Kitabı oku: «Zwang zu töten»
All den Menschen,
die unter psychischen Problemen oder Erkrankungen leiden und leider so oft von ihrer Umgebung nicht ernst genommen oder gar verlacht werden.
Die Geschehnisse, sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
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eISBN 978-3-8271-8404-7
Dieter Aurass
Zwang zu töten
Ulf Auers zweiter Fall
„Es gibt eine Geschichte hinter jeder Person.
Es gibt einen Grund, warum sie so ist, wie sie ist.
Sie ist nicht so, weil sie so sein will.
Etwas in der Vergangenheit hat sie zu dem gemacht, und manchmal ist es unmöglich, sie zu ändern.“
Sigmund Freud, 1856–1939
Begründer der Psychoanalyse
Prolog
Koblenz-Innenstadt, 09:30 Uhr
1 – 2 – 3 – 4 – 5 ...
Er verfluchte sich, weil er sich nicht mehr erinnern konnte, wie viele Stufen diese verdammte Treppe hatte, obwohl er sie schon zigmal hinauf- oder hinabgegangen war.
26 – 27 – 28 – 29 ...
Ich meine, es waren zweiundvierzig, aber warum kann ich mich nicht erinnern?
Die Frage war absolut fehl am Platze, denn er wusste grundsätzlich genau, warum er sich nicht erinnern konnte. Weil er nicht nur diese Treppenstufen zählte, sondern alle Treppenstufen, die er jemals betreten hatte. Und er zählte nicht nur Stufen, nein, er zählte alles, was man im Vorbeigehen zählen konnte: Parkuhren am Straßenrand, Parkplätze in einer langen Parkbucht, die senkrechten Streben eines Brückengeländers oder die Laternenmasten in seiner Straße.
Dr. Rossbacher hatte ihm erzählt, woher dieser Zwang kam, aber das war nicht wirklich nützlich gewesen, seine Zwangsneurose zu lindern.
„Scheiß auf die Kindheit! Ich will, dass das aufhört und nicht wissen, warum und wodurch der Grundstein für diesen manischen Zählzwang in meiner Kindheit gelegt wurde.“
Dr. Rossbacher hatte nicht gerade freundlich reagiert, als er ihn während einer der vielen Einzelsitzungen angeschrien und ihm wiederholt sehr barsch versichert hatte, dass es ihn einen Scheißdreck interessiere, wie man diese Erkrankung nannte: Arithmomanie. Wie sollte ihm das helfen?
„Und diese Gesprächssitzungen in der Gruppe kotzen mich auch an! Ich habe keine Lust, mich mit lauter Bekloppten zusammenzusetzen und denen von meinen Problemen zu erzählen. Lassen Sie sich gefälligst eine bessere Therapie einfallen!“
Raimund Kellermann war nicht der Typ, der sich auf lange Diskussionen einließ, und er war es nicht gewohnt, dass ihm jemand widersprach. Mit fünfundvierzig war er bereits einer der Stars in der deutschen Werbebranche und führte eine eigene Werbeagentur in Koblenz. Keiner seiner Mitarbeiter durfte ihm widersprechen, das war eine seiner eisernen Grundregeln. Allerdings war in letzter Zeit vermutlich einigen seiner Angestellten aufgefallen, dass er sich nicht immer völlig „normal“ verhielt.
Er hatte es nicht verhindern können, dass seine ständige Zählerei bemerkt worden war. Vor allem bei Besprechungen hatte er es nicht unterlassen können, auf einem Zettel Strichlisten zu führen: wie oft Wegner sich an die Nase fasste, wie viele Male Haschke: „Wenn Sie wissen, was ich meine?“, sagte oder wie oft die Müller auf die Uhr sah. Leider hatte er seinen Zettel liegen lassen, und die Überschriften über den Strichen mit den jeweiligen Namen und Handlungen sprachen Bände. Aber auf keinen Fall durfte einer seiner Leute mitbekommen, dass er bei so einem Psychoheini in Behandlung war. Gott bewahre, wenn das jemand rausbekam, konnte er in der Branche einpacken.
41 – 42 – 43.
