter auf.

Sie braucht je länger, je mehr Gegenwelten, eigene Welten, und sie findet sie im Kopf. Am Sonntag legt sie sich aufs Bett, schliesst die Augen und träumt sich stundenlang weg. Sie lässt ihrer Fantasie freien Lauf: «Ich malte mir die tollsten Geschichten an exotischen Orten aus. Darin kamen der Dschungel, Lianen, Pferde, Prinzen, Abenteuer, Helden und Räuber vor. Es waren Kopfreisen. Unser Alltag war so eintönig und ereignislos, da habe ich mir einfach Abenteuer und Romanzen erfunden.»

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