Kitabı oku: «Die Gärten der Medusa»
Foto Ayse Yavas
Dieter Bachmann, geboren 1940 in Basel, 1988–1998 Chefredaktor der Zeitschrift «du», Autor der Romane «Rab», «Der kürzere Atem» und «Grimsels Zeit». Publizist und Herausgeber zahlreicher Sachbücher. Im 0Limmat Verlag erschienen zuletzt der Fotoband «Aufbruch in die Gegenwart. Die Schweiz in Fotografien 1840–1960» sowie der erzählende Essay «Unter Tieren».
«Dieter Bachmann hat ein monumentales Werk geschaffen.» Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung
Dieter Bachmann
Die Gärten der Medusa
Roman
Limmat Verlag
Zürich
Wir Menschen sind nicht dafür gemacht, allzu tief in das Medusa-Antlitz der Geschichte zu schauen: in diesen Zorn, den Tod und unendliches Leiden. Das ist keine Drückebergerei. Im Gegenteil. Unsere Abneigung, uns versteinern zu lassen, entspringt genau dem, was das Leben erträglich macht: dem, was uns der Glaube sagt, unsere poetische und utopische Fantasie, unsere moralischen Ideale, unsere metaphysische Einbildungskraft, unser Geschichtenerzählen, die künstlerische Verwandlung der Wirklichkeit, unsere Leidenschaft für Spiele und unsere Freude an der Natur.
Robert Pogue Harrison, Gardens,
An Essay on Human Condition
Expedition
Die bauen ein Schiff, ein großes. Einen Ozeandampfer. Es kommen nur Gärten an Bord. Mit ihnen deren Hüter, die Gärtner. Und ein paar von denen, die gern in Parks, Alleen flanieren, atmen, Bäume lieben – und sich ihnen anvertrauen, den Gärtnern, den Gärten und dem Schiff.
Einzelne Personen an der Reling sind zu sehen, sie stehen allein und zu Gruppen auf verschiedenen Decks, manche am Heck schauen zurück. Ein Kleiner, im Blaumann, lächelt von fernher. Eine Frau, hochaufgerichtet, auf ihrem riesigen Hut wachsen Blumen. Man sieht Gehröcke, einen Schillerkragen. Jeans.
Da, ein Imker. Oder ist es eine Dichterin, mit einem Schleier am geschmückten Hut? Dort ein robuster Reisender im Khaki, mit Vollbart. Einer, ein Schmaler, im weißen Turnerleibchen: mit langen weißen Turnerhosen. Personen aus verschiedenen Zeiten, manche nur undeutlich, ein anderer fällt auf mit Turban und arabischem Umhang aus Seide. Einer wie Karl Marx, von der Reling aus sucht er den Horizont. Einem Kind ist die Gärtnerschürze zu groß.
Einer sieht aus wie ein trauriger Prinz. In einem maßgeschneiderten Zweireiher aus feinstem Kammgarn steckt er und fühlt sich nicht angezogen. Nackt, wie der makellos gezogene Scheitel im dünn gewordenen Haar: ein ewiger Junge, nicht zum Leben gekommen. So einer wäre lieber Gärtner geworden.
Ein Eremit wohnt mit den anderen und hat doch vor seiner Kabine ein Gartengespinst, in das keiner eintreten soll.
Sie alle wohnen mittschiffs, in kleinen, spartanisch eingerichteten Kabinen mit einem einzelnen elektrischen Licht, einer Birne, die im Rhythmus der Maschinen heller und dunkler wird. Die Kabinen fordern sie auf, durch das Schiff zu streifen. Sie durchwandern seine weiten Räume, riesige Hallen. Die Decks: sind Gärten, Parks, dichte Alleen mit Platanenlaub, grün das ganze Schiff, alle Arten von Grün, und Laub aller Größen, und Blumen. Es gibt lichte Wälder da, und Savannen, Flussläufe, der Mann im weißen Turnerleibchen winkt aus seinem Faltboot. Da ist heiliger Hain. Die zum Licht gewendeten Außenkabinen sind Gewächshäuser.
Stehen Statuen, hängen Bilder von den Frauen, die man immer vergisst, den Gärtnerinnen? Überhaupt, ist der große Speisesaal mit Gartenbildern vollgehängt? Mit den dunkel vergrünenden Tiefen eines Parks? So wie umgekehrt in Wilds kleiner Bar in Paris, Rue Vavin, auf festestem Festland, die Fotos von der alten Queen Mary hängen? Das Gruppenbild lachender Menschen im Speisesaal Erster Klasse?
