Maritime Erzählungen - Wahrheit und Dichtung (Band 2)

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Sie spielten mit den Geschenken bis in den späten Abend hinein. Am Morgen des ersten Weihnachtstages kam Hildegard und schenkte Hans und Robert zwei schöne rotbäckige Äpfel und eine kleine runde geräucherte Blutwurst. Hans bedankte sich bei Hildegard, wünschte ihr und den Eltern ein schönes Weihnachtsfest und schenkte ihr einen besonders großen Tannenzapfen, den er im Wald gefunden hatte.

„Was gibt es heute Mittag zu essen? Es riecht so gut und einmalig“, fragte Hans neugierig die Mutter.

„Heute gibt es ‚Falschen Hasen‘, gebraten und gekocht, Pellkartoffeln und Soße“, antwortete die Mutter.

„Was ist der Unterschied zwischen einem ‚falschen‘ und einem ‚richtigen‘ Hasen“, fragte Hans interessiert die Mutter.

„Falsche Hasen leben im Wald und richtige Hasen im Stall“, sagte die Mutter ganz leise. Hans fragte nicht weiter. Wichtig ist, dass er uns alle satt macht und gut schmeckt, dachte Hans.

Der falsche Hase hatte allen geschmeckt. Hauptsache Hase, ob falsch oder richtig, dachte die Mutter und füllte den Teller zum zweiten Mal bis zum ersten Rand.

Nachmittags war Gottesdienst. Es waren viele Leute gekommen. Die Kirchenbänke waren alle besetzt. Die Gesangbücher reichten nicht für alle und so teilten sich immer zwei Besucher ein Buch. Es wurden Weihnachtslieder gesungen. Hans musste fortlaufend den Blasebalg treten. Ein Flüchtling aus Danzig spielte auf seiner Geige das Lied „Stille Nacht“. Es erwärmte die Herzen der Anwesenden. Alle sangen laut mit und hatten glänzende Augen. Die Älteren unter ihnen weinten. Viele dachten an die an der Front gefallenen Söhne, an die Heimatdörfer, aus denen sie geflüchtet oder vertrieben worden waren. Am Ende des Gottesdienstes verabschiedete sich der Pastor bei allen Gekommenen. Hans läutete die Glocke, bis der letzte Besucher die Kirche verlassen hatte und übergab dann die Kollekte dem Pastor.

„Frohe Weihnachten, Frau Solltau! Im neuen Jahr erhalten sie den Lohn für die geleisteten Dienste“, sagte der Pastor und verabschiedete sich.

*

Bis zum Beginn des neuen Jahres hatte Hans Ferien. Es hatte geschneit. Hans und Robert bauten auf dem Bauernhof einen Schneemann. Ein kaputter Stahlhelm, ein kleiner Ast, eine zerfrorene Mohrrübe und schwarze Kohlenstücke schmückten diesen. Frau Pfeiffer hatte Plätzchen geschenkt, die Hans und Robert mit der Mutter nachmittags zum heißen Lindenblütentee gemeinsam aßen.

Die folgenden Wochen und Monate verliefen annähernd so wie die vergangenen Wochen. Am Fastnachtstag ging Hans von Bauernhof zu Bauernhof und sang das Lied vom „Kleinen König“. Die Mutter hatte für ihn eine Larve aus Papier gefertigt und bemalt, die Hans sich vor das Gesicht band. In der Hand hielt er einen Stoffbeutel, in welchen er die geschenkten Sachen hineinlegte. Es waren Kuchen, Bonbons, Äpfel und getrocknete Pflaumen, die er von den Bauern erhalten hatte und zu Hause mit Robert teilte.

Frau Solltau sammelte mit Frau Fettig in den folgenden Tagen wieder trockenes Holz im Wald. Die kalten Temperaturen machten das Leben unerträglich. Einmal gab es durch die Gemeindeverwaltung Braunkohlengruß für Familien mit Kindern. Auch Frau Solltau erhielt eine begrenzte Menge. Hans holte den Braunkohlengruß im Eimer von der Ausgabestelle der Gemeinde und schüttete diesen in den Kohlenkasten, in der Nähe des Ofens. Die Mutter half Hans beim Ausschütten. Er lief mehrmals zur Abgabestelle. Sein Gesicht war mit Schweiß- und Kohlenstaub bedeckt. Im Auftrag der Mutter brachte er einen vollen Eimer mit Kohlengruß zu Frau Fettig. Sie hatte keine Kinder und war gehbehindert.

„Für dich habe ich einige Kekse, die ich selbst gebacken habe. Hoffentlich schmeckten sie dir?“, sagte Frau Fettig und streichelte Hans über die dünnen Wangen.