Also doch, er hatte sich fast richtig erinnert. Er verließ das Schängel-Center auf der Clemensstraße, in dem er im Obergeschoss sein tägliches Fitnesstraining absolviert hatte, und hastete über den Zentralplatz in das Parkhaus des Forum Mittelrhein. Die bösen Blicke einiger Passanten, als er einfach über die Straße lief, anstatt sich an der Fußgängerampel anzustellen, ignorierte er. Wahrscheinlich galten sie sowieso eher seinem stylischen Kleidungsstil und seinem jugendlichen und sportlichen Aussehen, auf das er in seinem Beruf angewiesen war. Sein langer blonder Pferdeschwanz wippte, und der warme Septemberwind ließ sein weites Baumwollhemd flattern.
Im Parkhaus angelangt und auf dem Weg zu seinem Porsche, in dem er die Sporttasche abstellen wollte, kam er nicht umhin, die in der langen Reihe parkenden Autos zu zählen: 7 – 8 – 9 – 10 – 11.
Er warf die Tasche in den Kofferraum und machte sich umgehend auf den Weg zurück, damit er den Termin mit dem potenziellen Kunden noch schaffen würde. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er noch fast zehn Minuten Zeit hatte, was für ihn bei einer Entfernung von geschätzten hundertfünfzig Metern bis zum Treffpunkt kein Problem darstellen sollte. Also verließ er das Shoppingcenter am nordwestlichen Ausgang und wechselte über die Görgenstraße ins Altlöhrtor in Richtung Löhrstraße. Schon beim Verlassen des Gebäudes begann er die Schritte zu zählen, um seine Entfernungsschätzung zu bestätigen. 56 – 57 – 58 – 59.
Beim Café Höfer angekommen, fand er nach einer überschlägigen Rechnung seine Schätzung bestätigt. Ziemlich genau hundertfünfunddreißig Meter bis zum Eingang des Cafés. Die acht, nein, neun Tische vor dem Café waren bis auf zwei alle besetzt, und er blickte sich suchend nach einem einzelnen Herrn um, der nach seinem Aussehen als Auftraggeber für eine Werbekampagne für ein neues, revolutionäres Produkt infrage kommen könnte. Aus dem eigentlichen Produkt hatte der Anrufer ein Geheimnis gemacht, und auch zur Branche hatte er sich noch nicht äußern wollen. Das sei auch der Grund für den ungewöhnlichen Treffpunkt, anstatt in die Agentur in der Koblenzer Innenstadt zu kommen.
Egal ... Hauptsache, ein Abschluss war zu tätigen. Das Produkt war Kellermann ziemlich egal. Die Erfahrung in seiner Branche hatte gezeigt, dass man mit der richtigen Werbekampagne jeden Scheiß an den Mann oder die Frau bringen konnte.
„Herr Kellermann?“
Er fuhr herum und sah sich einem unscheinbaren Mann mittleren Alters gegenüber, den er unter anderen Umständen eher für einen Büroangestellten gehalten hätte. Allerdings kam ihm der Mann entfernt bekannt vor. Wo hatte er ihn schon mal gesehen?
„Herr Paschke?“
„Ja, genau. Wir sind verabredet.“
Kellermann streckte die Hand aus und schüttelte die seines Gegenübers. Ihm fiel auf, dass sie schweißnass war, und obwohl der September einer der wärmsten seit Jahrzehnten war, hatte diese unappetitliche Feuchte nichts mit der Witterung zu tun. Was für ein unangenehmer Zeitgenosse.
„Okay, Herr Paschke, wollen wir uns setzen? Ich habe noch weitere Termine, und es wäre mir lieb, wenn wir möglichst schnell zur Sache kämen.“
Der Mann wand sich ein wenig, als wäre ihm etwas peinlich. „Wäre es sehr schlimm, wenn wir zuerst zu meinem Wagen gehen, damit ich Ihnen das Produkt zeigen kann? Ich habe es im Kofferraum meines Wagens und möchte es nicht durch die Stadt tragen.“
Diese Geheimniskrämerei begann Kellermann auf die Nerven zu gehen, aber er wollte einen potenziellen Kunden nicht zu einem so frühen Zeitpunkt verprellen.