Von der hohen Kommandobrücke sieht man bis Rom, nach Paris hinein und nach Polen hinüber; der Riesendampfer fährt durch Kanäle, die auf beiden Seiten blühendes Land zeigen, Felder und Hügel; er nimmt Kurs aufs Nordmeer, schifft durch die Barentsee, schiebt Packeis beiseite, erreicht die Beringstraße. Und dann?
Auf einem hohen Hinterdeck wachsen regelmäßig große, bekrönte Bäume, die Stämme werfen Schattenstreifen auf den hellen Sandboden. Eisenstühle stehen verstreut, niemand sitzt. Zwischen den Stämmen geht ein kleiner zarter Mann, alt und alterslos, in sich gekehrt. Arm würde man ihn nennen, oder besitzlos vermuten, in seinem abgetragenen, dunkelbraunen Pullover unter dem Kittel, wäre nicht die große Welle starker Haare, dunkelblond und grau meliert und aus der Stirn nach hinten gekämmt: der Haarbusch, der Schopf, der Wiedehopf, eine Widerstandsbehauptung. Fürstlich.
Auf allen Decks aber, an der Reling, steht eine schöne Frau, immer dieselbe, nur ist sie da noch jung, hier älter geworden; hier hat sie zwei Kinder an der Hand, dort steht sie mit Sonnenbrille und Kopftuch allein: einen gefleckten Hund neben sich.
Im Speisesaal sitzt man unter Bäumen, auf Gras, auf das die weißleinenen Tischtücher hängen, ein Wind geht auch. In der Bar Zur Erinnerung regnen Blüten. Musik aus dem Ballsaal, mit seinen Glasfenstern zum Himmel, Vögel in den Zweigen. Berühmte Schauspieler, die berühmte Schauspieler spielen, spielen berühmte Schauspieler. Hinter ihnen läuft der Film über die Reise des Schiffs durch das ewige Eis. Das schmilzt.
Keime werden gezogen in der Küche, Stecklinge gesteckt in den Vorratskammern. Die Wassertanks bewässern das Schiff von oben nach unten, da sammelt sich das Wasser im Kiel.
Da unten aber schuftet eine Bande von Ungeheuern, sind es Menschen? Man sieht ihnen die Wälder an, aus denen sie gekommen sind. In zottigen Tierfellen stehen sie, die Geschlechtsteile hängen auf ihre Knie, mit Zahnlücken im groben Gebiss, grausigem Bartwuchs, waldschrattigem: Wilderer, erfahren darin, den Vögeln den Hals umzudrehen und mit Giftbällen die Hunde der Jäger zu vergiften. Brandstifter und Brandschatzer. Maulhelden, Wortbrüchige, Lügner und Betrüger. Vor die Kessel gestellt, schaufelt die Bande bis zur Erschöpfung ihre vor Aberjahrtausenden versteinerten Wälder ins Fegefeuer. «Und werden das Licht nicht mehr sehen», steht geschrieben, «auch nicht an dem Tag, an dem das Schiff sich neigt und über den Bug in den Wassern versinkt, und an Deck sich noch einmal alle umarmen.»
Das Schiff läuft aus vom letzten Hafen, dem der Umnachtung; es hält Kurs auf die Helle der Nacht.
Wild.
Drei Reviere des
Flaneurs
Bäckeranlage mit Borbakis
Kaum im neuen Stadtteil angekommen, die Straßen noch unbegangen, geschweige denn vertraut, noch keineswegs eingerichtet in der neuen Wohnung und noch lange nicht bereit, den Tratsch an der Ecke aufzunehmen, traf Wild auf Borbakis.
Kannte ihn von früher. Nicht besonders gut. Man war im selben Milieu junger, aufstrebender, eingebildeter Möchtegernkünstler gewesen, eine biografische Streifkollision. Erinnerte sich sogar an den Vornamen. Nikos. Ein Typ vieler Begabungen, Tausendsassa, in allem verdammt geschäftig, in keiner Sparte außergewöhnlich. Griechischer Abstammung.
Den Namen hatte er vom Vater. Von seiner italienischen Mama die Schwammigkeit, mit der er auftrat: ein Menschenpudding. Krause Fantasie, genau wie der Haarkranz, den die Griechen um den Kopf herum haben. Ein Champion der Ungenauigkeit. Weltmeister des Ungefähr. Das wusste Wild nun wieder, sofort.