„Danke! Frau Fettig, ich werde sie mit Mutti und Robert teilen“, sagte Hans und beabsichtigte noch einen Eimer mit Gruß zu holen. An der Ausgabestelle hatte der Angestellte festgestellt, dass Hans schon mehrmals Kohlen geholt hatte.

„Du bekommst nichts mehr, geh nach Hause, du Kohlenklau“, sagte er erbost und drohte mit der Kohlenschaufel.

Hans ging nach Hause, gab die Kekse der Mutter und wusch sich das verschmutzte Gesicht und die Hände. Danach setzte er sich auf den mit einem Deckel verschlossenen Kohlenkasten und las eine spannende Geschichte aus einem Buch, das Frau Seitz ihm geschenkt hatte.

Abends gingen Hans und Robert in den Pferdestall. Der Knecht fütterte die Pferde des Bauern. Er machte die Tröge sauber, mistete aus, schüttete Hafer in die Tröge und gab den Pferden Wasser zum Saufen.

Danach striegelte er die Pferde. Hans durfte helfen. Robert schaute zu. In Ostpreußen hatte der Opa auch Pferde gezüchtet. Hans erinnerte sich gern an die Zeit zurück.

Die Tage vergingen schnell. Die Mutter arbeitete bei den Bauern, sobald sie gebraucht wurde. Im Winter half sie beim Dreschen des im Herbst eingefahrenen Getreides, im Frühjahr bei der Bodenbearbeitung. Sie besserte die Kleidung der Bauern aus und sammelte Holz. Hans ging täglich und gerne zur Schule.

Im Frühjahr wurde es wärmer. Jetzt ging er barfuß. Seine Füße waren immer schwarz vom Öl des Holzfußbodens im Schulraum. Abends schruppte Hans die Füße mit einer harten Bürste sauber. Die Mutter half ihm dabei. Barfuß gehen war für Hans ein schönes Gefühl. Gern ging er im Matsch und in den Wasserrinnen, ungern auf Stoppelfeldern. Die Stoppeln zerspickten und zerkratzten die Knöchel, die dann beim Waschen besonders wehtaten.

*

Frau Solltau bereitete die Reise zu Opa und Oma vor. Bettwäsche und persönliche Kleidung wurden in die Koffer gepackt. Opa erhielt Schnupftabak, den Frau Solltau für ein Paar Ohrringe eingetauscht hatte. Die Mutter sollte Kernseife bekommen. Anfang Juli wurde die Reise angetreten. Nach zwei Stunden Fußmarsch erreichte die kleine Familie den Bahnhof. Die Zugfahrt dauerte zwölf Stunden. Die Reisewagen waren überfüllt. Freie Sitzplätze gab es nicht mehr und so saßen die Kinder auf den Gepäckstücken. Sie mussten mehrmals umsteigen, bis der Zug mit vier Stunden Verspätung den Zielbahnhof erreichte. Opa und Oma warteten mit den Pferden und einem kleinen Kastenwagen vor einem kleinen alten Bahnhof. Oma, Opa und die Mutter weinten und schluchzten. Drei lange Jahre hatten sie sich nicht gesehen. Inzwischen war viel passiert. Der Sohn und Bruder war zum Kriegsende in Albanien gefallen. Andere Verwandte waren auf der Flucht gestorben. Tante Anna, die Schwester der Mutter, war als Rotkreuzschwester bei den Engländern in der Kriegsgefangenschaft.

Die Großeltern waren über den Landweg von Ostpreußen mit einem Gespann in Richtung Westen geflüchtet und über schlechte Straßen bis nach Westmecklenburg gefahren. Hier erhielten sie in einem kleinen Ort, bei einem armen Bauern, einen Schlafraum. Dort durften sie auch ihre Pferde und den Wagen unterstellen und bleiben. Der Bauer gab ihnen Essen zu den Mahlzeiten. Am Tage arbeiteten die Großeltern im Stall, in der Scheune und auf dem Feld. Der Bauer selbst hatte keine Kinder, die Hausarbeit machte eine Wirtschafterin. Er lebte mit seinen Eltern in einem mit Reet gedeckten Haus. Wohnanlage, Stallungen und Tenne waren unter einem Dach.

Auf den Besuch der Tochter und Enkelkinder haben sich die Großeltern sehr gefreut. Der Opa nahm Hans in seine starken Arme.

„Mein Söhnchen, bist du groß geworden“, sagte er zu Hans.

„Opa, ich freue mich hier bei dir zu sein. Das sind ja unsere Pferde aus Ostpreußen. Darf ich reiten?“, fragte Hans.