Der Mann schien zu merken, dass Kellermann ein wenig ungehalten wurde, und beeilte sich zu versichern: „Es dauert nicht lange, mein Wagen steht direkt hier im Altlöhr-Parkhaus, keine fünfzig Meter von hier. Es geht wirklich schnell, aber Sie müssen einen Blick auf das Produkt werfen, unbedingt. Dann können wir eine der größten Werbekampagnen planen, die Sie je hatten. Sie werden begeistert sein, versprochen.“
Dessen war sich Kellermann nicht so sicher, aber er gab klein bei. „Okay, gehen Sie voran und zeigen Sie mir dieses geheimnisvolle Produkt. Auf ein paar Minuten mehr oder weniger kommt es nun auch nicht an.“
Gemeinsam gingen sie zum Parkhaus und fuhren dort mit dem Fahrstuhl auf das oberste Parkdeck. Der Mann roch unangenehm nach Schweiß, was Kellermann dazu veranlasste, sich so weit wie möglich von ihm weg in eine Ecke des Fahrstuhls zu drücken. Endlich öffnete sich die Tür, und sein zukünftiger Klient eilte voraus. Kellermann folgte ihm langsam, um auch den Abstand zu ihm nicht zu klein werden zu lassen. Zielsicher steuerte der Mann auf einen kleinen Toyota zu, der neben einem dunklen Kleintransporter stand.
Was soll das denn? Wenn der so einen Kleinwagen fährt, wie will der dann die Werbekampagne bezahlen?
Kellermann begann zu befürchten, dass bei diesem Treffen nichts als verlorene Zeit herauskommen würde. Aber einen Blick auf das ominöse Produkt wollte er nun ja doch riskieren. Der Mann hatte gerade den Kofferraum aufgeschlossen und nach oben geklappt. Dann war er einen Schritt zur Seite getreten und wies mit einer Hand auf den geöffneten Kofferraum. „Voilà, sehen Sie und seien Sie beeindruckt!“
Kellermann steuerte auf den Wagen zu und blickte in den dunklen Kofferraum, dessen Beleuchtung offensichtlich kaputt war. Das passte zu dem überhaupt schäbigen Eindruck, den das Fahrzeug machte. Er trat näher heran, blickte hinein und sah ... nichts.
„Was ...?“, wollte er aufbegehren, als sich von hinten eine Hand mit einem Lappen auf seinen Mund presste. Der beißende Geruch nahm ihm den Atem, und als er erschrocken tief Luft holte, bemerkte er noch, wie ihm ganz schwummrig wurde. Im nächsten Moment gingen alle Lichter im Parkhaus aus ... und tiefe Dunkelheit umfing ihn.
***
Langsam kehrte sein Bewusstsein zurück, und die erste Sinnesempfindung, die er verspürte, waren die hämmernden Kopfschmerzen.
Was? Wo?
Er spürte eine schaukelnde Bewegung, und als er versuchte, sich irgendwo abzustützen, bemerkte er mit Entsetzen, dass seine Hände hinter seinem Rücken gefesselt waren. Der plötzliche Adrenalinschub holte ihn gänzlich ins Hier und Jetzt und ließ ihn die Augen aufreißen, die mit einer klebrigen Substanz bedeckt zu sein schienen. Trotz der bohrenden Kopfschmerzen schüttelte er heftig den Kopf, und es gelang ihm tatsächlich, die zähe Flüssigkeit von seinen Augen wegzuschütteln. Was er erblickte, ließ ihn entsetzt aufschreien. Er hing kopfüber über einer Pfütze, und ein erschrockener Blick in Richtung seiner Füße offenbarte ihm gleich mehrere schockierende Dinge:
Seine Füße waren mit einer Art Kette zusammengebunden, die über einen Ring in der Decke an eine etwa einen Meter entfernte Wand führte.
Sein Blick blieb auch an seiner ehemals hellbeigen Designerhose hängen, bei welcher der Gürtel geöffnet war und die nicht mehr hell, sondern nun dunkelrot war – zumindest oberhalb seiner Oberschenkel in Richtung des Gürtels.