Sie standen an einer Straßenecke. Die Häuser bildeten mit ihren Übereckfassaden ein der Kreuzung eingeschriebenes Quadrat. Über ihnen ein schmaler Balkon, Blumentöpfe. Wild wollte weiter, ging solchen Begegnungen instinktiv aus dem Weg, wollte nicht aufgehalten werden durch Bekannte, wollte niemanden kennenlernen und niemanden wiedersehen. Warum fiel von dem Balkon kein Topf auf Borbakis’ Schädel?
In der Schweiz aufgewachsen. Es bleibe ihm, sagte er jetzt ungefragt auf Wilds Trottoir, und er sagte schon immer alles ungefragt, es bleibe ihm bei allem Dazugehören doch immer ein Gran des Fremden, ein Millimü, das ihn nicht ganz heimisch werden lasse, etwas, was er das Peloponnesisch-Widerständige nennen möchte.
Gran des Fremden!
Borbakis’ Vater war Nordgrieche gewesen, aus Saloniki. Von wegen Peloponnes! Als Früchtehändler war der in die Schweiz gekommen. Das heißt: so hatte er sich hier etabliert. Fünfzigerjahre, alle waren unterwegs. Auf dem Weg nach Norden war er in Italien Nikos’ Mutter begegnet, in Bari, wo sein Schiff gelandet war. Zusammen kamen sie in die Stadt, in dieses Quartier, wo damals die Südländer wohnten, Italiener, Spanier, Griechen, später Portugiesen. Heute auch Tamilen, Nigerianer, Ex-Jugoslawen, Albaner, ein paar Türken. Versprengt: Schweizer.
Der Laden war ein griechisch-italienisches Lebensmittelparadies gewesen. Nikos hier geboren. Nikos Elvetikos, ein Secondo. Im Laden seiner Eltern hatte er dann eine Kunstgalerie eingerichtet. Zum Kunsthändler hatte es gereicht.
Und jetzt noch die jüngsten Ereignisse in Athen, sagte Borbakis. Eine Katastrophe!
Warum Katastrophe? Nordeuropa zahlt euch ja alle Schulden mit dem vielen Geld, das sie an euch verdient haben, also könnt ihr genauso weitermachen wie bisher.
Er ächzte. Und unsere Tabakfelder, sagte er, was glaubst du, was die jetzt für Grundstücksteuern draufknallen.
Der Ärmste. Er hatte Tabakfelder.
Warum hörte Wild ihm zu? Warum war er stehen geblieben? Verdammt. Seine unausrottbare Höflichkeit. Oder Feigheit. Oder Unvorsichtigkeit.
Das wusste er doch: Jede Begegnung, die man nicht vermeidet, noch die unbedeutendste, wird Teil des Schicksals. Wild wusste das. Und schlug es schon wieder in den Wind. Mit jeder Sekunde Wirklichkeit gehen Myriaden von Möglichkeiten verloren, unrettbar. Man weiß nicht einmal, was einem fehlt. Und Wild blieb da stehen, mit Borbakis. Nikos. Dem Elvetikos. Mit einem zufällig Hergekommenen und ewig Hiergebliebenen.
Wild war zuletzt in Rom gewesen. Mithras und Frühchristen. Davor Feldforschung in Inner Mongolia, Naturmedizin, und noch vorher in Douala, Geistheiler. In Lamu – archaischer Hummerfang – leider nur kurz, dafür lange in New York und San Francisco. Hatte Hexen gesehen jenseits des Polarkreises. Yogis in Indien. Den großen und den kleinen Atlas. War gereist, um wegzukommen, um woanders Station zu machen, um anderes zu erfahren und einem Freund zu bestätigen, dass überall alles anders ist.
Und jetzt stand er hier, mit dem da.
Wild hatte ihn zwanzig Jahre lang nicht mehr gesehen. Borbakis trug nun einen Bart wie Carlo Marx und saugte an einer dicken Partagas. Er saugte an seiner Zigarre wie an einem Euter. Vor Jahren hatte Friedrich Dürrenmatt zwei Marxe auf der Bühne des lokalen Theaters auftreten lassen, ein grotesker Hohn auf Karls geschichtliche Einmaligkeit, das doppelte Marxchen.
Je länger Wild Borbakis gegenüberstand, dachte er an ein Imitat. Popanz.
Die Maskerade, das Bartgeprotz erinnerte ihn an Key West, an «Sloppy Joe’s Saloon», in dem jedes Jahr ein Hemingway-Ähnlichkeits-Wettbewerb stattfindet. Zwanzig erwachsene Männer, in offenen Buschhemden und mit weißen Hemingwaybärten, grölen mit erhobenen Fäusten in die Kamera. Dazu serviert Sloppy Joe Hühnerflügelchen «Farewell to the Arms», Fischplatte «Old Man and the Sea» und «The Bell Tolls»-Käsekuchen.