„Du darfst kutschieren“, sagte der Opa und meinte es ernst.

Bei der Ernte brauchte der Bauer jede Hand. Nach einer halbstündigen Kutschfahrt waren sie im Dorf angekommen. Sie brachten das Gepäck in den Wohn- und Schlafraum der Großeltern. Dann wurde die kleine Familie dem Bauern vorgestellt und jeder erhielt eine warme Mahlzeit.

Es war ein schöner Sommertag. Frau Solltau ging mit den Kindern nachmittags mit aufs Feld. Opa und der Bauer mähten das Getreide mit einer Sense. Frau Solltau band die gemähten Getreidehalme zu Garben und stellte diese zu Hocken auf. Hans half beim Aufstellen. Gegen Abend holte Opa den Leiterwagen und die schweren Garben wurden aufgeladen. Der hoch beladene Wagen wurde auf die Tenne des Hauses gefahren. Die Garben wurden unter das Dach des Hauses gestakt und sollten im Spätherbst und Winter gedroschen werden.

Hans durfte, wie Opa es versprochen hatte, kutschieren. Das seitliche Gehen neben dem Fuhrwerk und die Handhabung der Zügel bereiteten ihm Schwierigkeiten, was der Opa erkannte. Auf der Fahrt zurück zum Feld durfte Hans reiten und vom Pferd aus kutschieren. Der Wallach war ein großes ruhiges Pferd und ließ sich mit den Zügeln und durch Zurufen leicht lenken. Die daneben laufende Liese richtete sich nach dem Wallach. Das klappte ganz gut und machte Hans Spaß. Er wurde schnell sicher beim Führen der Pferde. Der Opa begleitete den Wagen bei mehreren Fahrten. Schnell kletterte Hans über die Deichsel auf den Pferderücken des Wallachs, griff nach den Zügeln, rief „hüh, hüh“ und los ging die Fahrt mit dem voll mit Getreidegarben beladenen Wagen. Auf dem Rücken des Pferdes lenkte Hans den Wagen auf der Straße bis zum Feld, auf dem Feld und zurück. Der Opa erklärte Hans das Anhalten des Gespanns. „Halt, Rudi“, rief der Opa. Rudi blieb stehen und mit ihm die Liese.

In den folgenden Wochen wurde das gereifte Getreide – Weizen, Gerste und Hafer – gemäht und in Garben gebunden. Diese wurden in Hocken aufgestellt. Nachmittags wurden die Garben auf den Leiterwagen geladen und auf die Tenne gefahren.

Hans spannte die Pferde aus und an einen abgeladenen Wagen an. Er brachte das Gespann zurück aufs Feld, wo der Bauer, Opa und die Mutter schon warteten. Robert blieb in dieser Zeit bei der Oma.

Nachmittags erhielt Hans von der Wirtschafterin einen Korb voll mit beschmierten Brotscheiben und zwei Kannen Malzkaffee. Im Schatten einer Hocke aßen Hans, Opa und die Mutter das mitgebrachte Brot. Hans war glücklich. Die Sonne schien den ganzen Tag. Abends ging er mit Robert in einem kleinen Bach, der sich in der Nähe des Hauses hinschlängelte, baden. Die Ferien vergingen für Hans und Robert wie im Fluge.

 

„Warum bleiben wir nicht beim Opa und der Oma? Hier ist es so schön. Die Schule ist in der Nähe, keiner hungert, der Bauer ist freundlich“, fragte Hans die Mutter.

„Wir müssen in dem zugewiesenen Ort bleiben. Dort erhalten wir unsere Lebensmittelkarten. Du möchtest doch nicht immer mit Opa in einem Bett schlafen?“, fragte die Mutter Hans nachdenklich.

Hans verließ die Mutter und ging zu Liese und Rudi in den Stall. Dort fütterte er die Pferde mit Haferähren aus der Hand, striegelte und putzte sie, bis die Hände wehtaten. Es war ein Abschied auf lange Zeit. Am frühen Morgen brachte Opa die kleine Familie zum Bahnhof. Am späten Abend war sie nach einer langen Bahnfahrt und einem zweistündigen Fußmarsch wieder im zugewiesenen Zuhause, in Gutshof. Die Großeltern hatten sie ausreichend mit Lebensmitteln versorgt. Wurst, Schmalz, selbst gemachte Butter, Äpfel und zwei Weizenbrote hatte Hans in seinem Rucksack.

*

In der Zeit der Schulferien gab es keinen Gottesdienst. Es wurden auch nicht die Glocken geläutet. Heute begann Hans wieder mit dem täglichen Läuten der Glocken. Hans packte die Schultasche ein und spitzte die Bleistifte an.