Ein Blick nach unten zeigte ihm, dass sich sein Kopf etwa einen Meter über einer großen Pfütze befand. Ein süßlicher Geruch stieg von der Pfütze zu ihm auf, und es dauerte eine Weile, bis er ihn als Blutgeruch erkannte. Erst als ein Tropfen von seinem Kopf in die Pfütze tropfte und kurz darauf der nächste, dämmerte ihm, was die dunkle Verfärbung seiner ehemals hellen Hose zu bedeuten hatte.
Es war SEIN Blut, das da heruntertropfte, und die Pfütze war bereits riesig. Er spürte keine Schmerzen, aber der Verdacht war naheliegend, dass er aus einer Wunde am Oberschenkel blutete.
Was soll das? Warum hänge ich hier und blute? Was kann ich tun?
Seine lauten Hilferufe und sein heftiges Schütteln und Schaukeln blieben ohne jede Wirkung ... außer, dass sich die Frequenz der in die Pfütze fallenden Tropfen etwas erhöhte.
Er kam nicht umhin, von den stetig fallenden Tropfen so eingenommen zu werden, dass er begann, sie zu zählen. Auch die Frage, wie lange er diesen Blutverlust wohl würde überleben können, änderte nichts daran, dass er ohne Unterlass weiterzählte.
35 – 36 – 37 ...
Er merkte, wie ihm schummrig wurde und er sich immer schlechter konzentrieren konnte.
51 – 52 – – 53 – – – 54 – – – – 55 ...
Kapitel 1
Tag 1
Polizeipräsidium Koblenz, 09:15 Uhr
Der Morgen hatte so friedlich begonnen, dass Kriminalhauptkommissar Ulf Auer sich nicht hätte vorstellen können, dass an diesem Frieden recht plötzlich etwas zerbrechen könnte.
Er und sein Team von der Mordkommission des Polizeipräsidiums Koblenz hatten in Ruhe und gemeinsam Kaffee getrunken und sich dann an die Erledigung von Routinearbeiten gemacht: alte Akten aufarbeiten, Überstundenzettel ausfüllen, Reisekosten beantragen oder noch fällige Berichte zu Ende schreiben. Es gab immer etwas zu tun, auch wenn gerade kein aktuelles Tötungsdelikt ihre ungeteilte Aufmerksamkeit verlangte.
Er lehnte sich bequem in seinem Bürostuhl zurück und ließ seinen Blick durch das Großraumbüro „seiner“ Mordkommission gleiten. Die anderen Mitglieder seiner Truppe saßen an ihren Schreibtischen und waren in ihre jeweilige Arbeit vertieft.
Kriminaloberkommissar Gerd Duben, der niemals wirklich darunter gelitten hatte, dass er vom Hauptkommissar zum Oberkommissar degradiert worden war, weil er in volltrunkenem Zustand einen Dienstwagen gegen eine Wand gesetzt hatte. Der Siebenunddreißigjährige und inzwischen trockene Alkoholiker war Ulfs bester Freund, ein sehr zuverlässiger Ermittler und eine große Unterstützung.
Kriminaloberkommissar Klaus Saibling, den alle nur „Fisch“ nannten, wobei keiner mehr wusste, ob er den Spitznamen seinem Nachnamen oder seiner Fähigkeit, sich aus allen Schwierigkeiten wie ein Aal herauszuwinden, zu verdanken hatte. Fisch war ein Computergenie und hatte sich schon mehrfach Disziplinarverfahren eingefangen, die aber alle ins Leere gelaufen waren, weil man ihm nie etwas bezüglich seiner teilweise illegalen Aktivitäten im Internet hatte nachweisen können. Der Zweiunddreißigjährige nahm es mit den gängigen Vorschriften, was den juristisch einwandfreien Zugriff auf das Internet anging, nicht wirklich genau, war aber immer so schlau gewesen, sich nicht erwischen zu lassen.