Als hätte Hemingway gegrölt. Als wäre er nicht völlig einmalig gewesen, unwiederholbar. Das ist doch der Witz von Literatur, wütete Wild, dass es jeden immer nur einmal gibt.
«Hemingway was larger than life», sagt Sloppy Joe in seinem Advertising. Er weiß nicht, wie recht er hat.
Hinter Borbakis’ Brillengläsern, deren Linsen sich konzentrisch nach innen verengten wie bei einem Chamäleonauge, schauten kleine Gucker zugleich listig und unsicher und überaus feucht. Überheblich und unsicher. Ob man ihm glaube, schienen sie bei seinem Gerede ständig zu fragen.
Wild war neu im Quartier, Borbakis ein alter Hase, sofern das Wort Hase auf einen solchen Raviolihaufen passte. Unter den Zuwanderern, die hier die Mehrheit ausmachen, residierte er offenbar wie ein König. Familiär früh genug eingewandert, porentief verschweizert und doch fremd bleiben wollend, eine strategische Position, ein Mühle-Spiel, bei dem er abwechselnd auf den Einheimischen und auf den Fremden setzen konnte, grad so, wie er’s brauchte.
Borbakis machte Wild ungesäumt mit seinem letzten Projekt bekannt. Schwafelte, schwärmte, quasselte etwas von Paris. Wild fragte sich, warum die Leute einem immer alles anhängen wollen, was ihnen gerade durch den Kopf geht. Da stehen sie und reden. Man steht, festgepflockt an einer solchen Straßenecke, hört zu und hört nicht zu, während man auf den dunklen Fleck an der Hausecke starrt und sich fragt, warum jeder Hund des Quartiers hier Halt macht und sein Bein hebt. Warum gerade an dieser Ecke und nicht an der gegenüber? Ein Hund zieht den nächsten an, gewiss, aber warum zieht es sie alle an diese, genau an diese Ecke? Die andern Ecken sehen doch gleich aus.
Aber das Wort Paris hatte Wild gleich am Wickel. Unvermittelt hatte er selbst wieder Sehnsucht nach anderswo. Schon nur die Fahrt. Die leeren Landschaften der Franche-Comté! Dabei war es hier nicht schlecht. Man lebte auf engem Raum mit anderen, die man nicht zu kennen brauchte.
Wild hatte zugehört, wie ein untersetzter Mann, ein Italiener, im Sommer von seinem Balkon herunter mit einem Bekannten auf der Straße sprach, ungehemmt der eine von unten nach oben und der andere, im ärmellosen Unterleibchen, von oben nach unten. Wie viel der dort oben für seine Zweizimmerwohnung bezahle, darum ging es. Achthundertfünfzig, sagte der. Der unten fand das preiswert. Na, sagte der oben, magari, il bagno è sul pianerottolo, das Klo im Treppenhaus. Er wollte wohl andeuten, dass seine Achthundertfünfzig auch nicht geschenkt seien. Die große Stadt war hier wieder zum Dorf geworden.
Es war wie ein winziges New York hier. Na ja, jedenfalls viel Verschiedenes auf kleinstem Raum, freiwillige Nachbarschaft, die kleine urbane Zelle geteilt mit anderen. Auch in Wilds Eckwohnung war es, als sei drinnen draußen. Oder das Draußen drinnen. Ein kleiner Balkon gehörte zugleich zu seinen zwei Zimmern und zur Straße.
Eines Morgens, die tapfere Sonne war gerade daran, sich gegen den Stadtnebel durchzusetzen, war Wild in der Bäckeranlage stehen geblieben, dem kleinen, buchsbaumgefassten Quartier-Park mit Grünflächen, riesigen alten Bäumen, drei Bronzepferden im Kunstgeschmack der Vierzigerjahre, einem großen Wasserbecken und einem überaus einladenden Pavillon mit Holztischen und -bänken, auf Kies und unter Bäumen, wie es sich früher für eine anständige Gartenwirtschaft gehörte. Er schaute dem Gartentraktor zu, der das Gras kurz schnitt, zum Schimmern brachte. Die Flächen glänzten im zaghaften Sonnenschein wie grüne Seide. Der Gartentraktor fuhr auf beiden Seiten gekämmte Schnittflügel aus, eine Heuschrecke.
Was die Stadt für ihre Bürger alles tut, hatte er gedacht, fast glücklich. War stehen geblieben, als ihn ein Mann seines Alters ansprach: Bello, no?