„Morgen gibt es vielleicht neue Bücher“, sagte Frau Solltau zu ihrem großen Sohn.

„Am letzen Tag habe ich Rudi Haare aus der Mähne geschnitten, die ich in die Federtasche legen möchte“, sagte Hans.

„Hoffentlich denkst du während des Unterrichts nicht immer an die Pferde“, warnte die Mutter besorgt und legte einen neuen Radiergummi in die Federtasche.

Am ersten Schultag musste Hans dem Lehrer das von der Mutter unterschriebene Zeugnis vorlegen. Es war ein gutes Zeugnis. Die Mutter hatte es mit einem gewissen Stolz unterschrieben. Für Fleiß und Betragen hatte Hans eine „Eins“ erhalten. Sie war zuversichtlich, dass er auch weiterhin gern die Schule besuchte.

Frau Solltau arbeitete täglich für den Lebensunterhalt der kleinen Familie. Feldarbeit bei den Bauern, Ausbessern der Kleidung für die Bauern und Landarbeiter, Reinigung der Kirche, Vorbereitung der bescheidenen Mahlzeiten für die Kinder, das Waschen der persönlichen Kleidung und sammeln von Holz bestimmten den Tagesablauf. Die Lebensbedingungen hatten sich nicht wesentlich verbessert. Kriminalität, insbesondere Diebstähle, nahmen zu. Die Bauern lieferten häufig nicht, wie gefordert, die Feldfrüchte an die zentral eingerichteten Stellen ab. Kartoffeln, Getreide wurden versteckt, sogar eingegraben. Tiere wurden „schwarz“ geschlachtet. Nachts kamen „Banden“ in das Dorf, die Tiere aus den Ställen stahlen. Tagsüber kamen Männer und Frauen, aber auch Kinder, die Sachen wie Uhren, Schmuck und Porzellan gegen Lebensmittel tauschten. Gestohlen wurde alles, was leicht zu haben war. Gewaschene Wäsche wurde nur noch in den Innenräumen getrocknet. Eine Familie hatte ein Pflegekind aufgenommen, um zusätzliche Lebensmittelmarken zu erhalten. Das Kind war aufgrund von Unterernährung verstorben, weil die Pflegeeltern die Lebensmittel für sich selbst verbrauchten. Infektionskrankheiten nahmen zu. Einige Kinder starben an Typhus, Tuberkolose und Scharlach. Hans trug wiederholt bei den Beerdigungen das Kreuz, einen Stab mit Jesus Christus, zum aufgeschaufelten Grab des jeweilig Verstorbenen. Der kalte Winter war für alle eine schwere Bürde, besonders für die Flüchtlinge, sie hatten keine Lebensmittelreserven und lebten von der Hand in den Mund.

Einige Bauern durften amtlich genehmigt ein Schwein schlachten. Dieser Tag war ein besonderer Tag für diese Familie, aber auch für die Kinder der Flüchtlinge. Das Schwein wurde auf dem Hof des Bauern geschlachtet. Es wurde an den Ohren und am Schwanz aus dem Stall gezerrt und spürte das kommende Ende. Es schrie und sperrte sich nach allen Richtungen. Der Schlachter schlug dem Schwein mit der Axt auf die Stirn. Es war sofort tot. Danach stach er mit einem schlanken und scharfen Messer in den Hals und ließ es ausbluten. Das Brühen des Schweines und die Entfernung der Borsten erfolgten in einem großen Bottich. Auf einer Leiter hängend wurde es ausgeschlachtet und zu Schinken, Kochfleisch und Wurst verarbeitet. Das Fleisch und die Wurst wurden in großen Töpfen auf einem großen Herd gekocht.

Die Fleisch-Wurstbrühe, auch Wurstsuppe genannt, holten die Kinder im Essgeschirr, das die Soldaten im Krieg verwendet hatten, vom Bauern. Auch Hans holte sich die unentgeltliche Kost nach Hause.

Da die Mutter oft die Kleidung für die Bauern ausbesserte, legten einige zusätzlich ein Stück Wellfleisch oder eine kleine Leberwurst in das Behältnis.

Zu Hause war die Freude groß. Für die kleine Familie war diese Zugabe ein Geschenk des Himmels.

*

Kurz vor Ostern erfuhr Frau Solltau von ihrem Vater, dass die Oma an einer Lungenentzündung verstorben war. Sofort fuhr sie zu ihm, um ihm beizustehen. Die Kinder nahm sie aufgrund der zu erwartenden Strapazen nicht mit. Frau Fettig passte auf Robert auf. Bei ihr erhielt er seine Mahlzeiten und wohnte bis zur Rückkehr der Mutter in ihrer kleinen Wohnung. Hans blieb allein, erhielt aber vom Bauern das vereinbarte Essen zu den Mahlzeiten.