Das älteste Mitglied der Truppe, der siebenundfünfzigjährige Harald „Harry“ Kruse, war im Grunde harmlos, aber dennoch Ulfs größtes Sorgenkind. Harry war der typische Dandy, gab und kleidete sich trotz seines Alters wie ein dreißig Jahre jüngerer Mann und kaschierte seine mangelnde Körpergröße mit hochhackigen Stiefeletten. Das Problem mit ihm war, dass er die Finger nicht von jüngeren Frauen lassen konnte, unabhängig davon, ob sie verheiratet oder vielleicht sogar Zeuginnen in Ermittlungsverfahren waren. Das hatte ihm schon sehr viele Schwierigkeiten und in einem Fall sogar ein Disziplinarverfahren eingebracht und war auch der Grund gewesen, warum man ihn zu Ulf Auer versetzt hatte – in die sogenannte „Loser-Truppe“.
Ulf Auer selbst war zwar ein anerkannter und aufgrund seiner Erfolge geachteter Ermittler, hatte aber sein Mundwerk nicht im Griff und war deshalb immer wieder mit den Personen seines beruflichen Umfeldes, vor allem mit seinen Vorgesetzten, aneinandergeraten. Er war deshalb in Ungnade gefallen, und das war auch der Grund gewesen, warum seine Mordkommission in einen Kellerraum verbannt worden war, der nun als Großraumbüro eingerichtet die Heimat seiner Truppe darstellte. Aber inzwischen fühlten sie sich hier so heimisch, dass sie nicht wieder in eine bessere Unterbringung wechseln wollten.
Nach dem spektakulären Erfolg im vergangenen Jahr, als sie einen psychopathischen Serienkiller zur Strecke gebracht hatten, hatte der Polizeipräsident sie belohnen wollen und eine Rückkehr in die oberen Etagen des Polizeipräsidiums angeboten, aber Auer hatte nach Rücksprache mit seinen Leuten dankend abgelehnt.
Sein umherschweifender Blick blieb an ihrem „Neuzugang“ hängen, der, oder besser gesagt, die erst vor drei Monaten ihren ersten festen Arbeitsplatz bei der Kriminalpolizei bei ihnen eingenommen hatte.
Corinna Crott, die von allen nur Coco genannt wurde, hatte vor drei Monaten ihre Ausbildung zur Kriminalkommissarin mit Auszeichnung abgeschlossen und war danach durch Auers Fürsprache und auch als Anerkennung ihrer Rolle bei der Lösung des letzten großen Falles sofort der Mordkommission Koblenz zugeordnet worden.
Alles in allem hätte Auer wohl mehr als zufrieden sein können, wenn ... ja, wenn da nicht noch immer der ungeliebte direkte Vorgesetzte, Kriminaloberrat Wasgau, der Leiter des K 11, gewesen wäre.
Ulf schüttelte missmutig den Kopf, als er an den Schwiegersohn des Polizeipräsidenten dachte, der ihm und seiner Mannschaft immer wieder Schwierigkeiten machte, wenn es um Entscheidungen über die Vorgehensweise oder den Umgang mit den Medien ging. Aber ihm war klar, dass es eben nicht immer nur Licht, sondern auch Schatten gab und er sich wohl mit dem Umstand abfinden musste, dass er einen schwierigen und häufig wenig kompetenten Vorgesetzten ertragen musste.
Er dachte an die vielen Streitgespräche, die er mit Wasgau in den vergangenen Monaten geführt hatte, und musste lächeln. Sein Chef war ihm weder in Diskussionen noch in Fragen des Sachverstandes gewachsen, weshalb Wasgau oft mit eingezogenem Schwanz von dannen hatte ziehen müssen.
Sein Telefon klingelte aufdringlich, und noch immer lächelnd nahm er den Hörer auf.
„Auer?“
Sein Lächeln erstarb, als der Anrufer ihm mitteilte, dass man eine Leiche gefunden habe und die Auffindesituation keinen Zweifel daran ließe, dass es sich um einen Fall für die MK handele. Nachdem er sich alle Informationen hatte geben lassen und diese notiert hatte, legte er auf.