Ein Tessiner. Teilte er sofort mit. Auch er begann sofort zu erzählen. Dies war ganz offenbar ein redseliges Quartier. Ob Wild das Tessin kenne?
Die Täler, ein wenig, sagte der.
Und so kam der Mann sofort auf das Malcantone. Aus Curio sei er ursprünglich, Wild wohlbekannt, und gleich waren sie sich einig, wie schön das Malcantone sei. Und immer noch relativ wenig bekannt!
Und dann: Wie schön die Sorgfalt, welche die Stadt diesem unserem Park angedeihen lasse.
Auch in Lugano gebe es einen schönen Park, den der Villa Ciani, sagte der Tessiner, aber dort sehe man nur Touristen, oder Italiener, nicht die sympathischsten, nämlich die Milanesen, welche grade ihr Geld in einer Schweizer Bank in Sicherheit gebracht hätten und sich nun noch einen Blick auf den See gönnten. Während hier diese Anlage nur für die Stadtbürger gemacht sei.
Man müsste das der Stadt, auf die man so viel schimpft, auch einmal mitteilen, dachte Wild.
Arrivederci. Er gehe jetzt essen, drüben im «Grottino 77» sagte der Tessiner. Und auf Wilds völlig überflüssige Bemerkung, es sei dort zwar ordentlich, wenn auch einigermaßen teuer, sagte er: Geld kann man nicht essen. Aber der Magen fordert sein Recht.
Borbakis also.
Nicht abzuschütteln. Eine halbe Stunde später, es ging gegen Mittag, saß Wild mit ihm im «Eichhörnli.»
Nikos schaute aus seiner Carlo-Marx-Maske, ein traniger Blick aus den Glastrichtern, die er vor den Augen hatte.
Wie geht es dir?, fragte er.
Unglaublich!
Gibt es einen einzigen Augenblick im Leben, eine Lebenssekunde, in der man diese Frage beantworten könnte?
Na ja, sagte Wild.
Borbakis sinnierte. Er stierte auf das Brotkörbchen. Er grummelte, und schon ging’s weiter.
Sei grad in Krise, sagte er.
Was sollte Wild darauf sagen?
Immer viele Pläne, sagte Borbakis, und dann? Und dann? Ein leiser Zweifel genügt, und alles geht in die Hose, verschwindet in meiner Lethargie. Einer Art Universal-Katatonie, wie ich es nenne.
Ach so?
Was für ein Schaumschläger, dachte Wild.
Ein Zustand, in dem ich kaum noch einen Finger bewegen kann. Alles wird schwer an mir –
– was heißt bei dem schwer?, dachte Wild – und ich möchte eigentlich nur noch liegen.
Er nestelte an seinem Kittel, zog ein Stück Papier aus der Rocktasche, faltete es umständlich auf, las vor; der Dialekt, aus dem sein Hochdeutsch kam, war unüberhörbar: «Der Zorn, der ihm Kraft verlieh, um anzufangen, war verflogen, bevor er halb fertig war. Wenige Worte verbrauchten ihn. So war es immer gewesen, nicht nur mit dem Zorn, nicht nur mit den Worten.»
Borbakis starrte triumphierend aus Chamäleonsaugen, als ob die hätten Blitze schleudern können, und bohrte sich mit seinem zwangsfokussierten Glaskörper in Wilds Blick. Dann faltete er, bedeutungsvoll wie nach einer Abdankung, das Blatt wieder zusammen. Murphy, sagt er, Murphy. Und Wild staunte: der und Beckett?
Pascal, der Wirt, stand beim Tresen und schaute zu den beiden herüber. Er grinste Wild zu. Wild wusste, Pascal grinste gern. Diesmal sagte das Grinsen: Schwätzer.
Kannte er Borbakis? Hatte Wild, indem er Borbakis herbrachte, das Lokal beschmutzt?
Eine Leere, sagte der, er hatte Pascals Grinsen nicht bemerkt, die übliche Leere, die würde in ihm sofort zum schwarzen Loch. Das fülle ihn bis in die Gliedmaßen aus, er würde wie ein großer, weicher Stein, zu nichts mehr fähig. Fühle seinen Körper, wie wenn Claes Oldenburg den geformt hätte.
Wild sah ihn an; das war gar nicht schlecht. Ziemlich aufgepampt und wohlgenährt war der Elvetikos auf jeden Fall.
Das Gegenstück zu jedem Triumphgefühl, sagte er weiter. Schwieg dann in sich hinein. «Et altera pars», murmelte er dann undeutlich, Wild nahm an, er meine «und so weiter», wahrscheinlich war Nikos im Latein nicht trittsicher.