„Mutti! Du brauchst dir keine Sorgen zu machen“, sagte Hans beim Abschied zur Mutter.

Die Mutter wusste, dass auf ihn Verlass war.

„Warum ist die Oma gestorben?“, fragte Hans traurig.

„Durch die Strapazen auf der Flucht war sie körperlich geschwächt und hatte keine Abwehrstoffe mehr. Eine Erkältung führte zur Lungenentzündung. Sie sagte mir, als wir abfuhren, dass sie nicht mehr leben will“, antwortete weinend die Mutter.

„Opa ist jetzt ganz allein. Vielleicht könnten wir bei ihm wohnen?“, fragte Hans hoffnungsvoll.

„Leider geht es nicht“, antwortete die Mutter und verabschiedete sich weinend von Hans.

„In acht Tagen bin ich wieder zurück“, waren die letzten Worte der Mutter.

Nach einer Woche war Frau Solltau wieder zurück. Sie hatte dem Vater in den schweren Stunden beigestanden. Die Oma wurde in einem schlichten Sarg auf dem Kirchfriedhof begraben. Keine weiteren Verwandten waren anwesend. Ihr Sohn war in Griechenland gefallen und Anna war noch in der Kriegsgefangenschaft. Zu weiteren Verwandten gab es keine Kontakte. Alle Anfragen bei den Suchdiensten waren bisher ohne Erfolg geblieben.

„In den Sommerferien werden wir dich wieder besuchen“, tröstete Frau Solltau ihren Vater beim Abschied.

„Sag den Kindern, dass ich zu Pfingsten zu Besuch komme“, versprach der Opa und verabschiedete sich bei seiner Tochter.

*

Hans und Robert waren froh, als die Mutter wieder zurück war. Das tägliche Leben verlief jetzt wieder in den gewohnten Bahnen. Frau Solltau arbeitete auf den Feldern der Bauern. Mist streuen, Kartoffeln legen, Futter-, Steck- und Zuckerrüben verhacken und verziehen waren bei allen Bauern angesagt. Auch die Hände der Kinder waren gefragt. Hans verzog nach dem Unterricht auf abgesteckten Teilen der Felder die Rübenpflanzen für ein kleines Entgelt. Der Abstand der verzogenen Pflanzen wurde durch den Bauern ständig überprüft. Robert war noch zu klein für diese Tätigkeit.

Zu Pfingsten kam der Opa, wie er es versprochen hatte, zu Besuch. Die Freude war groß. Hans zeigte ihm das Dorf. Gemeinsam gingen sie durch die Dorfstraßen und schauten sich die Häuser an. Opa war ein stattlicher Mann, breitschultrig, sehr groß und stark wie ein Baum.

Er trug die Uniform des Postbeamten. Die Kinder im Dorf staunten. Hans hielt stolz die Hand seines Opas fest.

„Wann fahren wir nach Ostpreußen? Ich möchte wieder in unser Dorf zurück. Hier gefällt es mir nicht“, sagte Hans traurig und fordernd.

„Wir müssen hier bleiben. Die Russen wohnen jetzt in unserem Haus. Uns gehört nichts mehr“, sagte der Opa bedrückt. „Viele Menschen haben die Heimat verloren. Alle müssen neu beginnen. Vielleicht kannst du unser Haus noch einmal sehen, wenn du groß bist“, tröstete der Opa sein Söhnchen.

Nach den Pfingstfeiertagen fuhr er wieder zurück nach Mecklenburg. Frau Solltau und Hans brachten ihn zum Bahnhof.

„Bleib gesund, bald sehen wir uns wieder“, sagte Hans zu seinem Opa und drückte seine große Hand.

Der Personenzug fuhr pünktlich ab, Hans wartete und winkte auf dem Bahnsteig, bis der Zug nicht mehr zu sehen war. Er freute sich schon jetzt auf die Sommerferien. Rudi und Liese reiten, Getreide auf dem Leiterwagen in die Tenne fahren, im Bach baden, davon träumte er.

*

In den Wochen bis zu den Sommerferien arbeitete Frau Solltau auf den Feldern der Bauern. Sie besserte weiter zerschlissene Kleidung aus. Wiederholt brachte man ihr auch Kinderkleidung von Flüchtlingen und Vertriebenen. Die Kleidung der Älteren trugen, soweit es möglich war, die Jüngeren. Was nicht passte, wurde häufig durch Frau Solltau passend gemacht.