„Alle Mann, Achtung“, rief er in den Raum und hatte sofort die ungeteilte Aufmerksamkeit der Anwesenden. „Wir haben einen neuen Fall, und nach allem was ich bisher weiß, könnte das wirklich interessant sein.“
Kapitel 2
Koblenz-Wallersheim, Industriegebiet, 09:45 Uhr
Der Parkplatz des „Lasertag-Zentrums“ im Industriegebiet von Koblenz-Wallersheim wäre leer gewesen, wenn nicht drei Streifenwagen und das Fahrzeug eines Bestattungsunternehmens in unmittelbarer Nähe des Einganges geparkt gewesen wären.
„Was ist das denn für ein Laden?“, fragte Harry Kruse erstaunt, als Auer den Dienstwagen direkt neben einem Streifenwagen parkte.
„Lasertag, kennst du das nicht?“, fragte Auer überrascht zurück.
„Lesen kann ich selbst, aber was ist das für eine Firma? Stellen die Laser her, oder was?“
Auer musste kurz auflachen, denn wieder einmal zeigte sich, dass Harry mit seinen siebenundfünfzig Jahren und als ältestes Mitglied der MK nicht wirklich auf die neuen Trends der Zeit stand. Er hatte wenig mit Computern zu tun und nutzte sie lediglich im Rahmen der dienstlichen Aufgaben, wobei er aber auch regelmäßig auf die Unterstützung durch Klaus Saibling angewiesen war. Lange hatte er sich gegen ein Smartphone gewehrt und es lediglich als dienstliches Hilfsmittel akzeptiert, weil inzwischen über dieses Medium auch Bilder von Tatorten oder Beschlüsse der Staatsanwaltschaft an die Beamten übermittelt wurden.
„Das, mein lieber lebensälterer Kollege, ist nach Auslegung der heutigen Jugend eine Sportstätte, in der junge Leute mit Laserwaffen aufeinander schießen, so ähnlich wie Paintball, wo sie sich in der freien Natur mit Farbkugeln beschießen.“
Harry sah ihn ungläubig an. „Du verarschst mich, oder?“
Nun musste Ulf Auer tatsächlich laut auflachen.
„Nein, ehrlich nicht. Ich habe mir das interessehalber mal angesehen, und ich muss sagen ... es hat was. Ist gar nicht so uninteressant, ganz spannend und tatsächlich auch anstrengend, wenn man nicht zu früh wegen zu vieler Treffer ausscheiden will.“
Harry Kruse schüttelte ungläubig den Kopf und murmelte, während sie ausstiegen und sich zum Eingang des Gebäudes begaben, irgendetwas vor sich hin. Auer konnte lediglich etwas wie: „Ich versteh die Welt nicht mehr“, verstehen. Noch während sie durch den Eingang das Gebäude betraten, sah er aus den Augenwinkeln, dass der Dienstwagen mit Gerd Duben und Coco gerade auf das Gelände einfuhr.
Ein Uniformierter, der direkt hinter der Eingangstür stand, sprach Auer an: „Einmal ganz durch und dann hinten rechts, in einem Lagerraum ... da hängt er. Die Spurensicherung ist schon da.“
Ulf und Harry folgten seiner Richtungsangabe und bewegten sich zwischen eingezogenen Wänden und Hindernissen durch eine Art Labyrinth, das jedoch aufgrund der eingeschalteten Deckenbeleuchtung nicht schwierig zu durchschreiten war. Auer bemerkte, dass Harry sich die ganze Zeit verwundert umblickte, immer wieder den Kopf schüttelte und vor sich hin murmelte. Auf der einen Seite fragte er sich, ob Harry in seinem Alter dem Wandel der Zeit und der Gebräuche noch lange gewachsen sein würde, andererseits hatte das Alter auch etwas für sich. Harry erinnerte sich an Vorgänge, die schon viele Jahre zurück lagen, und zog Rückschlüsse aufgrund seiner langjährigen Erfahrung in verschiedenen Bereichen der Kriminalpolizei.
„Und was machen die jungen Leute in diesem Labyrinth nun ganz genau?“, fragte er gerade, während sie zwischen den etwa zwei Meter hohen Wänden durch diesen künstlichen Irrgarten gingen.