Wild schaute ihn an. Pascal hatte sich der Kasse zugewandt. Wild konnte nicht sehen, ob er immer noch grinste.
Vielleicht lebe er nicht richtig, oder nur so wie ein Davongekommener, meinte Borbakis. Plötzlicher Kindstod käme ihm dabei in den Sinn, das Kind verweigert das Leben und geht wieder zurück dahin, wo es hergekommen ist. Wie in einem Experimental-Film, sagte er, in dem die Kacke sich aus dem Topf auf den Rückweg macht, um langsam im Hintern des Kackers zu verschwinden.
Plötzlicher Kindstod, murmelte er. Nach wenigen Wochen, Monaten gehen sie wieder, diese Kinder. Sie haben genug gesehen. Sie haben etwas gesehen, diese Kinder, was ihnen nicht zusagt, brummelte Borbakis. Ein Suppenrest verlieh seinem Marx-Bart ein unfreiwilliges Glanzlicht. Fettauge auf grau meliertem Griechenbart.
Wir, die sogenannten Normalen, die weiterleben, länger und immer länger, wir, die wir immer älter werden, älter und älter, haben damals vielleicht nicht richtig hingeschaut. Weißt du, bevor wir den ersten, den entscheidenden Schrei getan haben. Unerklärlich, sagt man, wenn die sofort wieder gehen, keine Ahnung, sagen die Ärzte und zucken entschuldigend mit den Achseln.
Borbakis regte sich auf. Die Ärzte, die nichts anderes als die Physiologie kennen. Das Kind war doch gesund!, sagen sie. Heilige Einfalt! So ein Scheißdreck!
Er käme sich selber vor wie einer, der damals, als es noch Zeit gewesen wäre, den Absprung verpasst habe.
Was für ein Gewäsch.
In der Regel denke er nicht daran. Sei dann wie jeder andere.
Wieder nicht schlecht: wie jeder andere.
Daran, dass er lieber rede als zuhöre, spüre er, dass er jetzt wieder in so einen Zustand komme. Er trinke es weg. Am nächsten Tag, hinter dem Kater hervor komme sie dann, diese Lethargie. Eine Art Katatonie. Die Mattigkeit, ums mal deutsch zu sagen. Die könne auch anhalten, über Tage. Gehe er unter die Menschen, werde er gleich wieder gesprächig, erreiche diese ekelhafte Selbstentäußerung, die sie für geistreich hielten.
Die sie für geistreich hielten?
In Indien, vor Jahren, habe er einmal mehrere Tage im Hotel verbracht, einem pompösen ehemaligen Maharadschapalast. Sei nicht ausgegangen, habe nichts unternommen, nicht einmal gelesen. Nur den ganzen Tag auf dem Bett gelegen, den Fernseher an, in dem unverständliche, wohl in Korea gedrehte Gangsterfilme liefen, alles in Hindi, und so auch einmal der Kommissar aus Deutschland, der Alte mit seinem Assistenten, Horst Tappert und dieser ewige Zweite namens Wepper, die er hier als Eindringlinge empfunden habe. Marsianer, diese Deutschen, hier im rajasthanischen Maharadschapalast.
Das Zimmer roch danach plötzlich nach Männerschweiß, sagte Borbakis, nach Wehrmachtssocken.
In einem Flügel habe noch der Fürst gewohnt. Der habe seine Gäste tagsüber mit dem Jeep auf Wüstensafari gefahren, ein in die Vulgarität des Tourismus abgestürzter indischer Maharadscha. Weißt du, dass das «Großer Herr» heißt? «Mahab» heißt «groß». Ein abgefuckter Grande im khakifarbenen Hemingwaydress. Salzringe unter den Achseln, weißt du, so.
Er versuchte, mit der Patschhand an seinem fetten Arm einen Halbkreis anzudeuten.
Abends aber ganz in Weiß. Hose und hoch geschlossene Jacke, auf Taille geschnitten. Das Gesprächsthema war, Gläser in der Hand, Tschernobyl. Man unterhielt sich darüber, wie schnell die nukleare Wolke mit der Höhenströmung über Indien sein würde.
Er sei sonst nicht so, sagte Borbakis. Aber bei diesem Aufenthalt habe er nur kurze Ausfälle hinunter in die nahe Ameisenstadt gemacht.
Er sagte Ameisenstadt.