Es waren inzwischen weitere Kinder in seine Klasse gekommen. Einige davon waren zugezogene Flüchtlingskinder. In einem Schulraum wurden jetzt zwei Klassen unterrichtet. Für die Schüler und Lehrer trat eine Verbesserung der Unterrichtsbedingungen ein. Hans brauchte eine neue Tafel. Die Linien auf der Papptafel waren zerkratzt und so waren die geschriebenen Buchstaben nicht mehr zu lesen. Frau Solltau tauschte eine richtige Schiefertafel bei einer Bäuerin gegen Haarwickler ein, darüber freute Hans sich sehr. Jeden Tag wurden die geschriebenen Zahlen und Buchstaben mit einem nassen Lappen abgewischt. Das Geschriebene sah immer sauber aus. Es wurde aber nicht mehr nur auf der Schiefertafel geschrieben. Hans schrieb in der dritten Klasse schon in Heften mit Linien und Kästchen. Er benutze einen Bleistift, den die Mutter immer abends mit einem scharfen Messer anspitzte. Falsch geschriebene Wörter und Zahlen wurden ausradiert.

Eine Woche vor den Sommerferien erhielten Frau Solltau und Hans vom Pastor den Lohn für die geleisteten Dienste des vergangenen Jahres. Das Geld reichte aus, um die Fahrkarten für die Hin- und Rückfahrt nach Mecklenburg zu bezahlen.

Am Tag vor den Ferien verteilte der Lehrer die Zeugnisse. In den Kopfnoten hatte Hans eine Eins, im Lesen und Schreiben und Rechnen auch eine Eins. Hans und die Mutter waren sehr zufrieden. Für das sehr gute Zeugnis schenkte Frau Solltau ihrem Sohn eine neue selbst geschneiderte kurze Hose und einen Bleistiftanspitzer, den sie für ein Ei eingetauscht hatte. Am darauffolgenden Tag fuhr die kleine Familie wieder nach Mecklenburg.

*

Spät abends holte sie der Opa mit dem Pferdewagen ab. Rudi wieherte, als er die kleine Familie wiedersah. Alle freuten sich auf das ersehnte Wiedersehen. Die Wirtschafterin hatte den Ankömmlingen ein warmes Essen, Kartoffelsuppe mit Speck, zubereitet. Opa spannte die Pferde aus und brachte sie in den Stall. Hans war mit dabei. Er schaute Rudi in die großen Augen und streichelte ihm die Mähne.

„Morgen sind wir wieder zusammen“, sagte er leise zu dem Pferd.

Nach dem Essen gingen alle müde zu Bett. Frau Solltau schlief mit Robert, Hans und Opa im selben Bett. Der Raum war sehr klein. Ein weiteres Bett ließ sich nicht aufstellen.

Am folgenden Morgen stand Hans früh auf und lief eilig in den Stall zu Rudi und Liese. Opa hatte beide schon gefüttert. Er streichelte beide Tiere und half Opa beim Ausmisten. Nach dem Frühstück fuhr die kleine Familie aufs Feld. Der Opa und der Bauer mähten mit der Sense den Winterweizen wie im letzten Jahr. Die Mutter band aus dem gemähten Getreide die Garben und stellte diese zur Hocke auf. Hans spielte mit Robert im Schatten einer solchen. Er öffnete mit einer kleinen Hacke die Mäusegänge zwischen den Stoppeln. In diesem Jahr gab es viele Mäuse, die schon auf dem Felde einen großen Schaden anrichteten. Ab und zu gelang es Hans eine Maus zu fangen und zu töten. Dabei hatte eine Maus Hans in ihrem Überlebenskampf in die Hand gebissen. Opa hatte ihm Jod, das er ständig bei sich trug, auf die Wunde gegossen. Bald waren die Schmerzen vorbei und die Mäusejagd begann von neuem.

Die Ernte war im vollen Gange. Die Bauern im Dorf ernteten vom frühen Morgen bis zum späten Abend auf den Feldern. Unterstützt wurden sie durch Vertriebene und Flüchtlinge des Dorfes. Hans brachte, wie im vergangenen Jahr, die vollen Getreidewagen zum Abstaken in die Scheune. Zu den Mahlzeiten bekam er deshalb kräftige mecklenburgische Kost. Mittags gab es Kartoffeln, frisches Gemüse und immer etwas Fleisch. Zum Frühstück selbst gebackenes Weißbrot und Butter, zum Abendbrot Suppe und Bratkartoffeln mit Speck. Er war sehr, sehr zufrieden.