„Sie kämpfen sich in Teams zwischen diesen Wänden und Deckungen durch und schießen mit Lasergewehren auf die Mitglieder des anderen Teams. Dabei tragen sie Westen, die einen Treffer mit dem Lasergewehr registrieren und irgendwann anzeigen, dass ein Gegner ausgeschaltet ist“, entgegnete Ulf geduldig. „Ich habe allerdings irgendwo gelesen, dass es inzwischen Westen gäbe, die leichte elektrische Stromstöße an den Träger weitergeben, damit auch ein Streifschuss wenigstens ein wenig Schmerzen verursacht. Ich glaube, das ist aber bisher nur in den USA erlaubt.“
Belustigt stellte Ulf fest, dass Harry immer noch fast ununterbrochen den Kopf schüttelte.
Er wurde von weiteren Erläuterungen erlöst, als sie das Ende der Halle erreichten, wo ein anderer Uniformierter stand, der einem Spurensicherungsbeamten im weißen Overall die Tür zu einem Raum aufhielt, aus dem er mit seinem Alukoffer und einer großen Plastiktüte gerade heraustrat. Der Beamte erkannte Ulf und Harry sofort.
„Ihr kommt ein wenig zu spät, sie haben ihn soeben abgehangen. Da müsst ihr euch dann schon die Fotos ansehen. War übrigens ein interessanter Anblick, wie der da so hing. Hat mich ein bisschen an ein Schlachthaus erinnert ... nur nicht so kalt.“
Ulf nickte lediglich schweigend und würdigte ihn keiner Antwort. Sie wäre vermutlich etwas barsch ausgefallen, da ihn die lockere Art, mit der viele Beamte der Spurensicherung, die ja an fast jeden Tatort gerufen wurden, schon immer gestört hatte. Es mangelte vielen von ihnen an Empathie und Pietät.
Grundsätzlich hatte er Verständnis dafür, dass diese Arbeit zu einer Verrohung oder Abstumpfung führte, denn anders wäre diese Tätigkeit langfristig wohl nicht zu ertragen gewesen. Aber dennoch störte es ihn, wenn an Fundorten von Leichen Witze gerissen wurden oder gelacht wurde.
Er und Harry betraten den Raum, bei dem es sich um ein Lager handeln sollte, was sie an zwei Regalwänden bestätigt sahen, in denen Bekleidung und technische Gerätschaften abgelegt waren. Zwei weitere Wände bestanden aus unbehandeltem Beton, in dem Haken und Ösen eingelassen waren, deren Zweckbestimmungen nicht sofort ersichtlich waren.
Eine schwere Eisenkette war an einem Haken in der Wand befestigt und führte über eine Öse in der Decke wieder nach unten. In der Verlängerung darunter befand sich eine riesige Pfütze, bei der Ulf Auer davon ausging, dass es sich um Blut handelte. Bei der Größe der Pfütze ging er ebenfalls davon aus, dass die Person, die noch vor Kurzem an der Kette gehangen haben musste, komplett ausgeblutet war.
Die Leiche lag etwas abseits außerhalb der Blutlache auf einer Plastikfolie, um Verunreinigungen vom Hallenboden an der Kleidung zu vermeiden. Ulf und Harry näherten sich langsam dem Körper, über den einer der Spurensicherungsbeamten gebeugt stand und mit behandschuhten Händen gerade die Gesäßtasche der blutdurchtränkten Hose durchsuchte. Ein weiterer Beamter machte Fotografien aus allen möglichen Blickwinkeln.
„Und, was könnt ihr uns denn schon sagen?“, fragte Harry den Kollegen, der gerade eine Brieftasche herausgezogen hatte und diese aufklappte.
„Mit etwas Glück gleich noch mehr, als dass wir hier eine männliche Leiche haben, die offensichtlich ausgeblutet ist. Also gedulde dich noch ein paar Sekunden.“
Ulf grinste in sich hinein. Es war typisch für Harry, die Initiative zu ergreifen und sofort zu fragen, anstatt darauf zu warten, dass der Kollege ihnen die Informationen von sich aus gegeben hätte. Geduld war noch nie Harrys Stärke gewesen.
Zum Glück wurde seine mangelnde Geduld nicht auf eine große Probe gestellt, denn bereits nach wenigen Augenblicken richtete sich der Beamte ächzend auf und entnahm der Brieftasche mehrere mit Blut beschmierte Karten.