Er habe sich in den Menschen-, Auto- und Tierverkehr gemischt, dann, ziellos gehend, einen Park besucht, in dem in einem Pavillon grellbunt bemalte Götterstatuen gestanden hätten. In einer Reihe merkwürdigerweise, wie Schießbudenfiguren.
Er habe dort einer Passantin mit einem Kind, Großmutter und Enkel vielleicht, zugelächelt. Um nur gleich wieder auf seinen Hügel zurückzukehren. In die Maharadscha-Burg. Warum bloß hatte er diese zusätzliche Woche gebucht?
Borbakis verlangte die Rechnung, er rief das Wort in den Raum, ohne sich umzusehen. Als Pascal ihm das gefaltete Papier hinlegte, schob er es zu Wild herüber.
Machen wir doch halbe-halbe, sagte er.
Er hatte die Sellerierahmsuppe mit Kerbel, das Kalbssteak mit Rösti und einen gemischten Salat gehabt, Wild eine halbe Portion Pasta und grünen Salat. Den Wein hatte Borbakis bestellt, obwohl Wild ihn ins «Eichhörnli» gebracht hatte.
Die Dicken essen immer auf Kosten der Dünneren. Die Dicken fliegen zum gleichen Preis wie die Dünnen. Auch für die Krankenkasse, die die Dicken dann brauchen, zahlen die Dünnen, die sie nicht in Anspruch nehmen. Wild legte einen Fünfziger hin, Borbakis legte mit bedeutender Gebärde dreißig dazu.
Das «Eichhörnli» machte zu. Pascal kann es jeweils nicht erwarten, bis der letzte Gast gegangen ist. Er führt sein Quartierlokal wie eines dieser Sterne-Etablissements, in denen man sich nach dem letzten Bissen den Mund abwischt, aufsteht, sich vor dem Wirt verbeugt, dem Koch gratuliert und geht.
Es war kaum halb drei, eigentlich Viertel nach zwei. Sie gingen durch die Scheitergasse über die Magnusstraße zur Helmutstraße und die paar Schritte zum Park. Saßen in der Grünanlage. Es war ihre. Sie waren Quartierbewohner, und Schweizer, na ja, Borbakis ein bisschen weniger.
Die drei Bronzepferde hoben ihre Vorderhufe. Sie saßen in dem Park, in dem die Stadt das Restaurant mit Tischen und Bänken im Freien eingerichtet hatte, ein Akt der Stadtsanierung, nachdem es im alten Pavillon jede Nacht gebrannt hatte. Junkies, Drogenhändler, Alkoholiker jede Menge. Wild erinnerte sich an ein rauchgeschwärztes Gusseisengerippe aus der Gründerzeit, ein Monument sinnloser Auflehnung. Oder Auflehnung gegen die Sinnlosigkeit?
Nun war alles proper, benutzerfreundlich. Vorbei die Zeit der Platzkonzerte.
Nachts sah man jetzt junge Menschen in der erleuchteten Helle des nüchternen Pavillons zusammensitzen, sah sie und hörte nichts, wie auf den Bildern von Edward Hopper. Der Lärm war wegsaniert.
Inzwischen waren alle jung geworden. Solche Leute wie sie beide, dachte Wild, wurden rücksichtslos an den Rand gealtert.
Der Park und seine Anlagen waren nun clean, wie man hier sagte. Nur am Rand und auch nur tagsüber lagerten auf den Bänken noch ein paar letzte Säufer vor dem hundeverpissten Lebhag, Buchsbaum, der aussah, als wäre er tausend Jahre alt. Letzte Raucher mit ihren ewigen Plastiktüten, ihren Bierbüchsen.
Die jungen Frauen schoben ihren Kinderwagen an ihnen vorbei, als säßen die schon nicht mehr da.
Borbakis Gesicht, zugewachsen hinter seinem Bart. Wir gehören zur Generation, die hinüber ist, dachte Wild, die jungen Männer vor Augen, ihre Kuriertasche schräg umgehängt, die Kuriertasche der fliegenden Boten, die sie auch beim Bier nicht ablegten. Ein Firmenname stand darauf, bei allen der gleiche: Freitag.
Ich glaube, sagte Wild, sie trauen sich ohne ihren Computer nicht mehr ins Freie.
Auf dem Fahrrad wehte die Tasche hinter ihnen her.
Alles Freitage, sagte er, clean, proper, tüchtig. Ein bisschen Hasch, aber nicht zu viel. Viel Zeit für die Kinder. Mäßig im Alkohol. Schlafen auf flachen Matratzen am Boden. Foutonglück. Fluchen nicht.
Ich wäre lieber Robinson gewesen.