 

Langeweile gab es nicht. Frische warme Sommerluft, das Reiten der Pferde, schmackhafte und nahrhafte Speisen, mehr wünschte er sich nicht. Sein Körper war von der Sonne gebräunt. Unbekümmert verbrachte er seine Ferien. Der Bauer war freundlich und mit seiner Arbeit sehr zufrieden. Sein Opa war stolz, ein „Söhnchen“, wie er es war, zu haben.

*

So verging Woche für Woche der schönen Sommerferien, bis sich etwas Unvorstellbares ereignete. Der Opa bekam hohes Fieber. Der herangeholte Arzt stellte Typhus fest. Opa wurde in das Krankenhaus nach Grevesmühlen gebracht. Dort verstarb er. Der Tod von Opa machte Hans kopflos. Alle seine Träume waren nicht mehr erfüllbar. Den Weg nach Ostpreußen gab es nicht mehr. Er blieb immer in der Nähe der Mutter und half dort, wo er gebraucht wurde. Er war in dieser schweren Zeit eine Stütze für sie. Zusammen mit dem Pastor bereitete sie die Trauerfeierlichkeiten vor. Der Opa wurde in einem schlichten Sarg auf dem Kirchfriedhof beerdigt.

In der folgenden Woche erledigte Frau Solltau die Haushaltsauflösung. Der Bauer fuhr mit dem kleinen Pferdewagen die Haushaltsgegenstände der Großeltern zum Bahnhof. Dort vereinbarte die Mutter den Weitertransport nach Gutshof. Die Pferde und den Leiterwagen verkaufte sie an einen Neubauern im Ort. Er brachte die drei später zum Bahnhof.

Am Tag der Abreise verabschiedete sich die kleine Familie ein letztes Mal von Opa und Oma auf dem Kirchfriedhof. Der Personenzug fuhr pünktlich ab. Nach einer langen Bahnfahrt, mehrmaligem Umsteigen und zweistündigem Fußmarsch kamen sie wieder völlig erschöpft in Gutshof an.

*

Die Lebensbedingungen der kleinen Familie verbesserten sich in der Folgezeit nicht wesentlich. Frau Solltau arbeitete Tag aus, Tag ein bei den Bauern, wie sie gebraucht wurde. Hans besuchte weiter mit Erfolg die Grundschule und Robert wurde eingeschult. Kein Weg führte mehr nach Ostpreußen zurück.

Die Grundschulzeit ging für Hans zu Ende. Er wollte einen Beruf erlernen.

Bernd, der Sohn des Melkers, erlernte den Beruf des Hochseefischers in einer Reederei in Rostock. Die Geschwister seines Opas hatten am Frischen Haff einen Familienbetrieb. Der gefangene Fisch wurde selbst bearbeitet und in Königsberg auf dem Wochenmarkt verkauft. Fische fangen, dass interessierte Hans auch.

„Hier im Dorf und in der Gegend möchte ich nicht bleiben“, sagte Hans zu Bernd.

„Du musst dich rechtzeitig bewerben. Du bist nicht der Einzige“, sagte Bernd und schrieb Hans die Anschrift der Reederei mit einem Bleistiftstummel auf einen kleinen Zettel.

*

„Ich möchte Fischer werden, wie Bernd, der Sohn vom Melker. Er fährt auf einem Logger“, sagte Hans nach dem Kirchgang zu seiner Mutter.

Die Mutter war sprachlos. Über die Berufswahl hatte sie mit ihm noch nicht gesprochen.

„Deine Berufswahl gefällt mir nicht. Dann bin ich mit Robert alleine. Seeleute sind monatelang weg. Unser Pastor möchte, dass du weiter zur Schule gehst und auch Pastor wirst“, bekam Hans zur Antwort.

„Kinder taufen, Verstorbene beerdigen, Mann und Frau vermählen, Krankenbesuche durchführen, Kinder auf die Konfirmation vorbereiten, Jugendliche konfirmieren und sonntags predigen, dafür interessiere ich mich nicht“, antwortete Hans wütend.

„Landwirt ist auch ein schöner Beruf. Pflügen, eggen, sähen und Tiere füttern. Keiner der Bauern hat bis jetzt gehungert“, meinte die Mutter.

„Die Bauern haben nicht gehungert, aber die Knechte. Ein Landwirt braucht eigenes Land. Unser Land ist in Ostpreußen“, antwortete Hans. „Oder möchtest du, dass ich als Knecht bei unserem Bauern arbeite?“

„Lothar, der Sohn von der Frau Meißner lernt Maurer“, war ein weiterer Vorschlag der Mutter. „Die Maurer haben Beschäftigung. Die Städte sind zerstört und müssen aufgebaut werden. Später kannst du dir selbst ein Haus bauen“, argumentierte die Mutter.