„Ihr habt Glück, Freunde. Der Personalausweis lag zwischen Führerschein und irgendwas anderem und ist gut lesbar. Wenn ich es richtig entziffern kann, heißt euer Opfer Raimund Kellermann, ist, beziehungsweise war ... Moment ...“, er richtete die Augen gegen die Decke und bewegte lautlos die Lippen, „ ... wenn ich richtig rechne, fünfundvierzig Jahre alt. Als Wohnort ist hier Koblenz, Simmerner Straße 74, angegeben.“
Ulf hob überrascht die Augenbrauen an. Diese Gegend war jedem Kriminalbeamten in Koblenz nur zu gut bekannt, denn in dieser Straße befand sich unter der Hausnummer 14A die Justizvollzugsanstalt Koblenz im Stadtteil Karthause. Die Adressen mit den höheren Hausnummern lagen oberhalb der JVA und hatten oft einen wunderbaren Ausblick auf die Stadt.
„Was kannst du uns denn zum mutmaßlichen Todeszeitpunkt sagen?“, fragte Ulf, nachdem er sich die Daten notiert hatte.
Der Spurensicherer wiegte den Kopf hin und her, bevor er antwortete.
„Angesichts der hohen Temperatur in diesem Raum“, er wischte sich mit dem Ärmel seines weißen Overalls den Schweiß von der Stirn, „bin ich so kühn, mal zu behaupten, dass euer Opfer seit mindestens sechs Stunden tot ist. Soweit ich mitbekommen habe, war ein Mitarbeiter dieses Tempels der Schießwütigen gestern um vierundzwanzig Uhr das letzte Mal in diesem Raum.“
Er grinste breit. „Ich geh mal davon aus, dass das Opfer da noch nicht hier hing. Da er vermutlich hier ausgeblutet ist, können wir den Todeszeitpunkt wohl auf irgendwann zwischen null und zwei Uhr festlegen, da der Tote heute Morgen um neun Uhr entdeckt wurde. Aber da müsst ihr sicherlich noch ein wenig ermitteln, und da gibt es ja auch noch die Rechtsmedizin.“
Zwischenzeitlich waren auch Gerd Duben und Coco Crott hinzugekommen und hatten die letzten Ausführungen mitgehört. Beide waren so umsichtig, keine Fragen zu stellen, die Ulf oder Harry vielleicht schon längst gestellt hatten.
„Okay“, meinte Ulf nachdenklich. „Dann schlage ich vor, dass Harry und ich wieder ins Präsidium zurückkehren und ihr ...“, er blickte Duben und Coco an, „... seid bitte so gut und klärt hier die noch offenen Fragen. Also, wer hat Zugang, wer sind die Beschäftigten ...? Ach was, das brauch ich euch ja nicht zu sagen.“
Er hatte den vorwurfsvollen Blick von Duben bemerkt, der sehr genau wusste, welche Ermittlungen an einem Tatort durchzuführen waren. Und selbst Coco, die ja gerade erst ihre Prüfung abgelegt hatte, war mit Sicherheit in der Lage, an alle wichtigen Ermittlungen zu denken. Aber Ulf konnte seine Angst, irgendetwas könnte in Vergessenheit geraten oder übersehen werden, einfach nicht unterdrücken.
„Sorry, Leute. Wir machen uns jetzt auf den Weg, und wir können uns ja jederzeit telefonisch austauschen. Ich sende Fisch gleich die Personalien des Opfers, und dann schauen wir mal, was er im Internet über ihn herausfinden kann.“
Noch im Hinausgehen drehte er sich ein letztes Mal um und rief dem Spurensicherer zu: „Und ihr stellt so schnell wie möglich alle Informationen in unsere Datenbank, ja?“
„Aber natürlich, großer Meister“, antwortete ihm der Kollege, „gut, dass du es erwähnt hast. Ich hätte sicherlich nicht dran gedacht.“
Ulf Auer sah zu, so schnell wie möglich wieder zum Auto zu kommen, konnte aber nicht verhindern, dass ihn das Gelächter der Kollegen verfolgte.