Die einsame Insel ist natürlich Kitsch, sagte Wild, aber so einen Saum um sich herum, ein bisschen Meer, das den einen von den andern trennt, dürfte man schon verlangen.
Wild hatte an Einsamkeit gedacht, Borbakis sah sich auf einer solchen Insel gleich mit einer Schönen.
Esther, sagte er, die Esther. Sie sei seine Zahnärztin gewesen, etwa gleich alt wie er. Von ihr sei, wenn sie sich mit dem Bohrer über ihn beugte, eine Wärme ausgegangen, so etwas wie eine Strahlung, unglaublich. Er habe nur noch angebohrt werden wollen von ihr. Sei trällernd in ihre Praxis gegangen, habe alles an den Zähnen machen lassen, was möglich war.
Er meckerte.
Ich hatte immer eine Begabung zum Musterpatienten, sagte Borbakis, als sei das ein Verdienst. Er wollte in allem etwas Besonderes sein, trug sein Gran des Fremden wie eine Monstranz vor sich her.
Wir trafen uns nach der Behandlung bei einem Asiaten, sagte er, um die Ecke, im Shanghai. Bier her!, die Losung. Erst ein schäumendes Tsingtao gegen die langsam nachlassende Anästhesie, dann das scharfe Essen und die klein geschnittene Ware, das habe sich ideal mit der Rückkehr zum gewohnten Biss ergänzt. Am Ende des Essens sei er zugleich gesättigt und wieder auf dem Damm gewesen.
Übrigens sollte man endlich eine Pille erfinden, sagte Borbakis, die einem das Gefühl des ersten Schlucks Bier an einem Tag vermittelt, den ersten Schluck und immer wieder nur den.
Einmal gingen wir abends aus …
Borbakis schaute Wild zweifelnd an, als ob er es sich überlegen würde, ob der solcher Mitteilungen überhaupt würdig sei. Als er sich entschloss, weiterzufahren, war das gewiss nur deshalb, weil er im Augenblick keinen besseren Zuhörer hatte.
Borbakis schaute zum Fenster hin, auf die halbhohen Spitzenvorhänge, die davorhingen.
Ich durfte bei ihr schlafen, sagte er, als ob er es sich nur gewünscht hatte; sie ließ mich in ihr Bett, und ich lag eng an ihrem Rücken, und ich spürte diese wahnsinnige Wärme.
Einmal tanzten wir in einem kleinen Lokal, wie ineinander verwachsen, zwei Bäume, die zusammen in die Ewigkeit wollen. Sie war Esther, und sie wollte, dass ich sie verführte.
Es war eine kurze Zeit. Ich war nicht wirklich verfügbar. Und nur ein Abenteuer sein, das wollte sie nicht. An dem Abend, bevor wir uns trennten, sagte sie: Du bist ein Arschloch. Mit uns wäre es gegangen. Sie konnte sehr klar sein, sehr trocken.
Es sei merkwürdigerweise diese Hitze gewesen, die von ihrem Rücken ausging wie von einer Wärmelampe, an die er sich später am deutlichsten erinnert habe.
Da saßen sie nun. Es war ihr Park. Ihre Grünfläche. Ihre Bronzepferde. Sie waren großzügig, kleine Kinder durften auf ihrem Rasen spielen.
Drüben am Lebhag noch die paar Restalkoholiker.
Die Liebe, ach ja. Wild erzählte nie von solchen Dingen. Da schwieg er ganz hörbar. Zu zart, zu schwierig.
Ihm waren die Männer zuwider, die ihn mitnehmen wollten in ihre Intimitäten, zwischen ihre Geschlechtsteile und die ihrer Opfer. Habe die aber wohl immer schon angezogen, dachte Wild.
Er sah im Borbakis-Mondgesicht jedes Barthaar gesondert von dem anderen; schon wieder war ihm das alles zu nahe.
Sie nehmen es wohl für Liebe, sind geschlechtsreif geworden, immer erregt, ohne dass ihnen ihr Gemüt dabei folgen könnte. Vielleicht brauchen sie keines.
Niemand weiß, was Liebe ist. Was hatten der heilige Franz und seine Clara miteinander? Wen geht es etwas an?
Wild hatte im Rundfunk eine Textilarchäologin gehört, die von der Restauration der letzten Kutte des Franziskus erzählt hatte. Es sei in der katholischen Kirche Gesetz, dass eine Reliquie nach ihrer Weihung nicht mehr verändert werden dürfe, man könne also davon ausgehen, dass das, was man später finde, den Originalzustand bei der Einsargung wiedergebe.