„In Gutshof gefällt es mir nicht. Ich habe mit Bernd gesprochen. Er ist sehr zufrieden mit seinem Beruf. Viele Fischer vom Frischen Haff fahren auf Kuttern, Loggern und Trawlern in Saßnitz, Rostock, Kiel, Hamburg, Cuxhaven, Bremerhaven und Emden in die Ost- und Nordsee. In der Hochseefischerei verdienen die Leute sehr viel Geld. Keiner hungert“, versicherte Hans seiner Mutter.

„Junge! Du bist vierzehn Jahre alt. Dort musst du schwer arbeiten. Hochseefischer ist kein Beruf fürs Leben. Die Fischer im Frischen Haff waren Familienunternehmen, die früh mit den Kuttern auf See rausfuhren und abends wiederkamen“, bekam Hans zur Antwort.

„Ich werde mich bewerben. Bernd hilft mir beim Aufsetzen des Bewerbungsschreibens“, sagte Hans zur Mutter. Abends setzte er sich an den kleinen Tisch. Er formulierte die Bewerbung, wie sie Bernd vorgeschlagen hatte, und legte das Schreiben in einen Briefumschlag mit der Anschrift der Reederei. Am anderen Tag klebte er eine Briefmarke auf den Umschlag und brachte den Brief mit der Zustimmung der Mutter zur Post. Nach geraumer Zeit kam die Antwort. Abends sagte die Mutter zu Hans: „Heute ist die Antwort von der Reederei gekommen. Man hat dich abgelehnt, weil du zu klein bist.“

„Zeige mir bitte den Brief“, erwiderte Hans wütend.

„Ohne meine Zustimmung darfst du den Beruf nicht erlernen“, antwortete die Mutter schroff.

Hans verstand seine Mutter nicht mehr. Er sprach kein Wort mehr mit ihr, nahm das Lehrbuch für Erdkunde aus der Schultasche und begann leise zu lesen. Auf die Fragen der Mutter antwortete er nicht mehr. Später ging er still zu Bett.

Am anderen Tag zeigte die Mutter Hans das Antwortschreiben der Reederei. Sie waren grundsätzlich bereit, Hans als Auszubildenden einzustellen. Nachreichen musste er das Zeugnis des letzten Jahres und die amtlich bestätigte Seetauglichkeit. Hierfür hatte die Reederei einen Vordruck mitgeschickt. Des Weiteren einen Lebenslauf und die Einverständniserklärung der Mutter. Sie hatte sich ihre Entscheidung noch einmal überlegt und war mit Hans’ Bewerbung einverstanden. Die noch fehlendenden Einstellungspapiere der Reederei übersandte er fast zeitgleich. Das amtliche Gesundheitszeugnis bestätigte seine Seetauglichkeit, die Abschrift des Jahreszeugnisses wurde durch den Direktor der Schule bestätigt. Den Lebenslauf hatte Hans kurzgefasst und sein Interesse an einen seemännischen Beruf besonders betont. Die Mutter hatte in einem kleinen Schreiben ihr Einverständnis für die Berufswahl bestätigt.

Nach einigen Wochen kamen zwei Exemplare des Ausbildungsvertrages per Post. Hans und die Mutter unterschrieben den Vertrag und ein Exemplar wurde an die Reederei zurückgesandt. Hans war sehr zufrieden. Er selbst konnte erstmalig über seinen weiteren Lebensabschnitt entscheiden.

Anfang September begann Hans mit der Ausbildung in der Reederei. Er war nicht der Einzige, über dreißig männliche Jugendliche hatte die Reederei eingestellt. Viele der Eingestellten waren älter. Wöchentlich wechselte die theoretische Ausbildung in der Berufsschule mit der berufspraktischen Ausbildung auf dem Lehrnetzboden, einer Werkstatt für die Herstellung von Fangnetzen. Die Werkstatt befand sich über den Fischhallen im Fischereihafen. Hier lernte Hans die Fertigung von Knoten, das Stricken von Netzteilen, die Reparatur von Netzen und das Spleißen von Tauwerk. Ein älterer Kapitän, der noch auf Segelschiffen gefahren war, vermittelte die seemännischen Handarbeiten. Ein Ausbilder aus Cuxhaven zeigte Hans das Stricken von Netzmaschen, die Herstellung und die Reparatur von Netzen. Unter der Anleitung erfahrener Praktiker lernten die Auszubildenden rudern und segeln. Im ersten Ausbildungsjahr wohnten die Auszubildenden im Internat. Hier nahmen sie die Mahlzeiten ein und wurden durch Erzieher betreut.

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